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Bergpredigt Matthäus 6;6;7EX LOGOSMatthäus 5,1–8,4 (ELB 1905) 1 Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Glückselig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich der Himmel. 4 Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. 5 Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben. 6 Glückselig die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden. 7 Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren. 8 Glückselig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. 9 Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen. 10 Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. 11 Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und jedes böse Wort lügnerisch wider euch reden werden um meinetwillen. 12 Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln; denn also haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch waren. 13 Ihr seid das Salz der Erde; wenn aber das Salz kraftlos geworden ist, womit soll es gesalzen werden? Es taugt zu nichts mehr, als hinausgeworfen und von den Menschen zertreten zu werden. 14 Ihr seid das Licht der Welt; eine Stadt, die oben auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen sein. 15 Man zündet auch nicht eine Lampe an und setzt sie unter den Scheffel sondern auf das Lampengestell, und sie leuchtet allen, die im Hause sind. 16 Also lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen. 17 Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. 19 Wer irgend nun eines dieser geringsten Gebote auflöst und also die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Reiche der Himmel; wer irgend aber sie tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reiche der Himmel. 20 Denn ich sage euch: Wenn nicht eure Gerechtigkeit vorzüglicher ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen. 21 Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber irgend töten wird, wird dem Gericht verfallen sein. 22 Ich aber sage euch, daß jeder, der seinem Bruder ohne Grund zürnt, dem Gericht verfallen sein wird; wer aber irgend zu seinem Bruder sagt: Raka! dem Synedrium verfallen sein wird; wer aber irgend sagt: Du Narr! der Hölle des Feuers verfallen sein wird. 23 Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich daselbst erinnerst, daß dein Bruder etwas wider dich habe, 24 so laß daselbst deine Gabe vor dem Altar und geh zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bringe deine Gabe dar. 25 Willfahre deiner Gegenpartei schnell, während du mit ihr auf dem Wege bist; damit nicht etwa die Gegenpartei dich dem Richter überliefere, und der Richter dich dem Diener überliefere, und du ins Gefängnis geworfen werdest. 26 Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast. 27 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. 28 Ich aber sage euch, daß jeder, der ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, schon Ehebruch mit ihr begangen hat in seinem Herzen. 29 Wenn aber dein rechtes Auge dich ärgert, so reiß es aus und wirf es von dir; denn es ist dir nütze, daß eines deiner Glieder umkomme und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde. 30 Und wenn deine rechte Hand dich ärgert, so haue sie ab und wirf sie von dir; denn es ist dir nütze, daß eines deiner Glieder umkomme und nicht dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde. 31 Es ist aber gesagt: Wer irgend sein Weib entlassen wird, gebe ihr einen Scheidebrief. 32 Ich aber sage euch: Wer irgend sein Weib entlassen wird, außer auf Grund von Hurerei, macht, daß sie Ehebruch begeht; und wer irgend eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. 33 Wiederum habt ihr gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht fälschlich schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide erfüllen. 34 Ich aber sage euch: Schwöret überhaupt nicht; weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; 35 noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist des großen Königs Stadt; 36 noch sollst du bei deinem Haupte schwören, denn du vermagst nicht, ein Haar weiß oder schwarz zu machen. 37 Es sei aber eure Rede: Ja, ja; nein, nein; was aber mehr ist als dieses, ist aus dem Bösen. 38 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Auge um Auge, und Zahn um Zahn. 39 Ich aber sage euch: Widerstehet nicht dem Bösen, sondern wer irgend dich auf deinen rechten Backen schlagen wird, dem biete auch den anderen dar; 40 und dem, der mit dir vor Gericht gehen und deinen Leibrock nehmen will, dem laß auch den Mantel. 41 Und wer irgend dich zwingen wird, eine Meile zu gehen, mit dem geh zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der von dir borgen will. 43 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für die, die euch beleidigen und verfolgen, 45 damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? 47 Und wenn ihr eure Brüder allein grüßet, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die von den Nationen dasselbe? 48 Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. 6 kapitel 1 Habet acht, daß ihr euer Almosen nicht gebet vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden; wenn aber nicht, so habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der in den Himmeln ist. 2 Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht vor dir her posaunen lassen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, damit sie von den Menschen geehrt werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. 3 Du aber, wenn du Almosen gibst, so laß deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut; 4 damit dein Almosen im Verborgenen sei, und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten. 5 Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler; denn die lieben es, in den Synagogen und an den Ecken der Straßen stehend zu beten, damit sie von den Menschen gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. 6 Du aber, wenn du betest, so geh in deine Kammer und, nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist, und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten. 7 Wenn ihr aber betet, sollt ihr nicht plappern wie die von den Nationen; denn sie meinen, daß sie um ihres vielen Redens willen werden erhört werden. 8 Seid ihnen nun nicht gleich; denn euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet. 9 Betet ihr nun also: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; 10 dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden. 11 Unser nötiges Brot gib uns heute; 12 und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben; 13 und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen. 14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebet, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; 15 wenn ihr aber den Menschen ihre Vergehungen nicht vergebet, so wird euer Vater auch eure Vergehungen nicht vergeben. 16 Wenn ihr aber fastet, so sehet nicht düster aus wie die Heuchler; denn sie verstellen ihre Angesichter, damit sie den Menschen als Fastende erscheinen. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. 17 Du aber, wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, 18 damit du nicht den Menschen als ein Fastender erscheinest, sondern deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten. 19 Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde, wo Motte und Rost zerstört, und wo Diebe durchgraben und stehlen; 20 sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost zerstört, und wo Diebe nicht durchgraben noch stehlen; 21 denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein. 22 Die Lampe des Leibes ist das Auge; wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein; 23 wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis! 24 Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird einem anhangen und den anderen verachten. Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon. 25 Deshalb sage ich euch: Seid nicht besorgt für euer Leben, was ihr essen und was ihr trinken sollt, noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Speise, und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Sehet hin auf die Vögel des Himmels, daß sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel vorzüglicher als sie? 27 Wer aber unter euch vermag mit Sorgen seiner Größe eine Elle zuzusetzen? 28 Und warum seid ihr um Kleidung besorgt? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: sie mühen sich nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch aber, daß selbst nicht Salomon in all seiner Herrlichkeit bekleidet war wie eine von diesen. 30 Wenn aber Gott das Gras des Feldes, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, also kleidet, nicht vielmehr euch, Kleingläubige? 31 So seid nun nicht besorgt, indem ihr saget: Was sollen wir essen? oder: Was sollen wir trinken? oder: Was sollen wir anziehen? 32 denn nach allem diesem trachten die Nationen; denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr dies alles bedürfet. 33 Trachtet aber zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugefügt werden. 34 So seid nun nicht besorgt auf den morgenden Tag, denn der morgende Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat an seinem Übel genug. 7 kapitel 1 Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; 2 denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maße ihr messet, wird euch gemessen werden. 3 Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 4 Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge? 5 Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen. 6 Gebet nicht das Heilige den Hunden; werfet auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie dieselben nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen. 7 Bittet, und es wird euch gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden. 8 Denn jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden. 9 Oder welcher Mensch ist unter euch, der, wenn sein Sohn ihn um ein Brot bitten würde, ihm einen Stein geben wird? 10 Und wenn er um einen Fisch bitten würde, ihm eine Schlange gegeben wird? 11 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wieviel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten! 12 Alles nun, was immer ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, also tut auch ihr ihnen; denn dies ist das Gesetz und die Propheten. 13 Gehet ein durch die enge Pforte; denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der zum Verderben führt, und viele sind, die durch dieselbe eingehen. 14 Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden. 15 Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. 16 An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Liest man etwa von Dornen eine Traube, oder von Disteln Feigen? 17 Also bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. 18 Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, noch ein fauler Baum gute Früchte bringen. 19 Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 20 Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. 21 Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist. 22 Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr! Haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt, und durch deinen Namen Dämonen ausgetrieben, und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? 23 Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch niemals gekannt; weichet von mir, ihr Übeltäter! 24 Jeder nun, der irgend diese meine Worte hört und sie tut, den werde ich einem klugen Manne vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute; 25 und der Platzregen fiel hernieder, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stürmten wider jenes Haus; und es fiel nicht, denn es war auf den Felsen gegründet. 26 Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, der wird einem törichten Manne verglichen werden, der sein Haus auf den Sand baute; 27 und der Platzregen fiel hernieder, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stießen an jenes Haus; und es fiel, und sein Fall war groß. 28 Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, da erstaunten die Volksmengen sehr über seine Lehre; 29 denn er lehrte sie wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Struktur und Aufbau Wir ziehen hier die Beobachtungen zu Struktur und Aufbau vor, weil wir später jeweils nur abschnittweise übersetzen. Wie Schnackenburg bemerkt, ist der Aufbau der Bergpredigt „umstritten“. Hält man sich an die lukanische Parallele in Lk 6,17–49, dann zeigt sich, dass beide Male die Seligpreisungen an der Spitze stehen (Mt 5,3–12; Lk 6,20–23). Beide Male schließt auch das Gleichnis vom Hausbau die Rede Jesu ab (Mt 7,24–27; Lk 6,47–49). Dazwischen gibt es zwar beiderseits gemeinsame Worte (Mt 5,39–48; 7,1–5; Lk 6,27–42), aber andererseits doch beträchtliche Unterschiede in Umfang und Thematik. Immerhin macht der Abschluss durch das Gleichnis vom Hausbau ein besonderes Schwergewicht in der Lehre Jesu erkennbar. Betrachtet man Matthäus allein, dann ist die Gliederung von 5,1 bis 6,18 verhältnismäßig gut durchschaubar. Nach einer Einleitung (5,1–2) folgen die Seligpreisungen (5,3–12), dann Grundsätzliches zum Auftrag der Jünger (5,13–16) und zur Stellung Jesu zum Gesetz (5,17–20), und schließlich ein größerer Block von Tora-Auslegungen, jeweils eingeleitet durch „Ihr habt gehört, dass gesagt ist“ (5,21–48). In 6,1–18 geht es um drei zentrale Themen der alttestamentlichen und jüdischen Frömmigkeit: Almosen (6,1–4), Gebet (6,5–15) und Fasten (6,16–18). Von 6,19 bis 7,20 gibt Jesus eine ganze Reihe von Anweisungen für das Leben in der Nachfolge. Der Aufbau ist hier nicht ohne Weiteres durchsichtig. Gegen Schluss wird die Gliederung wieder straffer. In zwei Schlussmahnungen (7,21–23 und 7,24–27) legt Jesus das Schwergewicht auf das Tun seiner Lehre, dann schließt der Evangelist Matthäus selbst das Ganze mit einer auffallend kurzen Schlussnotiz ab (7,28–29). In der gesamten Bergpredigt findet sich kein einziger Dialog. Das ist umso überraschender, als das jüdische Lehren sonst weithin in Frage und Antwort geschieht (vgl. Lk 2,46f; Joh 14,5ff). Dafür zeichnet sich Jesus durch eine unvergleichliche Autorität aus: sein Sitzen (5,1), sein „Ich aber sage euch“ (5,21ff), die eschatologische Entscheidung, die an ihm fällt (7,21ff) – dies alles trägt zu einer Autorität bei, über die sich die Anwesenden entsetzen (7,28f). Die Bergpredigt gewinnt ihre Eindrücklichkeit durch eine unvergleichliche Bildhaftigkeit. Sie ist voller Gleichnisse (Meschalim), Bildworte und dramatischer Vorkommnisse. Dennoch kann man sie nicht als emotional bezeichnen. Vielmehr überrascht sie durch ihre Rationalität. Jesu Schlussfolgerungen scheinen unausweichlich. Jedenfalls ist ihre Rhetorik bewundernswert. Bewundernswert ist aber auch ihre unaufhörliche Verknüpfung mit dem Alten Testament. Eine Abtrennung des Alten Testaments vom Neuen, evtl. unter dem Namen der „Hebräischen Bibel“, wäre schon von der Bergpredigt her ausgeschlossen. Man braucht bei der Auslegung der Bergpredigt offenbar keine Anleihen aus der Religiosität des Orients oder des Hellenismus, benötigt aber ununterbrochen das Alte Testament. Die Einzelexegese wird dies darlegen. An sich wären verschiedene Anfänge der Bergpredigt denkbar. Als „Antrittsrede“, wie sie Schniewind auffasste, hätte sie mit einem Ich-bin-Wort Jesu o.ä. beginnen können. Als „Manifest“, wie sie Schnackenburg beschrieb,39 hätte sie Jesus beispielsweise mit seinen Worten über Gesetz und Propheten (5,17–20) eröffnen können. Als grundlegende „Jüngerlehre“, wie sie Bornhäuser betrachtete, hätte sie ihren Ausgang wie die Qumran-Katechese (1QS III, 15ff) bei einer grundsätzlichen Besinnung über den Schöpferund Richtergott nehmen können. Oder sie hätte wie der biblische Psalter mit einem Lob des Frommen beginnen können (Ps 1). Aber Jesus begann nach dem gemeinsamen Zeugnis des Matthäus (5,3ff) und Lukas (6,20ff) mit einer Einladung und Lockung zum Gottesreich. Und er schließt – wiederum nach dem gemeinsamen Zeugnis beider (Mt 7,21ff, Lk 6,47ff) – mit der ernsten Ermahnung dessen, der das ewige Leben verfehlt. Es ist Aufgabe der Auslegung, hier dem roten Faden zwischen beiden zu folgen. Angesichts des eher dynamischen Inhalts der Bergpredigt und ihres zielorientierten Verlaufs empfehlen sich statisch konzipierte Strukturentwürfe nicht, auch nicht der Vorschlag einer „ringförmigen Konzeption“, den Ulrich Luz machte. Das Vaterunser zum strukturellen „Zentrum“ der Bergpredigt zu erklären,42 ist zwar ein schöner Gedanke, aber wiederum zu statisch gedacht und auch dem Gewicht, das andere Abschnitte haben (z.B. 5,3ff; 5,13ff; 5,17ff; 7,21ff), nicht angemessen. Ulrich Luz bemerkt einmal, die Bergpredigt sei „zentraler Inhalt auch der christlichen Missionsverkündigung“. Das „auch“ ist zu unterstreichen. Denn die Bergpredigt ist ihrem Wesen nach „missio Dei“, das missionarische göttliche Werben um die Menschen durch den Gottessohn.44 Matthäus 5,1–2 1. Einleitung, 5,1–2 Matthäus 5,1–2 II Das Verhältnis zu den anderen Evangelien Mt 5,1f hat keine genaue Parallele bei den anderen Evangelien. Das in Alands Synopse als Parallele abgedruckte Mk 3,13 betrifft einen ganz anderen Vorgang. Nur Lk 6,20 lässt sich als eine etwas entfernte Parallele zu Mt 5,2 verstehen. Mt 5,1f muss also zunächst aus dem matthäischen Kontext ausgelegt werden. Matthäus 5,1–2 III Einzelexegese Als er aber die Volksmenge (τοὺς ὄχλους [tous ochlous]) sah (V. 1): bezieht sich zurück auf die „großen Massen“ (ὄχλοι πολλοί [ochloi polloi]) von 4,25. Vermutlich ist also nicht an den Zulauf an einer einzigen Stelle gedacht, sondern an den Gesamteindruck aus der bisherigen Wanderung von 4,23–25. Umso deutlicher tritt Jesu Reaktion auf die Geschehnisse von 4,23–25 hervor. Sie besteht nicht in der Sammlung vieler Tausender Anhänger zu einem messianischen Zug in die Wüste (vgl. Apg 21,38). Sie besteht auch nicht in dem waghalsigen Unternehmen eines Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht wie bei dem galiläischen Hiskia und Judas dem Galiläer (vgl. Apg 5,37). Jesu Reaktion verläuft entgegengesetzt. Er verlässt die Via Maris und die übrigen Handelsstraßen Galiläas, verlässt auch das dicht bevölkerte Seeufer und geht – ähnlich wie einst am Jordan (4,1) – hinauf ins Bergland (εἰς τὸ ὄρος [eis to oros]). Man kann lange diskutieren, was mit εἰς τὸ ὄρος [eis to oros] gemeint ist. ὄρος [oros] kann einen einzelnen Berg bezeichnen, und so übersetzen viele „auf einen bzw. den Berg“. ὄρος [oros] bedeutet aber auch „Gebirge“, und deshalb kommt Werner Foerster bei Mt 5,1 zu der Einschätzung, „die Übersetzung ‚er ging ins Gebirge‘ “ sei „sprachlich genau so gut möglich wie ‚er ging auf den Berg‘ “. Wir sind deshalb vorsichtig und übersetzen mit in das Bergland. Unseres Erachtens erlaubt der Artikel bei ὄρος [oros] nicht, nur von „einem Berg“ zu sprechen. Man sollte bei der Übersetzung den Artikel beachten und deshalb „den Berg“ bzw. „das Bergland“ zum Ausdruck bringen.6 Vom Kontext her liegt es nahe, auf „the general vicinity (Nachbarschaft) of Capernaum“ zu tippen. Hieronymus und Wettstein dachten an den Tabor.8 Hendriksen erwägt die Anhöhen westlich von Tabgha und die Hörner von Hattin. Seit dem 13. Jh. erwog man den „Berg der Seligpreisungen“, und Zeitgenossen des Hieronymus (ca. 345–420 n.Chr.) dachten sogar an den Ölberg. Das alles sind – mit Ausnahme des Ölbergs – eindrucksvolle Anschauungsbeispiele. Mehr aber nicht. Man kann mit Zahn und Hendriksen nur sagen: Der Berg bzw. das Bergland „scheint … nicht weit von Kapernaum gelegen zu sein“.11 Allerdings sollte man „den Berg“ bzw. „das Bergland“ auch nicht zu einem bloßen Symbol, „Analogon zum Sinai“ u.ä., verflüchtigen.12 Dagegen darf man mit Recht vermuten, dass Jesus mit der Wahl des Berglandes/Berges an Mose erinnern wollte, der nach Ex 19,3ff auf den Berg Sinai stieg. Jesus gibt sich hier als den zweiten Mose von Dtn 18,15 zu erkennen, und das heißt zugleich: als Messias. Der Gang in das Bergland stellt überdies die Menschen vor die Entscheidung, ob sie die Mühen des Aufstiegs auf sich nehmen oder sich bequemerweise von Jesus trennen wollten. Es war eine Probe auf die Ernsthaftigkeit der Nachfolge. Von der Landesnatur des Israellandes her verbindet sich mit dem Begriff ὄρος [oros] / „Berg“ / Bergland ja auch die Erfahrung von Öde, Wildnis und gefährlicher Einsamkeit (vgl. Mt 4,1ff). Aber Jesus hat die Berge geliebt (Mt 14,23; 15,29; Lk 6,12; Joh 6,3.15). Und nachdem er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm (V. 1): Dieser Satz enthält zwei wichtige Hinweise. Der erste betrifft das Sitzen Jesu. Der jüdische Lehrer sitzt beim Lehrvortrag (vgl. Mt 23,2; 24,3; Lk 2,46). Auch „Jesus lehrt fast durchweg im Sitzen“. Darüber hinaus zeigen uns „Die meisten Darstellungen antiker Schulszenen … den Lehrer sitzend“.17 In der Haltung Jesu spiegelt sich eine bemerkenswerte Autorität, die umso mehr überrascht, als er noch relativ jung ist, kein rabbinisches Studium vorweisen kann und erst seit Kurzem in der Öffentlichkeit auftritt. Der zweite Hinweis liegt in der Bezeichnung Jünger (μαθηταί [mathētai]). Dass von seinen Jüngern die Rede ist, macht deutlich, dass schon damals eine Gruppe von Menschen vorhanden war, die ihre Nachfolge hinter Jesus her als verbindlich betrachtete. Seine Jünger ist nicht dasselbe wie die zwölf Apostel, die ja erst später berufen wurden (Mt 10,1ff), es schließt aber ziemlich sicher einige der späteren Apostel ein, z.B. Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes (Mt 4,18ff). Jedenfalls taucht der Name Jünger hier erstmals im Matthäusevangelium auf. Jünger, μαθητής [mathētēs], entspricht dem hebr. תַּלְמִיד [talmīd], und Zahn weist mit Recht darauf hin, dass auch der Talmud Jesu Nachfolger als Talmidim bezeichnet. Wieder überrascht, dass einer, der kein studierter Rabbi war, Jünger hatte. Man sollte aber vorsichtig sein mit der Übersetzung „Schüler“, weil im Begriff „Schüler“ die mit der Jüngerschaft verbundene Hingabe nur unzureichend zum Ausdruck kommt. Deshalb bleiben wir bei der herkömmlichen Übersetzung Jünger. Wir nehmen also an, dass in Mt 5,1 Jünger einen größeren Kreis von Menschen bezeichnet, die sich Jesus vertrauensvoll und verbindlich angeschlossen haben. Inhaltlich bedeutet Jünger-Sein: persönliche Gemeinschaft mit Jesus als dem Messias und Sohn Gottes, Mitarbeit und Dienst für Jesus, Hören auf Jesus und Unterricht bei ihm einschließlich des Auswendiglernens und immer neuer Klärung der Fragen, gemeinsames Studium der Schrift mit Jesus. Die Prägung ging deshalb besonders tief, weil die Jünger mit ihrem Meister praktisch Tag und Nacht zusammen waren. Seine Jünger traten zu ihm heißt: Sie bildeten einen engeren Kreis um ihn. Andere befanden sich in einem weiteren Kreis (Mt 7,28), sodass man von „zwei“ konzentrischen Hörerkreisen“ sprechen kann. Und er tat seinen Mund auf (V. 2): Eine altisraelitische Redewendung, die das Gewicht und die Bedeutung der folgenden Ansprache unterstreicht.23 Und lehrte sie wie folgt (ἐδίδασκεν αὐτοὺς λέγων [edidasken autous legōn]), V. 2: So einfach diese Worte klingen, so wertvoll ist der Verständnisschlüssel, der für die ganze Bergpredigt in ihnen enthalten ist. Zunächst dient das Imperfekt ἐδίδασκεν [edidasken] („er lehrte“) der Schilderung einer längeren Handlung, ist also durativ zu verstehen. Sodann bezieht sich sie (αὐτούς [autous]) zweifellos auf die zuvor genannten Jünger (V. 1). Damit ist von vornherein klargestellt, dass es sich bei der Bergpredigt um „Jüngerlehre“ handelt. Jesu Adressaten sind diejenigen, die ernsthaft seine Nachfolger werden möchten, seien sie nun im ersten oder im zweiten Kreis der Hörer. Es handelt sich also nicht um ein gesellschaftliches Programm oder ein politisches Manifest, das wir für den Staat oder auch andere Religionen bzw. irgendwelche Ideologien übernehmen könnten. Sogar Karl Barth geht mit seinem Konzept von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946) über die Bergpredigt hinaus, wenn er erklärt: „Die Bürgergemeinde hat mit der Christengemeinde sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam.“26 Wenn die Gemeinde Jesu auf diese Weise „als innerer Kreis inmitten jenes weitern“ des Staates existiert, wird der Staat zum „Gleichnis“, zum „Analogon“ der Gemeinde,28 und damit zum Anwendungsfeld der Bergpredigt, was ja doch nicht von Jesus beabsichtigt war. Zwei Punkte bedürfen noch der Klärung. Erstens: Trifft die Bezeichnung „Bergpredigt“ zu? Die Einleitung in Mt 5,1f und der Charakter der Kapitel 5–7 weisen so eindeutig auf ein „Lehren“ Jesu hin, dass man genau genommen von einer „Berglehre“ sprechen müsste. Aber der Begriff „Bergpredigt“ hat sich seit Augustinus (De sermone domini in monte) so fest eingebürgert, dass wir ihn auch in diesem Kommentar beibehalten wollen. Zweitens: In welchem Verhältnis steht die Bergpredigt (oder Berglehre) zu der vorausgegangenen Predigt des „Evangeliums vom Reich“ (4,23)? Sand erklärt einfach: „Jesu Lehre ist sein Evangelium“. Dann wären Evangeliumspredigt und Bergpredigt im Grunde identisch. Aber so einfach ist es nicht. Schon die verschiedene Begrifflichkeit – κηρύσσειν/εὐαγγέλιον [kēryssein/euangelion] einerseits und διδάσκειν/διδαχή [didaskein/didachē] (7,28) andererseits – spricht gegen eine Identifizierung. Aus dem Gesamtkontext des Matthäusevangeliums heraus muss die Antwort lauten: Das „Evangelium“ ist der Oberbegriff, die „Lehre“ ein wichtiger Teil davon. Zum Evangelium gehört beispielsweise der Missionsbefehl (Mt 28,18–20). Ein Teil – ein wichtiger, aber eben nur ein Teil! – davon ist die Lehre von dem, „was ich euch befohlen habe“ (28,20). Zum Evangelium gehört die Proklamation der endzeitlichen Erfüllung: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21). Zum Evangelium gehören die beglaubigenden Zeichen (Joh 10,37f). Zum Evangelium gehören Trost und Heilung: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mk 5,36). All dies wird auch lehrmäßig begründet. Aber es geht eben in der Lehre nicht auf. So ist das Evangelium mehr als die Lehre. Inwiefern aber die Lehre, speziell gerade die Bergpredigt, im Dienst des Evangeliums steht, werden die folgenden Seiten zu zeigen haben. Matthäus 5,3–12 2. Die Seligpreisungen, 5,3–12 Matthäus 5,3–12 II Struktur Die Gliederung der Seligpreisungen und die Verbindung mit dem Kontext ist keineswegs einheitlich. Zwar besteht darüber Einigkeit, dass die Verse 3–10 zusammengehören. Anders ist die Einschätzung bei V. 11–12. Im Wesentlichen gibt es drei Vorschläge: 1) Man erstreckt die Seligpreisungen von V. 3 bis V. 12; 2) man nimmt die Verse 11–16 als neuen Abschnitt zusammen; 3) man behandelt V. 11–12 als eine Art Anhang („expansion“) zu V.3ff. Eng verbunden mit diesen verschiedenen Gliederungsversuchen ist die verschiedene Zählung der Seligpreisungen. Im Anschluss an altkirchliche Ausleger (Hieronymus, Hilarius, Chromatius) zählt beispielsweise Zahn acht Seligpreisungen. Andere zählen neun,6 wieder andere sieben. Entscheidend ist u.E. der jeweils mit μακάριοι [makarioi] bewusst gestaltete Versanfang (daher die „Makarismen“). Dann aber ergibt sich eine Zahl von neun Seligpreisungen. Forscher wie Julius Schniewind haben Wert darauf gelegt, dass die beiden Gruppen V. 3–6 und V. 7–10, also die ersten acht Seligpreisungen, „zwei genau gleiche Strophen bilden“. Außerdem besteht durch die vierfache P-Alliteration in Mt 5,3–6 eine Parechese. Man kann also tatsächlich in Mt 5,3–10 eine auch mnemotechnisch geformte Zweier-Gruppierung erkennen. Jede Gruppe ist überdies ausgezeichnet durch ein wörtlich übereinstimmendes „denn ihrer ist das Reich Gottes“ (V. 3.10). Umso mehr fällt die neunte, die letzte, Seligpreisung auf. Sie ist länger als die andern (V. 11–12). Sie enthält mehr lehrmäßige Verdeutlichungen. Sie wechselt in die 2. Person Plur. („Glücklich zu preisen seid ihr“). Und sie stellt mit dem „um meinetwillen“ einen direkten Bezug zur Person Jesu her. Warum der neunten Seligpreisung ein solches Gewicht zukommt, muss die Einzelexegese prüfen. Eine Frage für sich ist das Verhältnis Matthäus/Lukas. Auffallenderweise hat Lukas ähnlich wie Mt 5,3–10 zwei Vierergruppen, die aber viel stärker differenziert sind: 1) Die vier Seligpreisungen Lk 6,20–23; 2) die vier Weherufe Lk 6,24–26. Die Seligpreisungen bei Lukas und Matthäus weisen starke Gemeinsamkeiten auf: Beide stehen am Anfang der Bergpredigt bzw. Feldrede; beide beginnen mit dem μακάριοι [makarioi]; beide sind bei der letzten Seligpreisung (Mt 5,11f bzw. Lk 6,22f) auffällig lang; beide kennen die Anrede in der 2. Person Plural (Mt nur einmal, in 5,11f); beide weisen bei der Mehrheit der Seligpreisungen denselben, kurzen Satzbau auf; beide bringen zum Schluss den direkten Hinweis auf Jesus (Mt 5,11 bzw. Lk 6,22); beide decken sich inhaltlich, soweit eben die Parallelenüberlieferung reicht. Was nun die Unterschiede anbelangt, so stechen zwei hervor: Bei Lukas sind die Seligpreisungen durchgehend in der 2. Person Plural gehalten, bei Matthäus dagegen in der Regel in der 3. Person Plural. Sodann: Lukas hat eben nur vier Seligpreisungen gegenüber den neun des Matthäus. Über die Gründe und das Alter der jeweiligen Überlieferung wird lebhaft diskutiert. Öfter billigt man Lukas die ältere Tradition zu und macht Matthäus verantwortlich für sekundäre Erweiterungen.14 Gelegentlich findet sich allerdings auch die Warnung, die Unterschiede nicht zu übertreiben. Der Raum erlaubt es uns nicht, hier alle Lösungsvorschläge aufzuführen. Wenige Bemerkungen mögen genügen. Bezüglich des Umfangs der Seligpreisungen sind in der Tat verschiedene Denkmöglichkeiten gegeben, die man bis auf Weiteres nebeneinander stehen lassen sollte: 1) Lukas hat wie beim Vaterunser (Lk 11,1ff) und bei der Feldrede insgesamt eine Tendenz zur Kurzform und fühlt sich nicht verpflichtet, alle ihm bekannten Traditionen niederzuschreiben (vgl. Joh 21,25); 2) Lukas wollte durch die Reduzierung der Seligpreisungen Platz für die Weherufe gewinnen, wobei er jeweils Vierergruppen bildete; 3) Matthäus ging als Lehrer (vgl. Mt 13,52; 23,34) auf Vollständigkeit aus und erweiterte deshalb aus seinem Wissen heraus die Zahl der Seligpreisungen auf neun. Das Nebeneinander der verschiedenen Denkmöglichkeiten darf aber einen elementaren Tatbestand nicht verschleiern: nämlich dass die Seligpreisungen allesamt Jesusworte sind und keine Bildungen der Evangelisten oder der Gemeinden. Was schließlich den Wechsel der Anrede zwischen 3. Person und 2. Person Plural betrifft, so zeigt gerade Mt 5,3–12, dass Jesus beide Anredeformen gebrauchte. Keine darf gegen die andere ausgespielt werden. Denn Schniewind sagt mit Recht: „Gemeint ist beidemal dasselbe.“ Hat Jesus seine Kernsätze einschließlich der Seligpreisungen wiederholt – was bei einem Lehrer selbstverständlich ist –, dann kann er umso leichter zwischen beiden Anredeformen abgewechselt haben. Matthäus 5,3–12 III Einzelexegese Das erste Wort, μακάριοι [makarioi] (V. 3), hat diesem Teil der Bergpredigt den Namen gegeben. Denn die lange übliche Übersetzung im Deutschen lautet „Selig (sind)“. Schniewind möchte diese alte Übersetzung um der Feierlichkeit willen beibehalten. Aber „selig“ wird im heutigen Sprachgebrauch gerne mit der ewigen Seligkeit oder einer Seligsprechung verbunden. Deshalb bevorzugen wir die genauere Wortbedeutung Glücklich zu preisen. Das neutestamentliche μακάριος [makarios] geht zurück auf hebr. אַשְׁרֵי [ʾaschrē], einen „Zuruf der Glückseligkeit“ (Cazelles), der bestimmten Menschen Glück wünscht, was wir eben mit der Übersetzung „Glücklich zu preisen“ auszudrücken versuchen.21 Bei diesem אַשְׁרֵי [ʾaschrē] kann man zwei Momente feststellen: 1) ist אַשְׁרֵי [ʾaschrē] „weltoffener“, einladender formuliert als das feierliche „gesegnet“ (בָּרוּךְ [bārūk]), 2) es betrifft Menschen, die bestimmte Taten oder ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Beides hat für die Auslegung der Bergpredigt Bedeutung. Eine klassische Stelle im AT ist Ps 1, der mit den Worten beginnt: אַשְׁרֵי־הָאִישׁ [ʾaschrē-hāʾīsch] / Μακάριος ἀνήρ [makarios anēr] (LXX) / „Wohl dem, der …“ Überhaupt sind die Psalmen „der bevorzugte Ort des Ausdruckes אשרי“. Was bedeutet dies für die Seligpreisungen Jesu? Erstens macht Jesus die Einladung mit ihrem weiten, offenen Klang zum ersten Hauptakzent seiner Rede. Sie ist von allem Anfang an werbende, missionarische Rede. Zweitens eröffnet er seine Rede in offensichtlichem Anklang an Ps 1, den Beginn des Psalmbuches. Er verschafft damit der Volksfrömmigkeit einen schnellen Zugang.25 Drittens zeigt er, dass er ganz im Einklang mit der Heiligen Schrift steht. Und viertens macht er klar, dass der Zugang zum Reich Gottes voraussetzt, dass die Menschen den Willen Gottes tun (vgl. Mt 7,13f.21ff.24ff). In der ersten Seligpreisung werden die Armen im Geist (οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι [hoi ptōchoi tō pneumati]) glücklich gepriesen. Hier stehen wir vor einem sprachlichen und theologischen Problem: Die Parallele in Lk 6,20 hat nur „die Armen“ (οἱ πτωχοί [hoi ptōchoi]). Meinen also Mt 5,3 und Lk 6,20 verschiedene Personengruppen? Und was heißt überhaupt arm? Der griech. Begriff für arm geht auf hebr. עָנִי [ʿānī] oder עָנָו [ʿānāw] zurück. Ausschlaggebend ist also zunächst der hebräische Kontext. Das zugehörige Substantiv עֳנִי [ʿonī] bezeichnet überwiegend eine „Notlage, die Jahwes Eingreifen erforderlich macht“, es ist überall „das Gott angehende Elend“,28 und zwar in einem breiten Spektrum. Die damit verbundenen Adjektive עָנִי [ʿānī] und עָנָו [ʿānāw] bezeichnen dementsprechend Menschen, die von Feinden unterdrückt und deshalb auf Gott angewiesen sind, bis hin zur Wortbedeutung „demütig“ oder „fromm“. Unsere Wortfamilie konzentriert sich auf die Psalmen. Dort charakterisiert sie vor allem die „Existenznot des Beters“.30 Umgekehrt aber gilt: die „Anawim“ sind „die besonderen Schützlinge“ Gottes. Er sorgt für die „Anawim“, die gelegentlich in Parallele erscheinen zu denen, die „niedergeschlagen, zerbrochenen Herzens“32 sind (vgl. Ps 109,16.22; 147,3; Jes 61,1; 66,2). Von den Psalmen und Jesaja an verstehen sich ganze jüdische Gemeinden oder sogar das gesamte Israel als eine Gemeinschaft von Anawim. Und gerade ihnen gilt der Zuspruch des endzeitlichen Heils und der messianischen Erlösung (Jes 61,1ff; Zeph 3,12ff). Geradezu klassisch ist die Beschreibung des Auftrags des Messias in Jes 61,1: „Er hat mich gesandt, den Elenden (עֲנָוִים [ʿᵃnāwīm], LXX: πτωχοῖς [ptōchois]) gute Botschaft zu bringen (לְבַשְּׂר [lᵉbaśśer], LXX: εὐαγγελίσασθαι [euangelisasthai]), die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ Ganz offensichtlich wollte Jesus mit seiner ersten Seligpreisung diesen Auftrag aus Jes 61,1 ausführen, wie Lk 4,16ff bestätigt. Es kann also keine Rede davon sein, dass man die Armen (πτωχοί [ptōchoi]) vorwiegend unter dem „sozialen Aspekt“ sehen müsse. Sie haben von der hebräischen Begriffsgeschichte her eine starke religiöse Konnotation und sind deshalb als Menschen zu verstehen, die wissen, dass sie Gott brauchen. Das gilt sowohl für Matthäus als auch für Lukas, und zwar unabhängig von der Hinzufügung im Geist (Mt 5,3). Von daher entfällt für uns die Möglichkeit, Mt 5,3 und Lk 6,20 als Gegensätze zu betrachten. Gemeint ist beide Male dieselbe Personengruppe. Nun steht in Mt 5,3 allerdings die Armen im Geist (οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι [hoi ptōchoi tō pneumati]). Teilweise nimmt man an, dass die Worte im Geist erst von Matthäus oder dessen Tradition stammen, also nicht von Jesus selbst. Matthäus sei hier einer „Tendenz zur Verinnerlichung“ gefolgt.39 Doch Matthäus führt diese Worte auf Jesus selbst zurück. Wie kann man dann erklären, dass sie in der Parallele Lk 6,20 fehlen? Hier gibt es nicht nur eine, sondern sogar verschiedene Antwortmöglichkeiten: 1) Lukas kann einer allgemeinen Absicht der Verkürzung gefolgt sein (vgl. Vaterunser, die Feldrede insgesamt); 2) Jesus kann bei seiner Erklärung im Jüngerkreis (vgl. Mt 13,10ff.36ff) die Armen selbst durch den Zusatz im Geist erläutert haben; 3) er kann bei der Wiederholung der Bergpredigt die „Worte“ im Geist benutzt haben, die er in einer anderen Version seiner Rede nicht benutzt hatte. Entscheidend ist die Beobachtung, dass die Worte im Geist nichts wesentlich Neues oder anderes bringen, sondern nur eine Erläuterung darstellen. Das gilt für sämtliche grammatische Verständnismöglichkeiten des Dativs τῷ πνεύματι [tō pneumati]. Am besten fasst man ihn als Dativ der Beziehung auf. Der Sinn ist in diesem Fall: „arm bezüglich des Geistes“. Ist damit der menschliche Geist gemeint? Wohl kaum. Denn das Evangelium gilt allen Menschen und nicht nur den Schwachbegabten.41 Dann bleibt nur die Deutung auf den Heiligen Geist: Es sind Menschen, die darunter leiden, dass ihnen Gottes Heiliger Geist fehlt. Es sind Menschen, die mit David beten: „Gib mir einen neuen, beständigen Geist“ (Ps 51,12). Adolf Schlatter hat es gut formuliert: „Gott gibt … den Entbehrenden, weil sie entbehren, und verleiht ihnen, was ihnen fehlt, weil er sich ihrer erbarmt.“ Sprachlich und inhaltlich kommt man damit in eine Nähe zur Qumranliteratur, die in 1QH XIV, 3 und 1QM XIV, 7 von עַנְוֵי רוּחַ [ʿanwē rūach] spricht, von denen, „die demütigen Geistes sind“, oder „Demütiggesinnten“.44 Qumran geht hier wohl auf Jes 66,2 zurück und preist „die Haltung der Demut vor Gott“. Man kann den Dativ τῷ πνεύματι [tō pneumati] grammatikalisch auch als Dativus instrumentalis auffassen und erhält dann den Sinn: „arm durch den Geist“ (= durch Eingebung des Geistes). Entweder der menschliche oder der göttliche Geist hätte in diesem Fall die Betreffenden zu einem Leben in Armut bewegt. Die Armut wäre also ein gewolltes Lebensziel. Ein Beispiel dafür ist das Mönchtum. Ernst Bammel meint, eine solche Deutung werde „durch die Qumran-Parallelen … unwahrscheinlich gemacht“.47 Das ist zu scharf geurteilt. Denn wer demütig lebt vor Gott, kann auch auf Reichtum verzichten (vgl. Mt 19,16ff; Lk 19,8). Dennoch schließen wir uns dieser zweiten Deutung (als Dativus instrumentalis) nicht an. Sonst würde Gottes Verheißung (das Reich Gottes) solchen zuteil, die zuvor eine elitäre Vorleistung erbracht hätten. Das aber würde in den Kontext der ersten vier Seligpreisungen schlechter hineinpassen als die erstgenannte Deutung und würde auch nicht mehr mit Jes 61,1 in Verbindung stehen. Fazit: Wir sehen in Mt 5,3 Jesus diejenigen glücklich preisen, die ihre geistliche Armut erkennen und darunter leiden. Die Verheißung bei der ersten Seligpreisung ist denkbar kurz: ihrer ist das Reich Gottes (αὐτῶν ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [autōn estin hē basileia tōn ouranōn]). Dabei wird ihrer (αὐτῶν [autōn]) stark betont: Exakt „sie“, die „Armen im Geist“, erhalten das Reich Gottes. Der Sinn dieser Aussage ist futurisch.51 Das heißt, sie werden am Reich Gottes teilnehmen, sobald es Gott am Ende der Zeiten herbeiführt. Wie in Mt 4,17 steht für Reich Gottes die alte jüdische Form „Reich der Himmel“. Vgl. zur näheren Erläuterung die Auslegung von Mt 4,17. Sagen wir es noch einmal in Kürze: Die Menschen, die unter ihrer geistlichen Armut leiden, werden gerade deshalb von Jesus glücklich gepriesen. Denn ihnen hat Gott sein Reich und damit sein ganzes Heil zugesagt. Der tiefe Eindruck, den Mt 5,3 auf die frühe Christenheit gemacht hat, lässt sich noch an Stellen wie 1Kor 1,27f; Kol 3,12 oder Jak 2,5 ablesen. Aus der alten Kirche sei nur eine Äußerung des Origenes in seinem Matthäuskommentar zitiert: „Du fragst, in welchem Sinne das Wort gilt: ‚Ihrer ist das Reich der Himmel‘? Und du kannst antworten, dass Christus ihrer ist.“ Die zweite Seligpreisung (V. 4) gilt den Leidtragenden (οἱ πενθοῦντες [hoi penthountes]). Sofort werden wir wieder an den messianischen Auftrag in Jes 61,1ff erinnert, wo es u.a. heißt: „zu trösten alle Trauernden“ (LXX, Jes 61,2: παρακαλέσαι πάντας τοὺς πενθοῦντας [parakalesai pantas tous penthountas]). Interessanterweise stellt das Sirachbuch gerade das Trösten als ein Hauptmerkmal Jesajas heraus: „er tröstete die Trauernden (Leidtragenden) in Zion“ (Sir 48,24 LXX: παρεκάλεσεν τοὺς πενθοῦντας ἐν Σιων [parekalesen tous penthountas en Siōn]). Jesus beginnt also den messianischen Auftrag so einzulösen, dass er in seiner zweiten Seligpreisung sagt: Glücklich zu preisen sind die Leidtragenden. Nicht die Dominierenden sind demnach die Glückspilze und Glücksritter, sondern die ihr Leid Tragenden genießen von Gott Ehre und Hilfe. Das steht in einem weiten biblischen Kontext. Man denke an Lazarus (Lk 16,19ff) oder Jak 1,12 „Glücklich zu preisen ist der Mann, der Anfechtung erduldet“ oder an Offb 7,14ff, wonach die Erlösten aus der Trübsal kommen. Schon im AT klagt der Beter: „es haben mich umgeben Leiden ohne Zahl“ (Ps 40,13, LXX Ps 39,13: ὧν οὐκ ἔστιν ἀριθμός [hōn ouk estin arithmos]). Noch einmal fragen wir genauer: Wer sind die Leidtragenden? πενθέω [pentheō] heißt „klagen“, „trauern“, „Leid tragen“. Das betrifft zunächst alles Leid, das Menschen durch andere Menschen oder bestimmte Ereignisse trifft. Im Alten Testament lässt sich sodann beobachten, dass Leid und Trauer vor allem in den prophetischen Gerichts- und Unheilsweissagungen eine Rolle spielen, aber auch durch die Sünde des Volkes oder eigene Sünde entsteht.58 Es ist geradezu typisch, dass in der oben zitierten Psalmstelle von den „Leiden ohne Zahl“ (Ps 40,13) die Fortsetzung lautet: „Meine Sünden haben mich ereilt“ (κατέλαβόν με αἱ ἀνομίαι μου [katelabon me hai anomiai mou]). Man denke ferner an das Leid, das in den Bußpsalmen zum Ausdruck kommt (Ps 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143) oder auch in Ps 126 und 137. Von diesem biblischen Gesamtzusammenhang her wird man sagen müssen, dass Jesu zweite Seligpreisung alle einlädt, die unter den Verhältnissen unserer gefallenen Welt oder unter ihrer Sünde leiden. Es empfiehlt sich nicht, hier weitere Einschränkungen vorzunehmen, die am Text keinen Anhalt haben. Allerdings muss man auch sagen: Wer zu stolz ist, sein Leiden anzuerkennen oder Gottes Hilfe anzunehmen, der schließt sich selbst vom Trost der zweiten Seligpreisung aus. Worin besteht dieser Trost? Jesus gebraucht dafür im Griechischen nur drei Worte: ὅτι αὐτοὶ παρακληθήσονται [hoti autoi paraklēthēsontai] = denn sie werden getröstet werden. Das sie ist betont. Das Passiv drückt als Passivum divinum aus, dass Gott selbst trösten wird. Das „abwischen der Tränen von ihren Augen“ in Offb 7,17; 21,4 zeigt uns anschaulich, was wir uns darunter vorzustellen haben. Ganz eindeutig geschieht also dieses trösten in der Zukunft, bei der Teilnahme am ewigen Heil und am ewigen Leben (eschatologisch). Später hat Jesus an der Person des Lazarus klargemacht, was wir unter dem Trösten verstehen sollen (Lk 16,25). Den Leidtragenden/Trauernden wird also in Mt 5,4 nicht versprochen, dass ihr Leid bald ein Ende haben wird oder dass es auf Erden überhaupt endet. Dazu ist Jesus viel zu ehrlich. Bei Lazarus währte das Leiden lebenslang und auch für das apostolische Leben gilt: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe“ (2Kor 4,10). Jesus verspricht auch nicht, dass bald diejenigen leiden werden, die uns gerade das Leid zufügen. Nach Lk 16,19 lebte der reiche Mann „alle Tage herrlich und in Freuden“. Nein, Gottes Trost im umfassenden Sinne geschieht erst, wenn Gottes Reich sichtbar und vollkommen da ist. Dass Gott uns schon im Heute immer wieder ermutigt und vorweg/vorläufig tröstet, bleibt freilich ebenfalls wahr (2Kor 1,3f). Ist dies alles „Vertröstung“, wie viele sagen? Nein, es ist Nüchternheit, die uns von Illusionen befreit, und zugleich Vertrauen, dass Gott am Ende der Zeiten alles Böse, alle Tränen und alles Leid (πένθος [penthos], Offb 21,4) beseitigt. Warum preist Jesus die Leidtragenden heute schon glücklich? Weil Gott sie heute schon in sein Reich einlädt, sie durch alles Leid hindurchtragen und am Ende wunderbar beschenken will. Schließlich sollten wir nicht übersehen, dass die zweite Seligpreisung alle Jünger auf ihr künftiges Leiden vorbereitet. Hier sagt Luther sehr treffend: „Wir sollen lernen, auf das Wort und Gottes Willen zu sehen, alsdann werden wir mit geduldigem Herzen alles erleiden, wie schwer es auch immer sein mag.“63 Der dritten Seligpreisung drohte die Streichung vonseiten historisch-kritischer Exegeten, wie z.B. Wellhausen. Ein Argument war, dass πτωχοί [ptōchoi] V. 3 und πραεῖς [praeis]V.5 „practically synonymous terms“ darstellen und beide im Hebräischen durch עניים [ʿnjjm] bzw. ענוים [ʿnwjm] wiedergegeben werden können. In der Tat ist diese dritte Seligpreisung nicht so einfach, wie sie aussieht: Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde als Erbe besitzen (V. 5). Klarheit über den Inhalt entsteht auch hier erst dann, wenn man die Schlüsselrolle der alttestamentlichen Verheißungen wahrnimmt. In erster Linie kommt Ps 37,11 (LXX 36,11) eine solche Schlüsselrolle zu: „die Sanftmütigen werden das Land besitzen“ (LXX: οἱ δὲ πραεῖς κληρονομήσουσιν γῆν [hoi de praeis klēronomēsousin gēn]). Das erinnert schon im Wortlaut an Mt 5,5: μακάριοι οἱ πραεῖς, ὅτι αὐτοὶ κληρονομήσουσιν τὴν γῆν [makarioi hoi praeis, hoti autoi klēronomēsousin tēn gēn]. Der 37. Psalm spricht zunächst vom Untergang der Gottlosen und stellt diesen Gesetzübertretern dann diejenigen gegenüber, die Gottes Gebote halten und auf den Herrn hoffen. „Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn“ und „Sei stille dem HERRN und warte auf ihn“ (Ps 37,5.7) sind deren Lebensregeln. Damit wird der Horizont klar, in dem wir uns mit Ps 37,11 bewegen. Es ist die scheinbare Übermacht der Gottlosen und die Gewalttätigkeit, mit der sie gegen die Gerechten vorgehen. Im Unterschied zur ersten Seligpreisung leiden die von Jesus Eingeladenen hier nicht an ihrer eigenen geistlichen Armut, sondern an der Macht der Bösen. Diese Macht der Bösen aber bekämpfen sie nun nicht mit ihren eigenen Waffen – geschweige denn mit den Waffen ihrer Gegner! –, sondern indem sie still und demütig auf Gottes Hilfe warten. Dass dies mehr Kraft kostet als ein Zurückschlagen mit irdischen Waffen, ist klar. Aber auch die Gefahr der Depression und Verbitterung liegt nahe: „Ich wäre fast gestrauchelt … als ich sah, dass es den Gottlosen so gut ging“ (Ps 73,2f). Jesu Zuspruch Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen wird hier als echtes Evangelium erfahren. Daneben steht nun das Bild des wahren Messias, der diese Sanftmütigkeit in der eigenen Person verkörpert. Ihn kündigt Sach 9,9 an: „ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel“, nach der LXX πραΰς [praÿs] für „arm“, öfter mit „demütig“ wiedergegeben. Dementsprechend sagt Jesus von sich selbst: „ich bin sanftmütig (πραΰς [praÿs]) und von Herzen demütig (ταπεινός [tapeinos])“, Mt 11,29. Jesus preist also in Mt 5,5 zugleich diejenigen glücklich, die mit ihm den Weg der Sanftmut und der Demut gehen. So unbestreitbar die Verwandtschaft der dritten Seligpreisung mit der ersten ist, so wenig sind sie doch identisch. Auch E.S. Gerstenberger nimmt für die Begriffe עניים [ʿnjjm] und ענוים [ʿnwjm] in den prophetischen Büchern „eine bewußte Differenzierung“ an. Fassen wir die dritte Seligpreisung noch einmal zusammen: Sie gilt denjenigen, die unter der Macht der Bösen leiden und dabei still und vertrauensvoll auf Gottes Hilfe hoffen. Jesu Verheißung klingt an dieser Stelle überraschend: sie werden die Erde als Erbe besitzen. Erde, γῆ [gē], kann wie hebr. אֶרֶץ [ʾäräz] auch mit „Land“ übersetzt werden. Aber hier geht es nicht um ein spezielles Land wie in Dt 4,38 oder um das Land im Gegensatz zum Meer, sondern um den Herrschaftsbereich Erde. Von ihm sagt das Neue Testament, dass er gegenwärtig unter der Herrschaft der Bösen, der „Herren der Welt“, steht (Mt 4,8; Eph 6,12). In der Zukunft aber werden nicht die Weltreiche und Weltherrscher, nicht mehr die Herrscher und Mächtigen von Mt 20,25 und vom Stil des Herodes, die Erde besitzen, das heißt regieren und verwalten, sondern die Sanftmütigen (οἱ πραεῖς [hoi praeis]). Wann wird das sein? Ohne Zweifel gleichzeitig mit dem „Reich Gottes“ von V. 3 und dem Trost von V. 4. Das heißt eschatologisch am Ende des gegenwärtigen Äons. Mt 5,5 ist keine Anleitung zur Revolution, zu einer Umkehrung der Verhältnisse, sondern zum Warten auf Gottes Tun am Ende der Zeiten. Dann allerdings, nach der Wiederkunft Jesu (Offb 20,4ff) und erst recht in der neuen Schöpfung, wird es zu der völligen Veränderung kommen, von der Mt 5,5 spricht. Offb 20,6 drückt genau dasselbe aus, wenn es dort heißt, die Erlösten „werden mit Christus regieren tausend Jahre“ – und zwar noch die alte Erde. Erst recht werden die Erlösten nach Offb 21,1–22,5 die neue Erde als Erbe besitzen – in alle Ewigkeit. Dann ist auch Ps 37 erfüllt: „die des HERRN harren, werden das Land erben (LXX Ps 36,9 κληρονομήσουσιν γῆν [klēronomēsousin gēn])“, „die Elenden werden das Land erben (LXX Ps 36,11 οἱ δὲ πραεῖς κληρονομήσουσιν γῆν [hoi de praeis klēronomēsousin gēn]).“ Kurz, aber treffend hat es Julius Schniewind ausgedrückt: „V. 5 führt vom neuen Himmel zur neuen Erde herab, von der jenseitigen zur diesseitigen Hoffnung.“ Friedrich Hauck und Siegfried Schulz ist darin zuzustimmen, dass Jesus durch sein Verhalten und seine Worte grundsätzlich in einen „Gegensatz zu den Zeloten … und allen Vertretern eines politischen Messianismus“ tritt.76 Mit der dritten Seligpreisung schied sich Jesus von den Aufstandsbewegungen seiner Zeit, mochten sie nun politisch oder theologisch begründet sein. Jakobus wendet in 3,13 Mt 5,5 auf die Streitigkeiten in der Gemeinde an. Schließlich widerstreben die Worte sie werden die Erde als Erbe besitzen einer falschen Spiritualisierung. Sie bezeugen, wie realistisch Jesus von einem neuen Himmel und einer neuen Erde am Ende der Zeiten ausging. Die vierte Seligpreisung (V. 6) ist zugleich die vierte nach π [p] geordnete: πτωχοί—πενθοῦντες—πραεῖς—πεινῶντες [ptōchoi – penthountes – praeis – peinōntes]. Sie gilt denen, die nach der Gerechtigkeit (τὴν δικαιοσύνην [tēn dikaiosynēn]) hungern und dürsten. Während die dritte Seligpreisung bei Lukas kein Gegenstück hat, kehrt diese vierte in Lk 6,21 fast wörtlich wieder, wobei Lukas ein νῦν [nyn] einfügt, die Aussage in der 2. Person Plural statt der 3. Person Plural bietet und das Ganze noch kürzt. Matthäus 5,3–12 Hungern und dürsten sind schon früh Bildworte für geistliches Hungern und Dürsten (Ps 42,3; 63,2; Jes 5,1ff; Jer 31,25; Am 8,11; Sir 24,28ff). In Mt 5,6 definiert J. Behm das dürsten als „Leidenschaftlich verlangen“, L. Goppelt das hungern als das „brennende Verlangen“. Wonach? Nach Gerechtigkeit, sagt Mt 5,6. Für Klostermann ist dies ein „Zusatz des Mt.“ Aber es ist unmöglich, alle auf Jesus zurückgeführten δικαιοσύνη-Aussagen [dikaiosynē] nur auf das Konto des Evangelisten zu setzen (vgl. Mt 3,15; 5,10.20; 6,1.33). Überdies spielt der Begriff der Gerechtigkeit in den Heilsweissagungen des Jesaja und der Psalmen, auf die Jesus immer wieder zurückgriff, eine wichtige Rolle (vgl. Ps 24,5; Jes 61,10; 62,1f). Lukas dagegen hatte alles Recht zu einer Kürzung. Wir gehen also davon aus, dass Jesus selbst von einem hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit sprach. Grammatisch wäre es zwar nicht unmöglich, τὴν δικαιοσύνην [tēn dikaiosynēn] als Akkusativ der Beziehung aufzufassen und dann zu übersetzen: „die hungern und dürsten bezüglich der Gerechtigkeit“, das heißt sinngemäß: „die Hunger und Durst leiden (als Verfolgte), weil sie Gerechte sein wollen“. Es wäre dann sogar ein guter sachlicher Anschluss an die dritte Seligpreisung gegeben. Aber die Heilsaussagen im AT (Ps 24,5; 119,123; Prov 9,5; Jes 61,10; 62,1f) und im Johannesevangelium (4,14; 6,35ff; 7,27ff) sowie die übrigen Gerechtigkeits-Aussagen in der Bergpredigt (5,20; 6,1.33) deuten doch eher in die Richtung der von uns gewählten Übersetzung die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten. Nun gibt es auch bei dieser Übersetzung immer noch drei verschiedene Verständnismöglichkeiten: 1) das Verlangen geht auf das Richterhandeln Gottes am Ende der Zeiten; 2) es geht darauf, dass uns endlich in unserem Leben Gerechtigkeit widerfährt; 3) es geht darauf, dass uns Gott gerecht spricht und in seine Gemeinschaft aufnimmt.85 Am wenigsten begründet ist die zweite dieser Möglichkeiten. Denn Jesus spricht in keiner der neun Seligpreisungen von Belohnung und Erfüllung schon in der Gegenwart, sondern erst einer solchen in der Zukunft, im neuen Äon. Gerechtigkeit auf Erden gibt es für die Jünger Jesu höchstens vorübergehend. Nr. 1) und 3) sind besser begründet. Mt 5,20 und 6,33 legen es nahe, von dem Verlangen auszugehen, dass Gott uns gerecht spricht und in seine Gemeinschaft aufnimmt. Aber mit dieser dritten Verständnismöglichkeit ist die erste keineswegs ausgeschlossen. Ja, beide lassen sich gut verbinden. Das hungern und dürsten ist erst dann ganz erfüllt, wenn Gott als Richter und Retter am Ende der Zeiten uns als von ihm Gerechtfertigte sichtbar ans Licht treten lässt. Davon spricht jetzt die zweite Hälfte von V. 6: denn sie werden satt gemacht werden. Bauer-Aland übersetzt: „sie werden Genüge finden“. Damit wird aber das Passivum divinum aufgelöst, das doch wohl in Parallele zu den Passiva divina in V. 4 und V. 7 steht. Wir fassen also „satt gemacht werden“ / „gesättigt werden“ als eine Gabe Gottes auf. Jesus will demnach sagen: Die Gerechtigkeit bei Gott und die Gemeinschaft mit ihm, die ihr aus vollem Herzen sucht, wird euch Gott schenken90 (vgl. Offb 7,16ff). Mt 5,6 ist eine überaus gefüllte Aussage. Wir können nur noch kurz einige Inhalte hervorheben. Zunächst ist klar, dass die hier genannte Gerechtigkeit eine geschenkte Gerechtigkeit ist und mit einem „Verdienst der Werke“ nichts zu tun hat. Insofern hat die reformatorische Dogmatik keine Probleme. Ja, dadurch entsteht Gewissheit über Jesu Verheißung. Man erinnere sich an Luthers Wort: „Wenn es am Verdienst hinge, so könnten wir nie gewiß sein, wann wir Verdienst genug hätten. Ulrich Luz verwirrt die Situation, indem er sich an den „katholischen Auslegungstyp“ anschließen will und die Gerechtigkeit auf die menschlichen Werke bezieht. Aber wie sollen wir damit die „Sättigung“ durch Gott und auch den Kontext vereinbaren? Ein Korn Wahrheit liegt allerdings in der Position von Luz: Jesus spricht nicht von denen, die die Sehnsucht nur als „Herzenswunsch“ nach Gerechtigkeit in sich tragen, sondern von Menschen, die Gottes Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen sich bemühen.93 Übersetzt man δικαιοσύνη [dikaiosynē] sodann ins hebräische צְדָקָה [zᵉdāqāh], dann wird erst recht klar, dass es nicht um eine Tugend oder einen Besitz der Gerechtigkeit geht, sondern dass Gerechtigkeit etwas ist, „was man empfängt“. Ferner ist sowohl die göttliche wie die menschliche צְדָקָה [zᵉdāqāh] im AT mit der Willensfreiheit verbunden – einer Willensfreiheit, die dann in Qumran aufgegeben wird.96 Noch einmal sei betont, dass Jesus in Mt 5,6 sowohl die alttestamentlichen Heilsbitten (vgl. Ps 17,15; 36,11; 37,6; 119,123) als auch die Heilszusagen (vgl. Ps 22,27; Jes 61,10; 62,1f) aufgreift und ihre Erfüllung verspricht. Paulus und Jakobus haben später das jesuanische Gerechtigkeitsthema je auf ihre Weise aufgegriffen. Wie stark im damaligen Judentum die Sehnsucht nach der wahren „Gerechtigkeit“ war, zeigen pharisäische Psalmen, die qumran-essenische Gemein-schaftsregel99 und viele Aussagen der alten Rabbinen. Man wünscht sich, dass solche Sehnsucht auch im europäisch-nordatlantischen Raum eines Tages wieder aufbricht. Eine wunderbare Auslegung von Mt 5,6 hat Augustin in seiner Erklärung des 122. Psalms gegeben, die mit den Worten schließt: „Sei Bettler der Gerechtigkeit und höre das Evangelium: ‚Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.‘ “ Mit der fünften Seligpreisung (V. 7) kommen wir zur zweiten Gruppe der Seligpreisungen: Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Man kann allerdings nicht mit Schniewind die erste Gruppe (V. 3–6) durch „Warten“ und „Entbehren“ und die zweite Gruppe (V. 7ff) durch „Verhalten“ und „Sein“ kennzeichnen. Denn „Verhalten“ und „Sein“ charakterisiert auch die Sanftmütigen (V. 5). Allerdings tritt in der fünften Seligpreisung das Erleiden zurück, während das aktive Tun in den Vordergrund tritt. Die Barmherzigen (οἱ ἐλεήμονες [hoi eleēmones]): Interessant ist, dass man sich nach Meinung der Rabbinen mit der Barmherzigkeit schwertut. R. Jochanan legte Prov 15,15 „Alle Tage des Armen sind schlecht“ so aus, dass damit der Mitleidige gemeint sei. Auch das NT weiß, dass man zur Barmherzigkeit ermahnen muss (1Petr 3,8; Phil 2,1; Jak 2,13), und dass sie nicht leichtfällt: „Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn“; „Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern“ (Röm 12,8). Barmherzig (ἐλεήμων [eleēmōn]) sein heißt: „die Güte oder das Mitleid …, das sich in Fällen irdischer Not betätigt“ oder das „Erbarmen, das sich um das ewige Heil der anderen sorgt“ (vgl. Jud 22f). Es fällt auf, dass Jesus jetzt ausgerechnet die Barmherzigen glücklich preist, also diejenigen, die sich von Mensch zu Mensch erbarmen, obwohl das Alte Testament auf den ersten Blick an das Barmherzigsein keine besondere eschatologische Verheißung knüpft. Allerdings hat das hebr. Grundwort hinter ἐλεήμων [eleēmōn], nämlich רַחֲמִים [rachᵃmīm], sehr oft den Sinn von „Liebe“. Diese aber gehört zu den großen Themen und Geboten des AT (vgl. Lev 19,18). Zweitens ist zu bedenken, dass Gott selbst in den Glaubensbekenntnissen des AT als derjenige gepriesen wird, der barmherzig ist (vgl. Ex 34,6; Ps 103,8; Jona 4,2; Nah 1,7). Sollen wir aber „vollkommen sein, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48), dann gehört dazu in vorderster Linie auch die Barmherzigkeit. Drittens stoßen wir hier in Mt 5,7 auf eine spezielle Priorität Jesu, der gerade der Barmherzigkeit einen hohen Stellenwert gibt (vgl. Mt 9,13; 12,7; 18,33; 23,33; Lk 10,30ff). Weiter fällt auf, dass Jesus im Unterschied zu manchen Rabbinen die Barmherzigkeit nicht auf bestimmte Menschengruppen begrenzt. Er spricht von den Barmherzigen, ohne irgendeine Grenze zu ziehen (vgl. Mt 5,43ff). Andererseits muss man festhalten, dass auch viele Rabbinen die Barmherzigkeit hoch schätzten. Vielleicht bietet dafür b Schab 151b eines der eindrucksvollsten Beispiele, das stark an Mt 5,7 erinnert: „Wer sich seiner Mitmenschen erbarmt, dessen erbarmt man sich im Himmel.“ Jesu Zusage lautet: sie werden Barmherzigkeit erlangen (αὐτοὶ ἐλεηθήσονται [autoi eleēthēsontai]). Das Futur macht den Zeitpunkt der Erfüllung klar: Es ist das Endgericht. Jakobus hat gerade diese Barmherzigkeit Gottes im Endgericht betont, wenn er schreibt: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“, und: „es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat“ (Jak 2,13; ganz nach Mt 5,7!). Aus dem Passivum divinum in Mt 5,7 geht ja hervor, dass Gott wiederum der Handelnde ist. Vgl. noch Prov 14,21; 17,5; Mt 18,33. Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt, was zu Mt 5,7 zu bemerken ist. Denn die Worte: sie werden Barmherzigkeit erlangen haben neben dem futurischen durchaus auch einen präsentischen Sinn. Zahlreiche Stellen des AT sprechen nämlich davon, dass derjenige, der an andern Barmherzigkeit übt, von Gott selbst Barmherzigkeit erfährt: „Lass dein Brot über das Wasser fahren; denn du wirst es finden nach langer Zeit“ (Koh 11,1; vgl. Ex 20,6; Dtn 7,9; Ps 25,6.10; 103,4; 115,13; Klgl 3,22; Hos 2,21). Ähnlich wie die vierte Seligpreisung enthält also auch die fünfte eine doppelte Zusage: Gott wird uns sowohl in dieser als auch in der kommenden Welt wohltun. Nicht weil wir es verdient haben, sondern weil er seine Kinder liebt (vgl. Mt 5,35.48; 6,9). Man sollte meinen, dass Jesus jetzt weiterhin ein bestimmtes Tun bewertet. Dann wäre natürlich V. 9 ein idealer Anschluss an V. 7, und in der Tat nehmen manche Ausleger V. 7 und V. 9 zusammen. Aber Jesus hält sich nicht an unsere Ideale oder unsere abendländische Logik, übrigens auch nicht Matthäus. Die Seligpreisungen kehren jetzt mit V. 8, der sechsten Seligpreisung, zu dem Herz zurück, das in V. 4 Leid trug, in V. 5 von Sanftmut erfüllt war und in V. 6 nach der Gerechtigkeit hungerte: Glücklich zu preisen sind die, die reines Herzens sind (οἱ καθαροὶ τῇ καρδίᾳ [hoi katharoi tē kardia]). Vorweg sei festgehalten, dass weder die fünfte noch die sechste Seligpreisung eine Parallele bei Lukas haben. Reines Herzens: Damit sind wir erneut bei einem der wichtigen Themen der Psalmen. „Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist“ (καθαρὸς τῇ καρδίᾳ [katharos tē kardia], Ps 24,3f, LXX Ps 23,3f). Eine Teilnahme am Gottesdienst und an der Gemeinschaft des glaubenden Israel setzt also ein reines Herz voraus. Nicht anders ist es in der Welt der Bußpsalmen. „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ betet David (Ps 51,12; LXX 50,12: καρδίαν καθαρὰν κτίσον ἐν ἐμοί, ὁ θεός [kardian katharan ktison en emoi, ho theos]). Vgl. Ps 73 (72),1. Aber nun besteht schon im AT völlige Klarheit darüber, dass der Mensch sich selbst kein reines Herz verschaffen kann. „Wie kann ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat?“ (= vor Gott) ist die Frage in Hiob 4,17, und Prov 20,9 sekundiert: „Wer kann sagen: Ich habe mein Herz geläutert und bin rein von meiner Sünde?“ Vgl. Hiob 14,4; 15,14f; 25,4f. Gerade deshalb erfolgt ja die Bitte an Gott, dass Er ein reines Herz schaffen möge (Ps 51,9.12). Und in Ez 36,26 antwortet Gott mit der prophetischen Zusage: ich will euch ein neues Herz (LXX: καρδίαν καινήν [kardian kainēn]) geben. Wie kann dann Jesus Menschen glücklich preisen, die reines Herzens sind? Antwort: Er kann es auf doppelte Weise. Erstens kann er damit die Sehnsucht nach einem reinen Herzen erwecken. Zweitens kann er die Menschen zur Bitte und Bereitschaft erwecken, sich ein solches Herz von Gott schenken zu lassen. Ps 51 wird dann zu ihrer eigenen Bitte. Wann aber hat der Mensch ein reines Herz? Die Teilnahme an Kult und Gottesdienst tut es nicht (Jes 1,10ff; Am 5,21ff). Vielmehr entsteht ein reines Herz dort, wo einem Menschen die Schuld abgenommen wird (Jos 22,17; Jer 13,27; 33,8; Ez 36,23.25; 37,23; Sach 3,5; Prov 30,12). Dabei bezeichnet Herz den „Mittelpunkt des inneren Lebens des Menschen“, nicht zuletzt den „Sitz des Willens, die Quelle der Entschlüsse“. Fazit: Jesus erweckt mit der sechsten Seligpreisung die Sehnsucht und die Bereitschaft, von Schuld frei zu werden und sich von Gott ein reines Herz schenken zu lassen. Er deutet zugleich an, dass sich jetzt, mit seinem Kommen, Ez 36,26f zu erfüllen beginnt. Deshalb kann er so zuversichtlich sagen: sie werden Gott schauen (αὐτοὶ τὸν θεὸν ὄψονται [autoi ton theon opsontai]). Damit ist erneut ein Thema aufgegriffen, das im Alten Testament ein eigenes Gewicht hat. Zunächst gilt, dass ein sündiger Mensch Gott nicht sehen kann: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Ex 33,20.23; Joh 1,18; 1Tim 6,16; 1Joh 4,12). Aber Israels Sehnsucht bleibt es: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab“ (Jes 63,19). Und in der tiefsten Not seiner Seele erwartet es Hiob als gewiss: „Ich werde Gott schauen“ (אֶחֱזֶה [ʾächᵆsäh]), Hiob 19,26f. Entgegen W. Michaelis ist hier doch wohl an ein wirkliches, eschatologisches Sehen Gottes nach dem Tode gedacht. Vgl. Jes 35,4. Noch für die alten Rabbinen galt das Schauen Gottes in der Heilszeit als „höchste Seligkeit“. Für schauen steht übrigens griech. ὁράω [horaō], ein Verb, das sowohl die normale sinnliche Wahrnehmung als auch die visionäre Schau ausdrückt. Der endzeitliche Kontext in den Seligpreisungen legt es nahe, bei Mt 5,8 nicht nur an ein visionäres, sondern an ein tatsächliches, leibhaftiges Sehen Gottes zu denken. Eine solche Auslegung stimmt jedenfalls mit 1Joh 3,2: „wir werden ihn sehen, wie er ist“ (ὀψόμεθα αὐτόν, καθώς ἐστιν [opsometha auton, kathōs estin]), und Offb 22,4 überein. Nach dem soeben Ausgeführten können wir Werner Michaelis nicht zustimmen, wenn er sagt: „Mt 5,8 und die Gewißheit 1J 3,2 haben … keine unmittelbaren Vorläufer im AT.“119 Vorläufer sind vielmehr durchaus da. Aber die Hervorhebung des reinen Herzens in seiner Bedeutung für das Gottesreich und die Betonung der Gottesschau als endzeitliches Gottesgeschenk sind doch wieder typisch jesuanisch (vgl. Mt 5,17). Insofern hat Michaelis recht. Man wird ihm auch darin zustimmen müssen, dass er in 1Joh 3,2 eine „bewusste“ Anknüpfung an Mt 5,8 erblickt. Dasselbe gilt für Jak 4,8; Offb 22,4; Hebr 12,14. Rudolf Schnackenburg weist darauf hin, dass die Seligpreisung in Mt 5,8 „die alte Kirche … tief bewegt“ hat. Irenäus hielt an der Realität der Gottesschau im Himmelreich fest,124 Clemens Alexandrinus und Athanasius nahmen darauf Bezug, Johannes Chrysostomus konnte sich reine Gebete nur aus reinem Herzen vorstellen126 und für Augustinus war die Gottesschau die Vollendung unseres Heils. Noch einmal sei bemerkt, dass Jesus auch in Mt 5,8 nicht über die Köpfe hinweg sprach, sondern mit dem Thema vom reinen Herzen eine starke jüdische Sehnsucht jener Zeit ansprach (vgl. Ps Sal XVI,1ff; 1QS X, 21ff; 4Esr 7,98). Die siebte Seligpreisung ist die am raschesten zu politisierende: Glücklich zu preisen sind die Täter des Friedens, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden (V. 9). Herrscht doch auch unter Konservativen der Konsens, dass wir „für die Versöhnung zu arbeiten“ haben, unter Einzelnen und Völkern. In neuerer Zeit wurde Mt 5,9 „ein Wegweiser für die … Friedensbewegung“. Hinter dem griech. εἰρηνοποιοί [eirēnopoioi] steckt das hebr. עָשָׂה שָׁלוֹם [ʿāśāh schālōm]. Man muss deshalb bei εἰρήνη [eirēnē] (Frieden) die ganze Bandbreite einbeziehen: Friede, שָׁלוֹם [schālōm], εἰρήνη [eirēnē], heißt „Unversehrtsein“, „Heilsein“, „Freundschaftsverhältnis“, „Frieden“ – also ein umfassender Begriff. Die Wendung עָשָׂה שָׁלוֹם [ʿāśāh schālōm] ist im Hebräischen wohlbekannt. Es ist aber hochinteressant, dass sie in Jes 27,5 (LXX εἰρήνην ποιεῖν [eirēnēn poiein]) bedeutet: „Frieden machen“ mit Gott. Wir dürfen diese Dimension bei Mt 5,9 nicht ausklammern. εἰρηνοποιοί [eirēnopoioi] ist mehr als „Friedfertige“, mehr als „die, die Frieden stiften“. Es bedeutet: „die, die Frieden herstellen“. Darin liegt ein aktives Element: die Suche, das „Jagen“ nach Frieden. Gerade so wird es in der apostolischen Lehre verstanden. Am nächsten an Mt 5,9 steht wieder Jakobus in 3,18. Er spricht von denen, „die Frieden machen“ (τοῖς ποιοῦσιν εἰρήνην [tois poiousin eirēnēn], 3,18). Wie so oft hat sich Jakobus auch hier an die Bergpredigt angelehnt. Aber auch Röm 12,18; 14,19; 2Tim 2,22; 1Petr 3,11ff; 2Kor 13,11; 1Thess 5,13; Hebr 12,14 sind aus der siebten Seligpreisung in Mt 5,9 herzuleiten. In der apostolischen Lehre steht der Friede unter den Gemeindegliedern im Vordergrund. Denn die Gemeinden des apostolischen Zeitalters haben sich so gut auf Streit verstanden wie die heutigen. In Mt 5,9 ist der Horizont aber umfassender. Täter des Friedens heißt: 1) Menschen, die den Frieden mit Gott suchen und finden; 2) Menschen, die den Frieden in der Gemeinde fördern; 3) Menschen, die den Frieden auch in der gegenwärtigen, argen Welt (Gal 1,4) herzustellen versuchen. Michael Green machte zu Mt 5,9 die schöne Bemerkung, Jesus erwarte hier von den Jüngern das Gleiche, was Gott selbst tue. In der Tat heißt es von Gott: „Er versöhnte die Welt mit sich selber“ (2Kor 5,19). Das Ergebnis ist Röm 5,1: „wir haben Frieden (εἰρήνην ἔχομεν [eirēnēn echomen]) mit Gott“. Wir sollten Mt 5,9 also nicht einschränken, sondern alle drei oben genannten Dimensionen im Auge behalten. Alttestamentlich stellt Ps 34,15 eine Anknüpfungsstelle dar: „suche Frieden und jage ihm nach“ (LXX 33,15: ζήτησον εἰρήνην καὶ δίωξον αὐτήν [zētēson eirēnēn kai diōxon autēn]). Vgl. Prov 10,10 LXX. Auch hier hat Jesus offenbar die Psalmen zur Grundlage genommen. Aber indem er eine solche Psalmstelle in den Vordergrund schiebt, geschieht wieder etwas typisch Jesuanisches: Jesus wertet den Frieden mit Gott, den Frieden in der Gemeinde (vgl. Mt 18,15ff; Joh 13,34f) und den Frieden mit der Umwelt so hoch, dass er ihn in die Seligpreisungen aufnimmt. Seine Verheißung lautet: sie werden Söhne Gottes genannt werden (αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται [autoi hyioi theou klēthēsontai]). Sohn Gottes zu sein kommt im AT einer Reihe von Menschen zu: 1) den Israeliten (Dtn 1,41; Hos 11,1); 2) vor allem dem Messias (Ps 2,7; 2Sam 7,14; Jes 9,5); 3) den Erlösten der Endzeit (Hos 2,1 LXX: κληθήσονται υἱοὶ θεοῦ [klēthēsontai hyioi theou]). Offensichtlich greift Jesus hier die göttliche Verheißung von Hos 2,1 auf. Seine Zusage bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Betreffenden werden Gottes endzeitliches Volk sein, in nächster Nähe zu ihm, denn er wird unter ihnen wohnen (Ez 34,30f; 36,28; Offb 21,3). Aber schon jetzt wird Gott sie als seine Kinder behüten, bewahren, leiten und segnen (Mt 5,43ff; 6,9.32). Klar ist, dass die siebte Seligpreisung (Mt 5,9) eine Stellungnahme gegen den Zelotismus und darüber hinaus gegen alle gewaltsamen Revolutionen und gewaltsamen Fundamentalismen enthält. In seiner ganzen Verkündigung hat Jesus den Zelotismus abgelehnt (vgl. Mt 5,43ff; 11,12; 22,15ff; 26,52). Klar ist ferner, dass wir nur insoweit Täter des Friedens sein können, als die Sache an uns liegt. Röm 12,18 ist dazu der beste Kommentar: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ In der achten Seligpreisung (V. 10) erscheint das Thema, das die letzten drei Verse der Seligpreisungen durchziehen wird, die Verfolgung: glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης [hoi dediōgmenoi heneken dikaiosynēs]). Mit der Verfolgung berührt Jesus eines der schmerzlichsten Themen der jüdischen Geschichte seit der babylonischen Gefangenschaft, vor allem der letzten 200 Jahre vor Christi Geburt. Verfolgt waren die Makkabäer und Chasidim des 2. Jh. v.Chr. (1Makk 1ff; 2Makk 3ff). Verfolgt waren die Pharisäer am Anfang des 1. Jh. v.Chr. unter Alexander Jannai (103–76 v.Chr.), der einmal achthundert von ihnen ans Kreuz schlagen ließ.143 Verfolgt waren sie auch unter Herodes d.Gr., wie die bewegenden Klagen in den Psalmen Salomos zeigen. Der „Lehrer der Gerechtigkeit“, auf den sich Qumran berief, wurde verfolgt (1QpHab). Ja, viel früher schon, in der Zeit des persischen Königs Xerxes (485–465 v.Chr.), hatte der Großwesir Haman danach getrachtet, alle Juden im Perserreich auszulöschen (Est 3,5ff). Der Rettung durch das Eingreifen der Königin Ester verdankt Israel bis heute das Purimfest (Est 9,17ff). In diese Geschichte der Verfolgung jüdischer Frommer reihten sich bald nach Jesu Kreuzigung die schrecklichen Kriege der Römer mit den Juden 66–73 und 130–135 n.Chr. ein. Aber auch wir Christen können uns nur mit Schmerz an die jüdische Verfolgungsgeschichte erinnern, weil wir sie seit dem 4. Jh. n.Chr. fortgesetzt haben. Glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden: Mit diesen Worten erinnert Jesus nicht nur an jene schmerzliche Geschichte, sondern nimmt gleichzeitig eine Weichenstellung vor. Denn die Worte um der Gerechtigkeit willen (ἕνεκεν δικαιοσύνης [heneken dikaiosynēs]) betreffen diejenigen nicht, die im Machtkampf der jüdischen Parteien im Staat gelitten haben. Sie betreffen nur diejenigen, die wegen ihrer Gebotserfüllung (δικαιοσύνη [dikaiosynē] = צְדָקָה [zᵉdāqāh]) verfolgt werden. δικαιοσύνη [dikaiosynē] ist hier wirklich mit Gottlob Schrenk „das mit Gottes Willen übereinstimmende … Verhalten des Menschen“. Deshalb kommt Jesus sofort auf die Propheten zu sprechen – und nicht auf die galiläischen oder zelotischen Aufstandsführer. Nun ist allerdings eine weitere Klarstellung nötig. Wie sich aus der Wendung zur 2. Person Plural in V. 11 ergibt, gibt Jesus ein Urteil nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart und Zukunft ab. Verfolgte sind deshalb seine Jünger! Denn sie verkündigen diejenige Gerechtigkeit, die aus seinem Erlösungshandeln kommt (Mt 6,33; Röm 1,17; 3,21ff; 1Kor 1,30; 2Kor 3,9; 2Petr 3,13) und leben selbst von dieser Gerechtigkeit (Mt 5,6; Röm 10,6; 1Kor 1,30; 1Tim 6,11). Denn ihrer ist das Reich Gottes: Das ist dieselbe Verheißung wie in V. 3. Zur Erklärung vgl. dort. Was uns noch nach 2000 Jahren fasziniert, ist die Klarheit, mit der Jesus die Verfolgung seiner Gemeinde voraussah, und zwar schon in den allerersten Anfängen seiner Predigt! Erklärbar ist das im Grunde nur, wenn er bei der Taufe in Mt 3,17 selbst den Auftrag zum Sühnetod, zum Sterben also, erhielt. Und erstaunlich bleibt es, dass er es mitten im „galiläischen Frühling“ wagte, davon zu sprechen. Übrigens gehen 2Tim 3,12; 1Petr 3,14; Jak 1,2 auf Mt 5,10 zurück. Erst langsam entdecken wir im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert der grausamsten Christenverfolgung, von Neuem die Wahrheit der Worte in Mt 5,10–12. Mit der neunten und letzten Seligpreisung (V. 11f) erfolgt der Umschlag in die 2. Pers. Plur. Der Umschlag zeigt, dass wir bei Matthäus keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Aussagen in der 3. Person Plural und Aussagen in der 2. Person Plural konstruieren dürfen. Matthäus kann mühelos vom einen zum andern übergehen. Die Frage zu stellen, ob die Verse 11–12 redaktionell, also von Matthäus, sind oder von Jesus, ist wenig sinnvoll. Denn streng genommen lässt sich weder das eine noch das andere beweisen. Wir bleiben also auf die Auskunft des Matthäus angewiesen, wonach hier Jesus selbst redet. Lk 6,22f kann das nur bestätigen. Glücklich zu preisen seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen schmähen und verfolgen und gegen euch alles Böse reden, sofern sie dabei lügen (V. 11): die Verheißung folgt erst in V. 12. Jesus wird hier relativ ausführlich. Nach dem Gesetz des Achtergewichts ist zu vermuten, dass Jesus ein besonderes Interesse daran hat, seine Jünger auf die kommende Verfolgung vorzubereiten. Dasselbe beobachten wir bei Paulus (Apg 14,22). Im atlantisch-christlichen Raum dagegen fiel eine solche Vorbereitung in den letzten hundert Jahren nahezu aus. Seid ihr (ἐστε [este]): Das ist Direktansprache an die Hörenden. Vgl. Lk 6,20ff. Wenn sie euch um meinetwillen schmähen (ὅταν ὀνειδίσωσιν … ἕνεκεν ἐμοῦ [hotan oneidisōsin … heneken emou]): Schmähen (ὀνειδίζειν [oneidizein]) bedeutet ein Anklagen, das Schmach mit sich bringt. Darin teilen die Jünger „das Leidensschicksal mit ihrem Meister“.149 Das Subjekt sie ist bewusst unbestimmt gehalten. Die Jünger müssen an allen Orten und zu allen Zeiten damit rechnen. Und verfolgen (καὶ διώξωσιν [kai diōxōsin]): Das ist eine Stufe gefährlicher. Denn das verfolgen schließt schon ein begonnenes Gerichtsverfahren mit ein. Nach Albrecht Oepke begegnet διώκειν [diōkein] (verfolgen) vor allem im Psalter als Leiden der Frommen. Und gegen euch alles Böse reden (καὶ εἴπωσιν πᾶν πονηρὸν καθʼ ὑμῶν [kai eipōsin pan ponēron kath’ hymōn]): Hier ist der Sinn nicht ohne Weiteres eingrenzbar. Auch Günther Harder definiert nur sehr allgemein: „Gemeint ist das Böse, das die Feinde den Jüngern nachsagen.“ Vielleicht ist die schädliche Aussage im Prozess gegen die Jünger gemeint (vgl. Mt 10,16ff; 12,34; 26,59ff). Jesus verdeutlicht seine Seligpreisung an zwei Stellen. Die erste markiert er mit den Worten um meinetwillen (ἕνεκεν ἐμοῦ [heneken emou]). Das ist eine überraschende Aussage. Denn sie steht in Parallele zu ἕνεκεν δικαιοσύνης [heneken dikaiosynēs] (um der Gerechtigkeit willen) in V. 10. Ein Rabbi könnte so nicht reden (vgl. Mt 7,29). Die Aussage um meinetwillen ergibt nur Sinn, wenn es sich um den Messias und Welterlöser handelt. Sie setzt voraus, dass die Jünger wegen ihrer Zugehörigkeit zu Jesus, wegen ihres Christusnamens verfolgt werden. Sollten sie wegen eigener Interessen verfolgt werden, dann gilt diese Seligpreisung nicht. Auch die zweite Markierung schärft das Gewissen der Jünger: „sofern sie dabei lügen (ψευδόμενοι [pseudomenoi])“. Das Böse, von dem die Ankläger reden, darf also nicht wahr sein. Den Kommentar dazu gibt Petrus in 1Petr 4,15f: „Niemand aber unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der in ein fremdes Amt greift. Leidet er aber als ein Christ, so schäme er sich nicht, sondern ehre Gott mit diesem Namen.“ Überhaupt hat Mt 5,11 in der frühen Christenheit tiefe Spuren hinterlassen (vgl. Apg 5,41; 1Petr 2,19ff; 3,13ff; 4,12ff; Jak 2,7ff). Für alle Zeitalter bleibt es eine christliche Herausforderung zu prüfen, ob ich wegen meines eigenen Charakters, meines Eigensinns, meiner eigenen Verfehlungen leide oder wirklich um Christi willen. Weil erfahrungsgemäß bei allen Verfolgungen gegen Christen immer irgendwelche Verstöße, manchmal auch nur angebliche, in den Vordergrund geschoben werden und eine Mischsituation entsteht, ist die Prüfung umso schwieriger. In vielen Fällen werden wir die Sache nur nach Röm 12,19 Gott anheimstellen können. Wie stark Jesus schriftgebunden ist, enthüllt sich auch bei der neunten Seligpreisung. Denn sie ist in enger Parallele zu Jes 51,7 formuliert, wo es heißt: „Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen (LXX: ὀνειδισμὸν ἀνθρώπων [oneidismon anthrōpōn]), und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen!“ Neu aber ist in Mt 5,11 das um meinetwillen = um Jesu willen. Denn jetzt, mit Jesu Kommen, ist die messianische Zeit angebrochen. Halten wir mit Gaechter noch fest, dass „Von blutiger Verfolgung … hier nicht die Rede“ ist. Mt 5,11 als „Doppelung zu V. 10“ zu betrachten, gibt es keinen Grund. Es handelt sich vielmehr um die aktuelle und pointierte Anwendung der allgemeinen Seligpreisung in Mt 5,10 auf die damalige Jüngerschaft. Ein solcher Vorgang gehört durchaus zum Repertoire Jesu (vgl. Mt 10,24ff). Erstaunlicherweise bleibt Jesus auch in Mt 5,12 beim Thema der Verfolgung. Auch Lk 6,22–23 bestätigt, dass er bei diesem Thema verhältnismäßig ausführlich verweilte. Freut euch und jubelt! Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Denn genauso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind: Dies also ist der Lohn der verfolgten Jünger. Schlatter hat ganz recht, wenn er die Frage stellt: „Wird denn nicht Christus … sie beschirmen?“ So dachte auch der Täufer nach Mt 11,2ff. So wäre es nach den pharisäischen Psalmen Salomonis 17 und 18 zu erwarten gewesen. Aber Jesu Weg verläuft anders. Es ist ein Weg zum Kreuz: Für ihn und seine Anhänger (Mt 10,38f; 16,22ff). Und gerade für diesen Leidensweg fordert er auf: Freut euch und jubelt (χαίρετε καὶ ἀγαλλιᾶσθε [chairete kai agalliasthe])! Beide Worte, ἀγαλλιάομαι [agalliaomai] und χαίρω [chairō], bezeichnen den eschatologischen Jubel (vgl. Offb 19,7). Weil durch Jesu Kreuz die Erlösung geschieht, steht auch der Kreuzesweg seiner Jünger unter einer unausdenkbaren Verheißung. „Durch Leiden zur Herrlichkeit“: Diese neutestamentliche Grundregel wird auch zu einer Auslegungsregel von Mt 5,12. Hier hat Theodor Zahn recht: „Nicht trotz der Anfeindung“ sollen Jesu Jünger „fröhlich sein, … sondern über die Anfechtung“. Damit trifft er auch Jak 1,2; Röm 5,3; 1Petr 1,6; 4,12ff; die allesamt Kommentare zur Bergpredigt darstellen. Rudolf Bultmann hat dazu einen wertvollen Hinweis gegeben: Diese Freude ist sowohl gegenwärtig als auch zukünftig.161 Der Satz euer Lohn ist groß im Himmel (ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ho misthos hymōn polys en tois ouranois]) ist für Protestanten nicht einfach zu verstehen. Gibt es einen Lohn im Himmel? Nach Jesus zweifellos (Mt 5,12.46; 6,1ff.5.16; Offb 11,18; 14,13; 22,12). Dabei kann man nicht an irdische Lohnabrechnungen denken, sondern nur an die überschwänglichen, ewigen Wohltaten Gottes (vgl. Eph 3,20). Jesus spezifiziert den Lohn nicht weiter, sondern spricht nur davon, dass er groß (πολύς [polys]) sei im Himmel (ἐν τοῖς οὐρανοῖς [en tois ouranois]) = bei Gott. Er übersteigt also unsere menschliche Vorstellungskraft (vgl. Eph 3,20; Gen 15,1). Paulus hat das sehr schön auf den Nenner gebracht: „Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17). Für die leidende Gemeinde, gerade im 21. Jh., scheint das Leiden allerdings manchmal zu schwer zu sein. In seiner typisch rationalen Art fügt Jesus hinzu: Denn genauso (οὕτως γάρ [houtōs gar]) haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind. Diese Verfolgung der Propheten ist ein ständiges Standardmerkmal bei Jesus und den frühen Christen (Mt 23,29ff; Apg 7,52; Hebr 11,36ff; Jak 5,10f). Mit den Worten Denn genauso (οὕτως γάρ [houtōs gar]) stellt Jesus eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Israels Propheten und den Jüngern her. Er rückt die Apostel damit auf den Rang der alttestamentlichen Propheten (vgl. Eph 2,20). Zu Leiden und Verfolgung der Propheten vgl. man Mt 21,29ff.37; Apg 7,2ff; Hebr 11,32ff; Jak 5,10f; 1Kön 19,1ff; 2Kön 1,1ff; 1Kön 22,7ff; Jer 19,14ff; 26,20ff; 37,11ff; 43,1ff; Am 7,10ff; Mt 14,6ff. Das Leiden der Jünger bringt sie also in die Gemeinschaft mit den Propheten. Ihr Leiden ist geradezu der Ausweis der Echtheit ihrer Nachfolge. Unausgesprochen dahinter steht: Es bedeutet auch die Gemeinschaft mit dem leidenden Messias, mit der Passion des Erlösers der Welt (vgl. Mt 10,22ff.38; Röm 6,3ff; Phil 3,10; 1Joh 1,6). Matthäus 5,3–12 IV Zusammenfassung 1. Die Seligpreisungen in der Form nach Matthäus sind eines der literarisch prägenden Dokumente der Menschheitsgeschichte. 2. Sie zeigen zusammen mit der Bergpredigt am profiliertesten die Lehre Jesu in seinen Anfängen. 3. Sie sind historisch glaubwürdig alle auf Jesus zurückzuführen. 4. Ihr Charakter ist der einer weitgespannten Einladung an alle Hörer, in die Nachfolge Jesu zu treten. Sie sind werbende Rede, mit ganzem Herzen zu Gott umzukehren und am Reich Gottes teilzunehmen. 5. Ihre Verheißung ist das Reich Gottes am Ende der Geschichte in seinem weitesten Sinne einschließlich der Verheißung, Gott zu schauen. Dabei geht es nicht um eine „Kompensierung der unbefriedigenden Gegenwart“, sondern um die ewige Gemeinschaft mit Gott und den ewigen, seligen Dienst für ihn (vgl. Offb 22,4). Es geht also auch nicht nur um eine Belohnung für die Gerechten (sie ist allerdings mit eingeschlossen), sondern um das unausdenkbare, alle menschlichen Begriffe sprengende Heil in der neuen Welt Gottes. 6. Dieses Heil ist an Jesus als den Messias und Erlöser gebunden (um meinetwillen). Eine Trennung von Berglehre und Berglehrer ist nicht möglich. Schon darin liegt das Grundstürzende einer neuen Zeit. 7. Hier kommen auch ganz typische Prioritäten Jesu zum Ausdruck. Das ist vor allem dort der Fall, wo er die geistlich Bedürftigen und Sehnsüchtigen (V. 3 und 6), die Barmherzigen und die Menschen reines Herzens sowie die Verfolgten V. 7.8.10ff unter seine Verheißung stellt. Nicht, als ob es nicht auch da Grundlagen in der Heiligen Schrift gäbe. Aber dass er hier so konzentriert und so betont spricht, das ist doch seine typisch jesuanische Art. 8. Besonders auffallend sind die achte und die neunte Seligpreisung. Sie sind länger als die andern, sie bewahren in ihrer Doppelung das eine Thema von der Verfolgung, sie weisen direkt auf die Christusnachfolge hin und vollziehen den Wechsel von der 3. zur 2. Person Plural. Ohne Weiteres erkennt man hier ein wichtiges Ziel der Seligpreisungen: die Jünger auf dem Kreuzesweg mitzunehmen und sie auf die kommenden Verfolgungen vorzubereiten. 9. Durchweg beeindrucken die Seligpreisungen durch ihre enge Verbundenheit mit der Heiligen Schrift. Die Psalmen und Jesaja stehen dabei im Vordergrund. Gerade die Psalmenfrömmigkeit, aber auch die prophetischen Schriftlektionen der Synagoge boten für die jüdischen Hörer einen guten Zugang. Umso mehr musste man auf die kommende Schriftauslegung Jesu gespannt sein. Matthäus 5,13–16 3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13–16 Matthäus 5,13–16 II Struktur Der Abschnitt Mt 5,13–16 wird dominiert durch das doppelte Ὑμεῖς ἐστε [Hymeis este] (Ihr seid). Es setzt sich ab von der in V. 3–12 vorherrschenden 3. Person Plural, wobei freilich V. 11–12 einen Übergang bedeutet, aber auch von der 1. Person Singular, die in den Versen 17–20 im Vordergrund steht. Dieses doppelte Ὑμεῖς ἐστε [Hymeis este] verklammert gleichzeitig die Verse 13–16 untereinander. In V. 13–16 liegt also ein Doppelspruch vor, genauer noch ein Doppelgleichnis. Das heißt, Salz und Licht sind von vornherein Bildworte. Jesus hat die Doppelgleichnisse geliebt, sodass Joachim Jeremias festhalten konnte, „daß uns in den drei ersten Evangelien eine große Zahl von Doppelgleichnissen bzw. Doppelbildworten begegnet“. Die Zusammenstellung von Salz und Licht überrascht allerdings. Paare wie „Licht und Heil“ (Ps 27,1), „Licht und Wahrheit“ (Ps 43,4) oder „Licht und Leben“ (Joh 1,4; 8,12) sind uns vertraut. Dagegen scheint die Zusammenstellung von Licht und Salz auf Jesus zurückzugehen. Mt 5,13–16 gibt so etwas wie eine „Bodenhaftung“ zu erkennen. Denn Jesus spricht hier in engem Anschluss an die Lebenswelt der Hörer: Salz, das fade wird, spielt offenbar an auf „Das am Toten Meer gewonnene, mit Gips ua versetzte Salz“, das „leicht einen faden, laugigen Geschmack“ gewann. Die Stadt … auf einem Berge erinnert an die Orte des bergigen Galiläa in einer Höhenlage, die weithin sichtbar sind. Lampe, Scheffel, Leuchter sind wohlbekannte Alltagsgeräte. Die kurzen, einprägsamen Sätze von Mt 5,13–16 enthüllen unter anderem einen pädagogischen Aspekt. David Flusser hat diesen Aspekt mit den Worten festgehalten: „Die Literaturgattung des Doppelgleichnisses trägt in sich das Vermögen, eine Lehre mit Hilfe von zwei parallelen, kurzen Gleichnissen mit verschiedener Thematik zu wiederholen und so die Verkündigung einprägsam und dringlich zu gestalten.“ Er spricht geradezu von einer „Methode“ Jesu. Auch an dieser Stelle erweist es sich demnach als richtig, die Bergpredigt als Lehre Jesu zu verstehen. Matthäus 5,13–16 III Einzelexegese Ihr seid das Salz der Erde (V. 13): Da vorher die Jünger in eine Reihe mit den Propheten gestellt wurden (V. 12), wäre ein unmittelbarer Anschluss der Salz-und Licht-Worte an 5,3–12 durchaus denkbar. Es kann aber auch sein, dass mit V. 13 ein völliger Neueinsatz erfolgt, der eben einen neuen Teil der Berglehre, unabhängig von V. 3–12, eröffnet. Ihr [betontes ὑμεῖς [hymeis]: gerade ihr] kann nur die Jünger von V. 1 meinen. τῆς γῆς [tēs gēs] ließe sich auch übersetzen: „des Landes“ = des Israellandes. Aber die Parallele mit κόσμος [kosmos] in V. 14 und der weite Ansatz in den Seligpreisungen legen die Übersetzung Erde nahe. Doch inwiefern sind die Jünger Salz? Sind sie ein Gott wohlgefälliges Opfer, das der Menschheit Gottes Gnade und Gunst bringt? Mk 9,49 sowie die gottesdienstlichen Vorschriften in Ex 30,35; Lev 2,13 könnten dafürsprechen. Oder sind sie ein Symbol für die Dauer, das sozusagen den Bestand der Erde für eine längere Frist ermöglicht? Dass Abrahams Fürbitte sogar für Sodom und Gomorra akzeptiert wurde (Gen 18,16ff), rückt auch eine solche Deutung in den Bereich des Möglichen. Oder stiften die Jünger eine feste Verbindung Gottes mit seiner Erde, erkennbar zum Beispiel in einer Fortsetzung des Noahbundes (Gen 9; Apg 15,21)? Immerhin stellt Friedrich Hauck fest: das „Genießen … von Salz … stiftet festeste Bündnisse: Num 18,19; 2Chron 13,5.“ Für Mt 5,13 schlug Hauck jedoch eine vierte Deutung vor: Das Salz bedeute hier „den besonderen Wert, der den Jünger innerlich auszeichnet und dessen Verlust ihn alles Wertes berauben würde“. Aber wollte Jesus in Mt 5,13 wirklich vom Wert der Jünger sprechen und nicht vielmehr von ihrem Auftrag? Jedenfalls meint Erde in Mt 5,13 als Parallele zu Kosmos V. 14 und ähnlich wie in Offb 13,3 die Menschheit. Für diese Menschheit wirken die Jünger mit ihren „guten Werken“ (V. 16). Folglich stehen die Schmackhaftigkeit des Salzes und die Gewährleistung der Dauer im Vordergrund. Im Kontext des Evangeliums ist es wohl in erster Linie die Nächstenliebe (vgl. Mt 22,34ff), die die Jünger und ihre Gemeinde für ihre Mitwelt „schmackhaft“ und anziehend macht. Anderen Menschen eine „Dauer“ zu vermitteln, geschieht dann durch ihre Botschaft, die ewiges Leben ermöglicht, und ihre Fürbitte, die noch einmal Gnadenzeit schaffen kann (vgl. Röm 2,4; 2Petr 3,9ff). Bei alledem braucht der Opfergedanke nicht ausgeschlossen zu werden. Denn Nächstenliebe, missionarische Verkündigung und Fürbitte setzen eine hohe Opferbereitschaft voraus (vgl. Mt 5,38ff; 9,13; 10,9ff.16ff.38f; 16,24ff). Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen? Oben unter II. wurde schon auf die Salzgewinnung am Toten Meer hingewiesen, bei der Beimischungen anderer Stoffe auftreten konnten. Dann taugt es in der Tat zu nichts mehr, als dass man es hinauswirft und es von den Menschen zertreten wird. Hinauswerfen (βάλλειν ἔξω [ballein exo]) und zertreten (καταπατεῖν [katapatein]) sind typische Gerichtstermini. Die Hörer der Bergpredigt werden also in eine ernste Verantwortung gestellt.16 Salz der Erde zu sein ist eine wunderbare Aufgabe. Sind sie dafür aber nicht mehr zu gebrauchen – fade geworden –, dann wird sie Gott aus seiner Gemeinde und letzten Endes aus seinem Reich entfernen (vgl. das ἔξω [exo] Offb 22,15). Von den Menschen zertreten hat vermutlich eine besondere Nuance. Es sind ja a) dieselben Menschen (Erde!), denen der Jünger als Salz dienen sollte, und b) kann es besonders schlimm sein, von den Menschen gestraft zu werden. David jedenfalls wollte lieber in die Hand des Herrn, „aber … nicht in Menschenhände fallen“ (1Chron 21,13). Die Möglichkeit besteht, dass Jesus in Mt 5,13 eine profane Lebensweisheit vom „salzlosen Salz“ aufgegriffen hat. Doch bleibt dies eine bloße Vermutung. Viel wichtiger ist der Hinweis von R.V.G. Tasker, dass das Bildwort vom Salz eine fundamentale Differenz von Salz und Gesalzenem voraussetzt: „Its power lies precisely in this difference.“ Wenn die Jünger sich an die Welt angleichen, geht ihre Salzkraft verloren (vgl. Röm 12,1–2). Die Aufgabe der Jünger wird zweitens mit dem Maschal (Bildwort) vom Licht zum Ausdruck gebracht: Ihr seid das Licht der Welt (V. 14). Die beiden Sätze „Ihr seid das Salz der Erde“ und „Ihr seid das Licht der Welt“ sind streng parallel aufgebaut. Welt, κόσμος [kosmos], ist wie die „Erde“ von V. 13 die Menschenwelt. Die Größe des Titels Licht überrascht. Licht der Welt ist ja zunächst der Messias selbst (Joh 8,12; Jes 8,23f; 42,6; 49,6; 60,1f; Mt 4,16). In Qumran heißen die Angehörigen der Gemeinschaft „Söhne des Lichts“, aber nicht „Licht der Welt“ (1QS I, 9; II, 16; III, 13ff). Jesus zeichnet die Jünger also mit einer erstrangigen Würde aus, die man nur so erklären kann, dass er sie in sein messianisches Wirken einbezieht (vgl. Mt 10,7ff.40; Lk 10,16; Joh 15,18ff). Jesus verdeutlicht sofort mit zwei weiteren Bildworten, wie seine Aussage zu verstehen ist. Das erste dieser Bildworte gehört noch zu V. 14: Es kann eine Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Eine Stadt, die auf einem Berge liegt, ist im Israelland keineswegs selten. Jerusalem, Sepphoris (Zippori), Safed, auch Nazareth sind dafür Beispiele. Die betreffende Stadt macht man am Tage leicht aus durch ihre Silhouette, aber auch in der Dämmerung durch ihre Lichter. Verstecken, „vor dem Gesehenwerden schützen“,24 kann man sie nicht. Vielleicht benutzt hier Jesus wieder ein profanes Sprichwort. Was will er damit sagen? Offensichtlich doch dies: Wenn die Jünger ihrem Auftrag treu bleiben, wirklich Licht der Welt sind, dann kann man sie gar nicht übersehen. Dann haben sie eine Ausstrahlung, die bis in die letzten Winkel der Welt dringt. Und dies wird in einem galiläischen „Winkel“ gesagt, um dann tatsächlich bis nach Rom und durch alle fünf Kontinente hindurch seine Wahrheit zu beweisen! Die apostolische Paränese hat in Eph 5,8f; Phil 2,15 unser Bildwort aufgenommen. Eine auffallende Auslegung findet sich in der Pastoralregel von Gregor dem Großen: Wer Tugenden empfangen hat und sich weigert, ein Hirtenamt zu übernehmen, verstößt gegen Mt 5,14f. Das zweite verdeutlichende Bildwort ist das von der Lampe in V. 15: Man zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel. Lampe, λύχνος [lychnos], hebr. נֵר [ner], bezeichnet in der Regel ein Tongefäß, in das Öl eingegossen, über einen Docht angezündet und zur Beleuchtung gebraucht wurde. Kurz: Es ist die allbekannte Öllampe, die man immer noch in ungezählten Exemplaren findet. Sie besaß zwei Öffnungen, eine für den Docht und eine fürs Nachfüllen des Öls. Wie Dieter Kellermann bemerkt, hat man zur Zeit Jesu „die geschlossenen Lampen mit Hilfe von Modeln, z.T. reich verziert, hergestellt“. Zur „Ausstattung eines Gästezimmers“ gehörte schon zur Zeit Elisas „neben Bett, Tisch und Stuhl ein Leuchter, auf dem man eine Lampe befestigen konnte (2Kön 4,10)“. Jesus griff also mitten ins Alltagsleben hinein, um das, was ihn bewegte, zum Ausdruck zu bringen. Der Scheffel, ὁ μόδιος [ho modios], ist eigentlich ein Hohlmaß, mit dem man Getreidemengen abmaß. Es umfasste 16 sextarii nach römischer Einteilung, das sind ca. 8,75 Liter nach heutiger Rechnung. Der Name Scheffel wurde dann auf das Gefäß übertragen, mit dem man das Getreide abmessen konnte. So ist auch hier in Mt 5,15 das Gefäß gemeint. Aber gibt es das überhaupt, dass man eine Lampe unter ein Gefäß setzt? In Ausnahmefällen kann es durchaus der Fall sein, wie Ri 7,16f.20; Josephus Ant V, 223; b Schab 30a u.a. lehren. Jesus konstruiert also keinen abstrusen Vorgang, sondern bleibt in der Erfahrungswelt der Hörer. Aber normal gehört die Lampe eben nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter. Ein Leuchter, λυχνία [lychnia], hebr. מְנוֹרָה [mᵉnōrāh], wurde aus Metall, Keramik oder Holz gefertigt33 und diente als Ständer für die Lampe. Auf diese Weise wurde die Leuchtkraft einer Lampe optimal ausgenutzt. Und so leuchtet sie allen, die im Hause sind: Genau dies ist der Zweck von Lampe und Leuchter. Man vgl. wieder die Prophetenstube von Elisa nach 2Kön 4,10. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Begriffe Licht, Lampe und Leuchter in der alttestamentlichen und jüdischen Tradition alle auch eine geistlich-symbolische Bedeutung haben. Man denke an 2Sam 21,17; 22,29; Hiob 18,5f; 21,17; 29,3; Ps 18,29; 119,5; 132,17; Prov 6,23; 20,27. Insofern fordern schon die Bildworte an sich das existenzielle und geistliche Engagement der Jüngerschaft heraus.36 Evtl. ist bei Haus (οἰκία [oikia]) an ein Haus mit einem einzigen Raum gedacht, „überhaupt an einfache Verhältnisse“. Da in Mk 4,21; Lk 8,16 und Lk 11,33 das Bildwort von der Lampe und vom Leuchter in anderen Zusammenhängen auftaucht, stellt sich die Frage nach dem ursprünglichen historischen Ort und dem ursprünglichen Sinn. Grundlegend ist die Einsicht, dass Bildworte dieser Art durchaus geeignet waren, mehrfach gebraucht zu werden. Sie konnten auch je nach Situation und Bedürfnis einmal mit diesem und einmal mit jenem anderen Bildwort kombiniert werden. Mit Recht bemerkte David Flusser: „Es zeugt von ästhetischer Taubheit, wenn man alle diese unzertrennlichen Doppelgleichnisse als erst nachträgliche Redaktions- bzw. Konstruktionsarbeit abqualifiziert.“39 In knappen Worten fasst Jesus in V. 16 das Resümee der Worte Mt 5,14–15 zusammen: So soll euer Licht (τὸ φῶς ὑμῶν [to phōs hymōn]) leuchten vor den Leuten (ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων [emprosthen tōn anthrōpōn]), dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. So (οὕτως [houtōs]) drückt die „Nutzanwendung“ aus. Dass jetzt von eurem Licht die Rede ist, sollte uns nicht wundern. Denn die Jünger sind das Licht der Welt gerade dadurch, dass sie ihr Licht leuchten lassen. Und zwar in aller Öffentlichkeit. Salz schmeckt man, Licht sieht man. Flusser hat also recht, wenn er bei Mt 5,13–16 eine „antiesoterische Einstellung Jesu“ feststellt. Von allem Anfang an lehnten die Christen jede Geheimlehre ab (vgl. Mt 10,26ff). Was Jesus zu sagen hatte, sagte er „frei und offen vor aller Welt“: „Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, … und habe nichts im Verborgenen geredet“ (Joh 18,20). Wer mit einer Geheimlehre kommt, erregt deshalb bei den Christen Verdacht. Aber Mt 5,16 geht noch weit über die Thematik der Esoterik hinaus. Mt 5,16 sagt nämlich, dass die Christen ihr Christsein und ihren Missionsauftrag nicht einmal im Falle der Verfolgung verbergen sollen. Wohl kann man ihnen die öffentliche Organisation verbieten, aber nicht die guten Werke und nicht die Rechenschaft des Glaubens (1Petr 3,15) und auch nicht das persönliche Zeugnis und die missionarische Verkündigung (vgl. Apg 4,20; 5,29 neben Mt 10,26–39). Der Zusammenhang des 16. Verses erlaubt uns nicht, bei diesen Beobachtungen stehen zu bleiben. „The world will see them“ bedeutet vielmehr zugleich, dass die Welt durch die Existenz der Jünger das Evangelium erkennt, ja sogar Jesus selbst kennenlernt. Im Leuchten des Lichts vor den Leuten liegt also auch eine missionarische Dimension.43 Gerade diese missionarische Dimension wird jetzt am Ende von V. 16 präzisiert. Zunächst: Erde (V. 13), Welt (V. 14) und die Leute (ἄνθρωποι [anthrōpoi], V. 16) bezeugen in der Tat den universalen Horizont der Jesusworte. Davies-Allison haben recht: „The universal mission (28.19) is presupposed.“ Sodann sollen die Menschen eure guten Werke sehen. Erstaunlich, dass Jesus an dieser Stelle nicht sagt: „eure gute Verkündigung hören“, wobei die Verkündigung freilich in die guten Werke eingeschlossen ist. Jedenfalls aber greifen die guten Werke weiter als die Verkündigung, sie bringen das gesamte Verhalten zum Ausdruck. Wir sind hier bei den „maʿasim tobim“ der Rabbinen und der Propheten (Jes 1,17; 29,15; Am 5,4ff; Mi 6,9ff). Man darf hier die spätere, ganz anders gelagerte protestantische Debatte um „Werkgerechtigkeit“ und „Verdienst“ nicht eintragen. Es geht vielmehr um dasjenige Verhalten, das mit dem Willen Gottes übereinstimmt. In diesem Sinn sind unsre guten Werke ein Anliegen des gesamten Neuen Testaments (vgl. Röm 2,10; 12,9ff; Gal 6,9; Phil 2,15; 2Thess 3,13; 2Tim 3,17; Tit 2,14; 1Petr 2,12; 3,11). Aus dem Sehen der guten Werke der Jünger resultiert dann der Lobpreis Gottes: dass sie euren Vater im Himmel preisen. Das Ziel aller Dinge ist bei Jesus also die Doxologie, so wie die Doxologie später bei Paulus und bei der Johannesoffenbarung das Ziel der Geschichte ist (Röm 11,33ff; Offb 19,1ff; 22,4). Jesus hat hier die Theologie der Apostel geprägt. Man kann zum Beispiel mit Fug und Recht vermuten, dass 1Petr 2,12 auf Mt 5,16 zurückgeht. Albrecht Oepke hat den missionarischen Zusammenhang sehr gut herausgearbeitet: „Die Jünger Jesu sollen das durch ihn vom himmlischen Vater empfangene Licht in die Welt hinausleuchten lassen, um Gott zu verherrlichen.“48 Erstmals spricht Jesus hier im Matthäusevangelium vom Vater im Himmel (πατὴρ ἐν τοῖς οὐρανοῖς [patēr en tois ouranois]). Genauer gesagt: Er nennt ihn euer Vater (ὁ πατὴρ ὑμῶν [ho patēr hymōn]) und erklärt damit seine wahren Jünger zu Kindern Gottes. Gottlob Schrenk hat in dem reichhaltigen πατήρ-Artikel des ThWNT49 herausgearbeitet, wie die Redewendung „Vater in den Himmeln“ Gott als den „schlechthin Überlegenen, souverän Waltenden“ und gleichzeitig als den Nahen zum Ausdruck bringt. Sowohl Gottfried Quell als auch Gottlob Schrenk weisen in diesem Artikel darauf hin, dass der Vater in den Himmeln, אָב שֶׁבַּשָּׁמַיִם [ʾāb schäbbaschschāmajīm], häufig bei den Rabbinen zu finden ist, auffallenderweise aber nicht in der Apokalyptik und in den Pseudepigraphen. Für alttestamentliche und frühjüdische Belege, in denen Gott als Vater bezeichnet wird, vgl. 2Sam 7,14f; Dtn 14,1; Jes 1,2; 63,16; 64,7; Jer 3,19; Hos 2,1; 11,1; Sir 23,1; 51,10 (14). Man kann also die Redewendung und euren Vater im Himmel preisen aus der alttestamentlichbiblischen und aus der jüdisch-synagogalen Tradition bestens verstehen. Interessant ist, dass diese Dimension im Koran fehlt. Die Eröffnungssure nennt zwar eine ganze Anzahl von Namen Allahs, aber der Vater-Name fehlt sowohl hier als auch später. Interessant ist weiter, dass der Talmud in b Schab 116b aus Mt 5,16 zitiert. Mt 5,16 weist keine synoptische Parallele auf. Dennoch sollte man den Vers nicht vorschnell für „redaktionell“ erklären.54 Es kann jedenfalls nicht widerlegt werden, dass er von Jesus stammt. Vgl. insbesondere Joh 15,8. Matthäus 5,13–16 IV Zusammenfassung 1. In Mt 5,13–16 beschreibt Jesus den Auftrag der Jüngerschaft. 2. Es hat seinen tiefen Sinn, wenn bei Matthäus die Worte über den Auftrag den Worten über die Seligpreisungen folgen. Denn sie lassen genauso wie die Seligpreisungen die Herrlichkeit der Jüngerschaft erkennen. Der theologische Indikativ steht sozusagen auch in der Bergpredigt dem theologischen Imperativ („Du sollst“) voran. 3. Auftrag der Jünger ist es, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein. Sie sollen wirken, und sie sollen die Menschen zur Erkenntnis Gottes und seiner Erlösung führen. Mit Recht sieht man darin denselben „Universalismus“ wie im Missionsbefehl Mt 28,18–20. 4. Welche Würde den Jüngern hier beigelegt wird, sieht man daran, dass „Licht der Welt“ zu sein der Auftrag des Messias ist (Jes 42,6; 49,6; Mt 4,16; Joh 8,12). Jesus gibt also den Jüngern Anteil an seinem eigenen Auftrag. Hinter dem unbestimmten Man zündet an steht letztlich Gott selbst. Er, Gott, entzündet also die Jünger, damit sie ihrem Auftrag gerecht werden können. 5. Gleichzeitig darf man nicht übersehen, welch ungeheures Risiko darin liegt, dass die Jünger auf diese Weise in die Öffentlichkeit der Welt gesandt werden. Sie können dieses Risiko, das sich z.B. in den Verfolgungen dokumentiert, nur im Vertrauen auf sich nehmen. An dieser Stelle sei aus dem Matthäuskommentar des Johannes Chrysostomus zitiert: „Ich sage nicht: Verlasse die Stadt und gib alle gesellschaftlichen Verbindungen auf! Nein, bleibe darin und übe die Tugend da! Ich möchte lieber, dass jene in Tugend erglänzen, die mitten in den Städten wohnen, als jene, die sich in die Berge zurückgezogen haben. Warum? Weil daraus ein gewaltiger Nutzen entstünde. Denn niemand zündet ein Licht an und stellt es unter den Scheffel.“ 6. Der synoptische Vergleich zeigt, dass eine genauere Parallele zu Mt 5,13–16 in der lukanischen „Feldpredigt“ fehlt. Dafür tauchen ähnliche Worte in Mk 4,21; 9,49f; Lk 8,16; 11,33; 14,34f und Joh 8,12 auf. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass Jesus als Lehrer die dafür hervorragend geeigneten Bildworte mehrfach und mit unterschiedlichen Akzentuierungen einsetzte. 7. Die Historizität der Jesusüberlieferung in Mt 5,13–16 ist – wie nicht anders zu erwarten – mehrfach angefochten worden. Bultmann rechnete in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ in V. 13 und 14 mit „Bildungen des Mt“ und betrachtete V. 16 als „seine [= des Mt] Schlußbildung“. Beare bemerkte zu Mt 5,13–16: „The words … can hardly be taken as a record of words spoken by Jesus of Nazareth.“ Die genannten Urteile beruhen jedoch so stark auf subjektiven Erwägungen, dass Ulrich Luz davon Abstand nahm und eine andere Einschätzung bevorzugte: „M.E. spricht nichts dagegen, daß“ die Logien vom Salz und vom Licht „beide auf Jesus zurückgehen“.61 Im Kommentar haben wir an keiner Stelle ernsthaft Anlass gehabt, an der Herkunft dieser Worte von Jesus zu zweifeln. Matthäus 5,17–20 4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17–20 Vorbemerkung: Mt 5,17–20 wird in der modernen protestantischen Auslegung besonders kritisch betrachtet. Für Rudolf Bultmann und seine Schule war Mt 5,17–20 eindeutig „ein Gemeindeprodukt“, hervorgegangen aus den „Gesetzesdebatten der Urgemeinde“,2 worin „die Stellung der konservativen palästinensischen Gemeinde im Gegensatz zu der der hellenistischen“ vertreten wurde. Selbst konservative Forscher wie Peter Stuhlmacher4 sahen in Mt 5,17–20 eine „den Antithesen … nachträglich vorangestellte Sprachgruppe … aus judenchristlicher Perspektive“. Unter den gegenwärtigen Kommentaren erklärt Ulrich Luz klipp und klar zu Mt 5,17: „Es ist verwegen, diesen Spruch auf Jesus zurückzuführen und zum Angelpunkt einer Deutung von Jesu Gesetzesverständnis zu machen.“ Aber ist der Versuch, diese Verse Jesus absprechen zu wollen, nicht noch verwegener? Matthäus 5,17–20 II Struktur Zweifellos bilden die Verse 17–19 eine Einheit. Darüber ist man sich in der Literatur auch weitgehend einig. Schwieriger ist V. 20 zu beurteilen. Während die ältere Literatur des vergangenen Jahrhunderts dazu neigt, V. 20 von 17–19 zu trennen, sieht man jetzt wieder stärker die Argumente, die für die Einheitlichkeit sprechen: die Dreifach-Erwähnung der βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] in V. 19 und 20, die Konkretisierung des διδάσκειν [didaskein] in V. 19 durch die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ in V. 20 und der innere Zusammenhang der δικαιοσύνη [dikaiosynē] von V. 20 mit dem πληρῶσαι [plērōsai] von V. 17. Für Matthäus stellte demnach der Abschnitt V. 17–20 eine Einheit dar. Über die Historizität ist damit allerdings noch nicht entschieden. Unser Abschnitt ist gegen das Vorausgehende klar abgesetzt durch Μὴ νομίσητε [Mē nomisēte]. Ebenso klar ist er vom Folgenden geschieden durch das wiederholte Ἠκούσατε [Ēkousate] in V. 21ff. Durchweg wird die 2. Person Plur. gebraucht: νομίσητε [nomisēte]V.17 – ὑμῖν [hymin]V.18 – ὑμῖν [hymin], ὑμῶν [hymōn], εἰσέλθητε [eiselthēte] V. 20. Das stimmt mit der Ausgangssituation in V. 1f und mit dem Duktus des ganzen Kapitels bestens überein. Matthäus 5,17–20 III Einzelexegese Glaubt nicht (Μὴ νομίσητε [Mē nomisēte]) in V. 17 setzt offenbar voraus, dass an Jesu Schrifttreue Zweifel angemeldet werden. Woher diese stammen, ist schwer zu sagen. Geht Jesus nur von evtl. gedachten Zweifeln aus, die sich im Bewusstsein der Menschen langsam zu formulieren beginnen (vgl. Joh 2,24f)? Sind schon in relativ früher Zeit solche Zweifel an Jesus geäußert worden, der ja nicht in einer rabbinischen Überlieferungskette stand (vgl. Mk 2,18ff.23ff; Joh 3,22ff)? Oder will Jesus nicht doch nur von vornherein falschen Einschätzungen vorbeugen? Wir können es nicht mehr sagen. Nur so viel ist klar: Ein Messias konnte in Israel nicht auftreten, ohne seine Stellung zu Gesetz und Propheten abzuklären. Das war schon im Blick auf Dtn 13,2ff notwendig. Deshalb ist es ein grobes Missverständnis, wenn man Mt 5,17ff in die Zeit der urchristlichen Gemeindedebatten herabdatieren will. … dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen: Auch die „Ich bin gekommen“-Worte standen häufig unter dem Verdacht, sekundäre Gemeindebildungen zu sein. Man betrachtete sie als Reflexion über die in der Vergangenheit liegende Tätigkeit Jesu. Aber diese ἦλθον-Worte [ēlthon]reflektieren nicht die Vergangenheit, sondern deuten die Zukunft vom Standpunkt dessen, der sich von Gott berufen weiß (vgl. Mt 10,34). Deshalb akzeptiert auch die jüngere historisch-kritische Exegese die Möglichkeit, dass die „Ich bin gekommen“-Worte sehr wohl auf Jesus selbst zurückgehen können. Johannes Schneider spricht hier von der „Sendungsgewißheit Jesu“.16 Was also ist sein Auftrag? Er macht ihn fest an Gesetz und Propheten (ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται [ho nomos kai hoi prophētai], hebr. הַתּוֹרָה וְהַנְּבִיאִים [hattōrāh wᵉhannᵉbīʾīm]). Sie bezeichnen die ganze heilige Schrift Israels (vgl. Mt 7,12; 11,13; 22,40; Lk 16,16; 24,44). Nicht, um das Gesetz oder die Propheten [= die heilige Schrift] aufzulösen, ist er gekommen, sondern um zu erfüllen. Sachlich dasselbe lesen wir in Joh 10,35. Für auflösen steht καταλῦσαι [katalysai]. Nach Otto Procksch hat καταλύειν [katalyein] im NT „sehr häufig“ die Bedeutung „zerstören“,20 nach Friedrich Büchsel bedeutet es speziell in Mt 5,17 „aufheben“, „abschaffen“, „außer Kraft setzen“. Jesu Auftrag ist es also gerade nicht, die heilige Schrift aufzuheben oder um ihre Geltung zu bringen. Im Gegenteil: Sein Auftrag ist es, sie zu erfüllen. Dafür steht griech. πληρόω [plēroō], hebr. מלא [mlʾ], mit der Grundbedeutung „bis obenan füllen“, „völlig ausführen“.23 Nun hat allerdings πληρόω [plēroō] verschiedene Nuancen. Im Einzelnen kann man folgende Bedeutungen unterscheiden: 1) Jemand oder etwas mit einem Inhalt erfüllen. Jesus würde dann in Mt 5,17 die Heilige Schrift mit ihrem wahren göttlichen Sinn erfüllen, das heißt auslegen. 2) Ein Versprechen oder eine Verheißung erfüllen. Jesus wäre dann in Person die wahre Erfüllung dessen, was die Heilige Schrift will, ihr Ziel und ihre eschatologische Erfüllung. 3) Etwas vollenden oder zu einem Ganzen werden lassen, was bisher kein Ganzes war. Jesus würde dann den vollen Sinn der Heiligen Schrift ans Licht bringen und ergänzen, was bisher nur in Teilen vorhanden war. 4) Nahe dabei liegt die Bedeutung: etwas Unvollkommenes vollenden. Jesus würde dann die Heilige Schrift durch seine Lehre erst vollkommen machen. 5) „Voll machen“ im Sinne von „zum Abschluss bringen“. Jesus wäre dann auch in Mt 5,17 wie in Röm 10,4 „des Gesetzes Ende“. 6) Eine Forderung erfüllen. Gerhard Delling weist darauf hin, dass diese Bedeutung von πληρόω [plēroō] sich im NT immer auf den Willen Gottes bezieht.25 Alle diese Gesichtspunkte haben in der Auslegungsgeschichte von Mt 5,17 eine Rolle gespielt, wovon die informative Skizze bei Ulrich Luz Zeugnis ablegt. Das gilt sogar für sehr frühe Zeiten, wie das Beispiel des Irenäus (ca. 180 n.Chr.) zeigt. In einer Auslegung von Mt 5,17ff sagt er: Jesus „steht nicht im Gegensatz zum Gesetz … und löst nicht das Gesetz auf, sondern erfüllt es, dehnt es aus, erweitert es“. Dabei darf man die oben 1) bis 6) genannten Bedeutungsmöglichkeiten nicht als strenge Alternativen auffassen. Vielmehr werden in der Auslegungsgeschichte häufig verschiedene Möglichkeiten kombiniert. Eine solche Kombination ist auch für die heutige Auslegung legitim.29 Doch wie lässt sich nun das πληρόω [plēroō] von Mt 5,17 genauer erfassen? Entscheidend ist der Kontext. Der unmittelbar vorausgehende Vers (V. 16) zielte auf die guten Werke. In V. 19 verbindet Jesus λύειν [lyein] mit den ἐντολαί [entolai]. Ebendort fasst er das notwendige Verhalten in die beiden Begriffe tun (ποιεῖν [poiein]) und lehren (διδάσκειν [didaskein]). Von daher gewinnt das πληρῶσαι [plērōsai] von V. 17 einen starken Akzent im Sinne des Erfüllens einer Forderung der Heiligen Schrift (oben Nr. 6). Es ist durchaus möglich, dass der rabbinische Sprachgebrauch mit den aramäischen Begriffen בטל [bthl] (auflösen) und קיים [qjjm] (aufrichten) auf die Formulierungen in Mt 5,17–20 eingewirkt hat. Aber dieser Sprachgebrauch würde doch für Mt 5,17 eher ein ἱστάνειν [histanein] erwarten lassen wie in Röm 3,31 und Hebr 10,9, und weniger ein πληρῶσαι [plērōsai]. So behält Mt 5,17 einen eigenen Sprachcharakter. Zuzugeben ist, dass Mt 5,17–20 einen „verwickelten Zshg.“ [Zusammenhang] aufweist und der präzise Sinn für Mt 5,17 „schwierig“ zu finden ist. Aber die vorrangige Bedeutung von πληρῶσαι [plērōsai] scheint uns doch diejenige zu sein, die Gerhard Delling herausgearbeitet hat, nämlich die ganze Erfüllung des göttlichen Willens durch seinen Gehorsam (vgl. Mt 3,15). Darin sieht er seinen Auftrag. Dieser Auftrag und dieser Anspruch Jesu ist im Grunde ungeheuerlich. Denn die Heilige Schrift selbst sagt ja: „Da ist keiner, der Gutes tut“ (Ps 14,3; 53,2.4). Erfüllt Jesus tatsächlich den Willen Gottes nach der Heiligen Schrift, dann ist er sündlos und ganz anders als alle übrigen Menschen. Er ist ferner in einem sehr speziellen Sinn der vollendete Toralehrer, ein Messias, wie ihn Israel erwartete. Noch die Frau am Jakobsbrunnen ist von dieser Erwartung geprägt: „Wenn Messias (ohne Artikel!) kommt, wird er uns alles verkündigen“ (Joh 4,25). Überhaupt lebte im Judentum der Zeitenwende die Erwartung einer besseren Gesetzeserkenntnis und besseren Gebotserfüllung, so im Buch der Jubiläen, in Qumran mit dem Lehrer der Gerechtigkeit35 und in den Psalmen Salomonis, wo der Messias ein „von Gott gelehrter König“ sein wird. Mt 5,17 ist in der Tat eine Weichenstellung. Denn Mt 5,17 macht es uns unmöglich, Jesus in einem Gegensatz zum AT zu sehen.37 Das Schriftzeugnis blieb für Jesus verbindlich, auch nach seiner Auferstehung (vgl. Mt 9,13; 12,3ff; 19,3ff; 22,29ff.43; Lk 24,44; Joh 5,39ff; 10,35). Mt 5,17 macht es aber auch der Christenheit unmöglich, in einem Gegensatz zur Schrift Entscheidungen zu treffen. Der Begriff „Bibelkritik“ ist eine contradictio in se. Den alttestamentlichen Hintergrund zu Mt 5,17 bilden Dtn 4,2 und 13,1ff. Er ist im ganzen NT bis hin zu Offb 22,18f spürbar. Er verbindet aber auch Christen und Juden aufs Engste, wie man an Josephus Contra Apionem I, 37ff und Pirqe Abot I sehen kann. Auffallend bleibt, dass Jesus nicht sagt: ἀλλὰ ἱστάνειν (ἑστάναι)[alla histanein (hestanai)] – wie Paulus in Röm 3,31 oder der Hebräerbrief in 10,9 – sondern πληρῶσαι [plērōsai]. Man kann diese Wortwahl eigentlich nur so verstehen, dass er seine persönliche Gebotserfüllung und sein praktisches Tun des Willens Gottes zum Ausdruck bringen will.39 Dass auch die Propheten in der Heiligen Schrift auf dem Tun des Willens Gottes bestehen, kann nicht bezweifelt werden (vgl. nur Jes 1,10ff; Jer 7,3; Hos 8,12). Der 18. Vers wird durch ein Denn an V. 17 angeschlossen. Matthäus sah also die beiden Verse in einem engen Zusammenhang. Zum ersten Mal erscheint bei Mt ein amen-Wort. Das amen wird von Lukas mit ἀληθῶς [alēthōs] („Wahrhaftig“) oder ἐπʼ ἀληθείας [ep’ alētheias] (4,25; „wie es Wahrheit ist“) wiedergegeben, bleibt aber im NT meist unübersetzt.42 Es geht zurück auf das hebr. אָמֵן [ʾāmen]. Schlier übersetzt es so: „es steht fest und es gilt“. Normalerweise stand amen als Zustimmung und Bekräftigung am Ende des betreffenden Ausspruchs. Jesus aber stellte sein amen an den Anfang dessen, was er sagte. Dadurch hat er seine folgenden Worte als „sicher und zuverlässig“ gekennzeichnet.45 Heinrich Schlier meinte, im amen sei „die ganze Christologie in nuce enthalten“. Jesus sei hier „der, der sein Wort als ein wahres = festes aufstellt“, und „zugleich der, der sich dazu bekennt und es in seinem Leben festmacht“. Im Verhältnis von V. 18 zu V. 17 bedeutet dies, dass Jesu Wort ebenso zuverlässig ist wie das Wort der Heiligen Schrift. In seiner Bedeutung kommt dieses „Amen“ dem Schwören Gottes im AT gleich – obwohl Gott ein solches Schwören niemals nötig hatte (vgl. Gen 22,16; 26,3; Ex 32,13; Jes 45,23; Am 6,8; Mi 7,20; Ps 110,4). Denn amen, ich sage euch: euch knüpft an 5,1ff an. Jesus wendet sich also an seine Jünger (vgl. V. 20). Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles geschieht: Der schwer umkämpfte Vers enthält eine Reihe von Aussagen und Aspekten. Bis, ἕως [heōs], kann eigentlich nur im Sinne einer zeitlichen Termination verstanden werden. Jesus rechnet also damit, dass der gegenwärtige Himmel und die gegenwärtige Erde, das heißt die gesamte gegenwärtige Schöpfung (Gen 1,1), eines Tages vergehen und sich damit die biblische Prophetie erfüllt (Hiob 14,12; Jes 34,4; 51,6; 65,17; 66,22). Die beliebte Deutung, bis der Himmel und die Erde vergehen sei eben eine populäre Redeform für ein „niemals“, scheidet damit aus. Im Christentum ist dieses Wissen um die Vorläufigkeit der gegenwärtigen Welt über viele Jahrhunderte prägend geblieben. Man denke an Heinrich von Laufenbergs Vers um 1430: „Ade, Welt, Gott gesegne dich! Ich fahr dahin gen Himmelreich“ oder Paul Gerhardts Vers von 1643: „Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem, was ewig steht, und führst uns in des Himmels Haus, wenn uns die Erd entgeht.“51 Die letzten Generationen sind allerdings viel diffuser gestimmt, vgl. EG 432 in V. 3: „Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.“ Solange also die gegenwärtige Schöpfung Bestand hat, besteht auch das Gesetz Gottes fort: Es wird nicht ein einziges Jota oder Häkchen vom Gesetz vergehen. So hat es auch frühchristliche Tradition und Auslegung weitergegeben. Man darf dies aber nicht im pejorativen Sinne missverstehen,53 als ob das Gesetz nur bis zum Weltende gelte, danach aber obsolet sei. Denn 1) hat Gesetz, νόμος [nomos], hier den Sinn vom ganzen Wort Gottes in den Heiligen Schriften Israels, ist also die Kurzfassung von „Gesetz“ und „Propheten“; 2) will Jesus ja gerade betonen, dass im ganzen gegenwärtigen Äon keine Macht in der Lage ist, das Wirken des Wortes Gottes zu verhindern. Über das, was in der Ewigkeit sein wird, spricht er hier dezidiert nicht. Dass Gottes Wort auch im neuen Himmel und auf der neuen Erde seine Geltung behält, sagen im Übrigen Ps 119,89; Jes 40,8; Mt 24,35 deutlich genug. Doch was sind nun Jota und Häkchen? Ersteres, ἰῶτα [iōta], entspricht dem hebräischen Jod, יוֹד [jōd], also dem kleinsten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Häkchen, κεραία [keraia], meint wohl ein „Strichlein am Buchstaben“. Das könnte ein Zierstrich an hebräischen Buchstaben sein.57 Es könnte aber auch die Hälfte des Jod sein. Jesus würde dann sagen: „Es wird nicht der kleinste Buchstabe oder auch nur die Hälfte des kleinsten Buchstabens vergehen, bis alles geschieht.“ Eine weitere Möglichkeit schlagen Blass-Debrunner-Rehkopf nach G. Schwarz vor: Das Häkchen könnte die Übersetzung des hebräischen Buchstabens ו [w], וָו [wāw], sein, „weil es im Griech. keine Bezeichnung für ו [w] (= w) gibt“. Aber dann würde dem kleinsten Buchstaben der größere Buchstabe an die Seite gestellt, was der Aussage Jesu viel von ihrer Spannung nehmen würde. Insgesamt ziehen wir es vor, das Häkchen als die Hälfte des Jod, des kleinsten Buchstabens im hebräischen Alphabet, zu verstehen. Fazit: Nicht einmal der kleinste Buchstabe des Gesetzes oder seine Hälfte wird während der gegenwärtigen Weltzeit außer Kraft gesetzt – am wenigsten von ihm. Dass sich Jesus hier am äußeren Wortbestand der Heiligen Schrift orientiert hat, bleibt ein erstaunliches Faktum. Er scheute sich nicht einmal, vom Buchstaben zu sprechen. Hier wird uns der Wandel der Entwicklung schmerzlich bewusst. Ohne Zweifel wäre Jesus mit dieser Auffassung auch von vielen heutigen konservativen protestantischen Theologen abgelehnt worden. Es ist interessant, dass sich schon Irenäus gegen valentinianische Ausleger wehren musste, die die Buchstaben von Mt 5,18 ins Allegorische zogen. Hinzu kommt für viele Ausleger ein weiteres, spezielles Problem: Wie konnte ein Jesus, der die „Gesetzesfreiheit“ predigte, so sprechen wie in Mt 5,18? Wir müssen am Ende der Verse 19 und 20 darauf zurückkommen. Bis dahin hat V. 18 schon Entscheidendes gesagt. Aber Jesus fügt noch eine weitere Bemerkung an: bis alles geschieht (ἕως ἂν πάντα γένηται [heōs an panta genētai]). Die Wortwahl ist auffallend. Jesus sagt ja nicht ἕως ἂν πάντα πληρωθῇ [heōs an panta plērōthē] („bis sich alles erfüllt“) oder „bis alles vollendet wird“ oder „bis alle Wahrheit erkannt wird“. Zwar meinte Friedrich Büchsel in seinem Artikel über γίνομαι: „Ein religiöses oder theologisches Interesse haftet im NT an γίνεσθαι in der Regel nicht.“ Aber dass γίνεσθαι [ginesthai] in Mt 5,18 einen dezidiert theologischen Charakter hat, kann man schwer bestreiten. Doch worin besteht er? Bauer-Aland bieten die Übersetzung an: „bis alles eingetreten (= vorbei) ist“. Damit wird der temporale Gesichtspunkt betont: Irgendwann hat sich alles in der Heiligen Schrift Niedergelegte ereignet und folglich erledigt. Doch macht diese Vorstellung einige Mühe. Enthält die Heilige Schrift nicht auch „Worte des ewigen Lebens“ (vgl. Joh 6,68)? Und gilt nicht Ps 119,89: „Herr, dein Wort bleibt auf ewig?“ So wird man sich mit einer Interpretation des „vorbei“ nicht begnügen können. Wie bewusst Jesus hier formuliert, ergibt sich übrigens auch aus dem Vergleich mit Mt 24,34 / Mk 13,30 / Lk 21,32. Näher an das Gemeinte kommt man, wenn man die Aussagen über die Dynamik des Wortes betrachtet. Das Wort des HERRN „geschieht“ (1Sam 15,19; Jer 1,2), es „wächst“ und „wird mächtig“ (Apg 19,20), es „läuft“ (2Thess 3,1), es gleicht dem Samen und bringt Frucht (Mt 13,8ff) und lässt sich mit dem Sauerteig vergleichen (Mt 13,33). Die Aussage es geschieht erinnert besonders an Jes 55,10–11: „gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“ Wie ein Bote, wie ein Agent und Bevollmächtigter Gottes handelt hier das Wort in der Geschichte und setzt in Ereignisse um, was er will. Noch kürzer formuliert: Es sorgt dafür, dass Gottes Wille geschieht. Eine solche dynamische Auffassung ist auch für Mt 5,18 prägend. Bis alles geschieht hat also den Sinn: „bis alles bewirkt wird, was Gott will“. Hier sind alle Bereiche des Wortes Gottes eingeschlossen: die nur temporären wie die auf das Ewige ziehenden; die nur lokal bzw. nur auf Israel bezogenen Aussagen wie die universalen und der ganzen Völkerwelt geltenden; die prophetischen Aussagen wie die Gesetzesvorschriften. Hier nur einen Bereich, z.B. Prophetie oder Sittengesetz, herausnehmen zu wollen, ergibt keinen Sinn:68 alles, sagt Jesus, geschieht, weil das Wort der Heiligen Schrift eine solche Kraft hat. Ebenso wenig will er, wenn er den dynamischen Aspekt der Schrift betont, freilich die anderen Aspekte, wie beispielsweise den doxologischen oder weisheitlichen, ausschließen. Es gibt aber zu denken und bleibt eine Herausforderung für die christliche Theologie, dass Jesus gerade den dynamischen Charakter des Wortes Gottes betont. In V. 19 zieht Jesus daraus eine wichtige Konsequenz (οὖν [oun] ist „folgernde Konjunktion“) für die Jünger: Wer nun ein einziges (oder: auch nur ein einziges) dieser geringsten Gebote auflöst und dementsprechend die Menschen lehrt, wird im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Auflöst (λύσῃ [lysē]) greift auf den Sprachgebrauch von V. 17, καταλῦσαι [katalysai], zurück – ein Zeichen dafür, dass unsere Spruchgruppe von Anfang an zusammengehörte. Auflösen heißt „außer Kraft setzen“, „abschaffen“. Der Unterschied, ob man nur theoretisch bzw. denkerisch auflöst oder das betreffende Gebot auch praktisch missachtet, spielt hier keine Rolle. Doch was sind diese geringsten Gebote (αἱ ἐντολαὶ αὕται αἱ ἐλάχισται [hai entolai hautai hai elachistai])? Zunächst weist das Demonstrativpronomen (diese) zurück auf V. 18. Damit ist klargestellt, dass es um die geringsten Gebote im Gesetz geht. Gemeint sind also keinesfalls die Gebote, die Jesus selbst gibt. Andererseits hat Jesus sehr wohl „die gewichtigeren Bestimmungen des Gesetzes (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου [ta barytera tou nomou])“ unterschieden von den weniger gewichtigen (Mt 23,23). So verfuhren auch die Rabbinen. Von da aus möchte man gerne die geringsten Gebote verstehen als die nach Umfang oder (besser) Bedeutung geringsten. Allerdings herrscht in der Literatur darüber keine Einigkeit. Unter den jüngeren Beispielen greifen wir Rainer Riesner heraus, der sich sehr sorgfältig mit Mt 5,19 beschäftigt hat. In Anlehnung an E. Lohmeyer und R. Banks will er diese geringsten Gebote „als Bezeichnung für die Weisungen Jesu“ verstehen. Damit ließen sich „die Echtheitszweifel“ an Mt 5,19 überwinden. Begründung: ἐλάχιστος [elachistos] und μικρός [mikros] beziehen sich in Mt 10,42; 18,6ff; 25,40ff auf die Jünger, folglich würden sich auch ἐλάχισται ἐντολαί [elachistai entolai] auf die Gebote Jesu beziehen. Aber ist dies zwingend? Außerdem muss Riesner das Demonstrativpronomen τούτων [toutōn] „als Pleonasmus erklären“, was wiederum keine sehr naheliegende Erklärung ist. Deshalb ziehen wir die enge Verbindung der geringsten Gebote mit dem Jota und dem Häkchen in V. 18 vor. Es handelt sich demnach wirklich um die Gesetzesbestimmungen, die im Verbund der Heiligen Schrift weniger wiegen als andere, also zum Beispiel diejenigen über Minze, Dill und Kümmel (Mt 23,23). Und dementsprechend (οὕτως [houtōs]) die Menschen lehrt: Jesus konzentriert sich jetzt auf das lehren (διδάσκειν [didaskein]). Er fasst hier die Jünger als künftige Lehrer in den Blick (vgl. Mt 23,34; 28,20). Die Verantwortung der Lehrer als Wegweiser zum Himmelreich ist außerordentlich groß (vgl. Mt 15,9; 23,10; Jak 3,10ff). Interessanterweise spricht Jesus davon, dass seine Jünger die Menschen (τοὺς ἀνθρώπους [tous anthrōpous]) lehren werden: also nicht nur ihre jüdischen Volksgenossen, nicht nur Israel, sondern die ganze Welt! Vgl. wieder Mt 28,18–20. Wer so handelt, wird im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Auf diese Weise macht Jesus klar, dass er auf kein einziges Gebot der Heiligen Schrift Israels, und sei es das geringste, verzichten will. Er schätzt, liebt und praktiziert sie alle, auch wenn er sie verschieden gewichtet. Die Frage Jesu in Joh 8,46: „Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?“, wäre völlig unmöglich gewesen, wenn er auch nur ein einziges Gebot abgeschafft hätte. Schniewind hat Beispiele seiner Gesetzestreue in beeindruckender Weise zusammengestellt: „er trägt sogar Quasten an seinem Gewand … Er schickt den geheilten Aussätzigen zum Priester (Mk 1,44 par), er verweist den reichen Jüngling auf die Gebote (Mt 19,17ff par; vgl. Lk 16,19–31)“, er will den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel eingehalten wissen (Mt 23,23). Wer ein einziges Gebot abschaffen will, wird also im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Was heißt das genau? Ist es der Ausschluss aus dem Reich Gottes? Oder eine niedere Stufe im Reich Gottes? Beide Erklärungen werden in der Literatur vertreten. Wir gehen davon aus, dass Jesu Formulierungen immer wieder erstaunlich präzise sind. Sollte er jetzt von dieser Präzision abrücken, wo es um die Genauigkeit der Gesetzes- und Schrifttreue geht? Wer im Reich Gottes der Geringste genannt wird, der befindet sich offenbar immer noch im Reich Gottes, der ist nicht ausgeschlossen. Voraussetzung dafür ist, dass es im Reich Gottes Stufen gibt. Aber gerade solche Stufen lehrte Jesus (Mt 5,21ff; 11,11; 18,1ff; Mk 10,40; Lk 12,47f; 19,17–19). Auch Paulus geht von solchen Stufen aus (vgl. 1Kor 3,12ff; 2Kor 5,10), ebenso die frühchristliche Tradition. Wir nehmen also an, dass die Verfehlung der Lehrer von Mt 5,19 zwar ein strenges Gericht nach sich zieht, aber doch für sich allein genommen noch nicht den Ausschluss aus dem Reich Gottes bedeutet. Man denke an das Wort des Paulus von dem Menschen, dessen ganzes Werk untauglich ist, der aber dennoch gerettet wird (1Kor 3,15). Wer es aber tut und lehrt, der wird im Reich Gottes groß genannt werden (μέγας κληθήσεται [megas klēthēsetai]): Hier, wo es um die wahre Größe im Reich Gottes geht, begnügt sich Jesus nicht mehr mit dem Stichwort lehren. Er benutzt die beiden Begriffe tun (ποιεῖν [poiein]) und lehren (διδάσκειν [didaskein]), um denjenigen zu kennzeichnen, der auch das allergeringste Gebot noch praktiziert und aufrechterhält. Eine Abkoppelung des persönlichen Verhaltens von der Professionalität oder Theoriebildung des Lehrers ist für Jesus undenkbar. Vielmehr gilt der Grundsatz der Integrität und Ganzheitlichkeit. Im positiven Fall des Tuns und Lehrens wird die Belohnung wie in Dan 12,3 und Mt 13,43 groß sein: der Betreffende wird im Reich Gottes groß (oder: ein Großer) genannt werden. Von Großen im Reich Gottes sprach Jesus öfter. (Mt 5,19; 11,11; 18,1.4; 20,26; 23,11). Offensichtlich wollte er hier einen missionarischen Anreiz geben. Im Sprachgebrauch schließt er sich dabei an die Rabbinen an.87 Aber nun ist ebenso offensichtlich, dass der Begriff groß ein offener Begriff ist, der mehrere konkrete Möglichkeiten enthalten kann (vgl. Lk 9,48). Nur so viel können wir sagen: ein Großer im Reich Gottes ist ein „Ehrenname“. Vielleicht liegt hier auch ein gewisses Wortspiel vor. Denn aramäisch dient רַב [rab] = „großer“ zur Bezeichnung eines Lehrers. Gemeint wäre dann, dass der Betreffende im Reich Gottes wahrhaft „ein Lehrer genannt wird“. Im letzten Vers unserer Spruchgruppe (V. 20) zieht Jesus erneut eine Konsequenz (vgl. das Denn) aus dem in V. 17 und 18 Gesagten: Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei Weitem übertrifft, werdet ihr nicht in das Reich Gottes hineinkommen. Angeredet sind wie im ganzen Abschnitt die Jünger (V. 1ff; euch – eure – ihr). Zunächst irritiert der Begriff der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [dikaiosyne]). Dieser Begriff hat in der Bibel bekanntlich eine ganze Reihe von Aspekten. Man wird ihn in Mt 5,20 vor allem von Mt 3,15 und 5,6 her verstehen müssen. Dann ergibt sich als Grundsinn für Gerechtigkeit „das mit Gottes Willen übereinstimmende … Verhalten des Menschen“. Nach dem Zusammenhang geht es dabei konkret um die Übereinstimmung mit Gott im Tun und Lehren (vgl. V. 19). Gerade um dieses Zusammenhangs willen erwähnt Jesus wohl die Schriftgelehrten neben den Pharisäern. Die Geschichte der Pharisäer gehört zu den am meisten untersuchten Themen des NT. Josephus nennt für das erste nachchristliche Jahrhundert drei wesentliche jüdische Religionsrichtungen: die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener.92 Seine Beschreibung trifft historisch vor allem in zwei Punkten zu: 1) Die Pharisäer sind zu Jesu Zeit die „erste“ und wichtigste Religionspartei (ἡ πρώτη αἵρεσις [hē prōtē hairesis]); 2) sie gelten als gewissenhafte Gesetzesausleger (οἱ μετὰ ἀκριβεῖας δοκοῦντες ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα [hoi meta akribeias dokountes exēgeisthai ta nomima]). Noch heute legt der Talmud-Traktat Pirqe Abot („Sprüche der Väter“) Zeugnis ab von dieser intensiven Beschäftigung mit der Heiligen Schrift. Die in Mt 5,20 genannten γραμματεῖς [grammateis] (Schriftgelehrten) sind wahrscheinlich in erster Linie pharisäische Schriftgelehrte. Wenn Jesus jetzt von der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer spricht, dann gebraucht er den höchsten Maßstab. Das ist zunächst ein Zeichen seiner Hochachtung. Es ist dieselbe Hochachtung, der wir auch an anderen Stellen des Matthäusevangeliums (9,18ff; 23,1ff) und überhaupt in den Evangelien begegnen (Mk 12,34; Lk 10,28; 18,18ff; Joh 3,1ff). Wir müssen annehmen, dass Jesus aufgrund seiner Erziehung in der Synagoge den Pharisäern besonders nahegestanden hat (vgl. Lk 2,41ff; 4,16). Umso schärfer ist sein Urteil in Mt 5,20: Wenn die Gerechtigkeit = die Erfüllung des Willens Gottes bei den Jüngern nicht die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer bei Weitem übertrifft, werden sie nicht in das Reich Gottes hineinkommen. Ihre Gerechtigkeit muss einer ganz anderen Kategorie angehören. Denn das πλεῖον περισσεύειν [pleion perisseuein] – eine Parechese und eine Paronomasie –, das bei Weitem übertreffen, enthält eine doppelte Steigerung: ein mehr gegenüber den Pharisäern und ein Überschießen95 zugleich. Die Aussage Jesu ist auch deshalb so hart, weil nicht von einer niedrigen Stufe im Reich Gottes (Geringster o.ä.) die Rede ist, sondern tatsächlich von einem Ausschluss: werdet ihr nicht hineinkommen. Mit dieser Zuspitzung beendet Jesus seine Worte für den Augenblick. Bis heute bleibt der Hörer nachdenklich zurück. Wie soll der Mensch die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer übertreffen? Menschlich ist das unmöglich. Aber wenn Jesus ein Ziel benennt, dann will er es doch mit seinen Jüngern erreichen! Es deutet sich schon an, dass die bessere Gerechtigkeit nur aus der Verbindung mit ihm kommen kann. Es wird der Weg des Evangeliums, der Erlösung sein. Es ist also letztlich das Kreuz Jesu Christi, zu dem uns die Bergpredigt führt. Johannes Chrysostomus hat hier einen sehr wesentlichen Punkt getroffen, wenn er auf die Frage, wie es zu der größeren Tugend von Mt 5,20 kommt, die Antwort gibt: „Weil jetzt die mächtige Gnade des Heiligen Geistes ausgegossen ist.“ Matthäus 5,17–20 IV Zusammenfassung 1. In Mt 5,17–20 klärt Jesus als Messias seine grundsätzliche Stellung zum alttestamentlichen Gesetz, ja zur Heiligen Schrift überhaupt. Eine solche Grundsatzerklärung war für jemand, der als Messias auftrat, unabdingbar. 2. Jesus bekräftigt, dass er die Heilige Schrift bis hin zum kleinsten Buchstaben, ja bis zur Hälfte des kleinsten Buchstabens, anerkennt und für gültig betrachtet. Er unterstreicht die Kraft des göttlichen Wortes, alles zu bewirken, was Gott mit ihm vorhat. 3. Die Forderung einer Gerechtigkeit, die diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, ist für uns menschlich unerfüllbar. Sie setzt die neuen, besonderen Kräfte des Reiches Gottes voraus. Deren Zustrom aber ist wiederum gebunden an die Erlösung von unserer Schuld. So führt uns die Bergpredigt letztlich zum Kreuz. 4. Angesichts von Mt 5,17–20 kann man die Gesetzesauslegung Jesu in Mt 5,21ff nicht mehr mit dem Namen „Antithesen“ benennen. Denn Jesus widerspricht hier nicht dem Gesetz, sondern er bringt es in seiner ganzen Fülle zur Geltung. Um diese (richtige) Sicht haben schon die Christen des 2. Jahrhunderts gekämpft. Irenäus schrieb um 180 n.Chr.: „nicht Aufhebung oder Auflösung“ des Gesetzes sei von Jesus beabsichtigt, „sondern die Erfüllung und Ausdehnung“. Der Begriff „Antithesen“ hat in der Kirchengeschichte immer wieder dazu geführt, Jesus und seine Kirche in einen Gegensatz zum Alten Testament und zum göttlichen Gesetz überhaupt zu bringen. 5. Gelegentlich nennt man die Zusammenstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 5,20 stereotyp und leitet daraus einen Mangel an Historizität bei Matthäus ab. Ein solcher Vorwurf ist aber unberechtigt. Die Auslegung zeigt, dass die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten damals das Höchstmaß an Schriftgenauigkeit verkörperten und ihre Zusammenstellung in Mt 5,20 auch historisch durchaus berechtigt ist. 6. Heiß umstritten ist die Frage, ob das in Mt 5,17–20 Niedergeschriebene jemals vom historischen Jesus gesprochen wurde oder nicht vielmehr auf Matthäus und seine Redaktion zurückgeht. Rudolf Bultmann stufte die Verse als „Christliche“ oder „Redaktionelle Bildungen“ ein, entstanden in den Debatten der palästinensischen „mit der hellenistischen Gemeinde“, wobei Matthäus „sie unbefangen Jesus selbst in den Mund legt“. Im Wesentlichen folgt ihm Ulrich Luz, allerdings mit einem gehörigen Schuss Skepsis: „Die Überlieferungsverhältnisse sind hoffnungslos undurchsichtig.“100 Auch Peter Fiedler steht in dieser Traditionslinie, öfter mit Vorwürfen gegen Matthäus, dass dieser mit „Unterstellungen“ arbeite und vor „Polemik“ nicht zurückschrecke. Ihnen gegenüber steht eine Reihe von Forschern, die in Mt 5,1–20 mit echten Herrenworten rechnen, unter anderen Carson, Flusser,103 Schniewind und Wilckens105. Etwas vorsichtiger äußern sich Riesner und Davies-Allison107, wobei Letztere immerhin einen historischen jesuanischen Kern annehmen. Entscheidend sind für uns die Beobachtungen, dass Mt 5,17–20 mit den anderen Worten und dem Verhalten Jesu in Übereinstimmung steht und dass eine solche Grundsatzaussage Jesu nicht einfach „freihändig“ von einem Evangelisten gebildet werden konnte. An keiner Stelle lässt sich ernsthaft begründen, dass diese Worte nicht von Jesus stammen könnten. So gehen wir von ihrer Historizität aus. Matthäus 5,21–48 5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21–48 Matthäus 5,21–48 II Struktur Den Abschnitt 5,21–48 hat Matthäus offenbar besonders sorgfältig zusammengestellt. Als Sondergut des Matthäus kann man dabei nur Mt 5,33–37 bezeichnen, wobei allerdings Jak 5,12 eine sehr enge Parallele darstellt. Alle übrigen Teile von Mt 5,21–48 weisen mehr oder minder starke Parallelen bei Markus und Lukas auf. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir es bei Mt 5,21–48 mit in der Urchristenheit weit verbreiteten Lehrstoffen zu tun haben. Noch einmal sei auf die besondere Nähe des Jakobusbriefes zur Bergpredigt bei Mt hingewiesen, die ich in meinem Kommentar zum Jakobusbrief detaillierter nachzuzeichnen versuchte. Das Gerüst des Abschnitts bilden die sechsfach wiederholten Aussagen Ihr habt gehört, dass gesagt wurde – Ich aber sage euch (V. 21f.27f.31f.33f. 38f.43f, mit jeweils leichten Modifizierungen). Solche Wiederholungen erleichtern das Memorieren. Dass die Formulierung Ich aber sage euch im Rahmen der Berglehre tatsächlich jesuanischen Stil wiedergibt, zeigen Lk 6,27 und 12,59. Hinter dem Gerüst der Ich aber sage euch-Aussagen erhebt sich ein zweites inhaltliches Gerüst. Das ist die Anlehnung an den Dekalog (V. 21.27) und Levitikus 19 (V. 33.43) neben anderen Aussagen der Tora (V. 31.38). Man kann daraus schon mit einer gewissen Vorsicht schließen, dass für den Lehrer Jesus der Dekalog und das Heiligkeitsgesetz des Buches Levitikus einen zentralen Platz einnahmen. Für die Struktur des Abschnitts ist weiter die eschatologische Prägung wesentlich. Sie wird signalisiert durch Begriffe wie Gericht (κρίσις [krisis]), Feuerhölle (γέεννα τοῦ πυρός [geenna tou pyros]), Gefängnis (φυλακή [phylakē]), Richter (κριτής [kritēs]), verloren gehen (ἀπόλλυμι [apollymi]) oder Lohn (μισθός [misthos]). Ohne den eschatologischen Bezug wäre die Rede Jesu überhaupt nicht verständlich. Schließlich greift Mt 5,21–48 das Thema von eurem Vater im Himmel aus V. 16 wieder auf (V. 45.48; vgl. auch V. 9), ja, es führt gezielt auf die Gotteskindschaft hin (V. 45 und besonders V. 48). So ist Mt 5,21–48 trotz vieler Wiederholungen in der Wortwahl ein spannungsvoller und inhaltlich facettenreicher Abschnitt. Ein Problem besonderer Art, das aber über die Struktur-Ebene hinausführt, stellt sich durch die Frage nach der Überschrift zu Mt 5,21–48. Passt die Überschrift „Antithesen“, die bis heute viele Ausleger verwenden? Wer freilich Jesus nicht gegen das Gesetz argumentieren sieht, der kann nicht gut von Antithesen sprechen. Deshalb gibt es eine ganze Reihe anderer Überschriften: „Alte und neue Tora“, „Contrasts“,8 „The Great Instruction“, „Examples of True and False Righteousness“,10 „Die neue Gerechtigkeit“, „Examples of Jesus’ radical ethic“,12 „Die Bergpredigt als Beispiel des Lehrens Jesu“ usw. Wir beließen es jedoch bei der einfachen Überschrift „Die Gesetzesauslegung Jesu“.14 Aus dem Gleichklang der Eingangsformeln in V. 21 und V. 33 schloss man, dass dadurch zwei Dreiergruppen (V. 21–32 und V. 33–48) gebildet würden. Diese Beobachtung bleibt jedoch rein formal und trägt inhaltlich nichts aus. Matthäus 5,21–26 1. Die Auslegung des sechsten Gebotes, 5,21–26 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde (V. 21): Die Alten (ἀρχαῖοι [archaioi]) sind die früheren Israeliten, „the people of old“, vor allem die Generation der Gesetzesempfänger am Sinai (Ex 19–24). Wenn Albright-Mann den Ausdruck weit fassen und allgemein von „prerabbinic stage“ sprechen, verschieben sie den Akzent. Im Unterschied zu παλαιός [palaios] hat ἀρχαῖος [archaios] nämlich den Charakter des weit Zurückliegenden, des Ehrwürdigen und Ursprünglichen, und entspricht damit dem hebr. קֶדֶם [qädäm] (vgl. Lk 9,8; Apg 15,21; Offb 12,9; 20,2). Vermutlich wollte Jesus durch das ἀρχαῖοι [archaioi] gerade das Ehrwürdige der israelitischen Gesetzgebung zum Ausdruck bringen. Im Übrigen kann τοῖς ἀρχαίοις [tois archaiois] auf zweifache Weise übersetzt werden. Entweder heißt es zu den Alten oder „von den Alten“. Die Parallele zu dem Ich aber sage euch in V. 22 lässt uns die erstgenannte Möglichkeit vorziehen. So stehen sich also gegenüber: Vom früheren Autor wurde zu den Alten gesagt – vom jetzigen Autor (Jesus) wird zu den Menschen der Gegenwart gesagt. Aber wer ist der frühere Autor? Handelt es sich bei ἐρρέθη [errethē] um ein Passivum divinum? Eine Reihe von Auslegern bejaht diese Frage und betrachtet demgemäß Gott als den Redenden. Man kann aber auch an Mose als den Redenden denken.22 Eine dritte Möglichkeit ist die Deutung auf die Rabbinen ganz allgemein, die zum Beispiel von Zahn vertreten wird. Aber eine solche Deutung auf die Rabbinen lässt sich nur durchführen, wenn man die Alten in Abweichung vom üblichen Sinngehalt auf alle voraufgehenden Generationen, ja sogar noch auf die gegenwärtige Generation erstreckt. Am ehesten leuchtet die Deutung auf Mose ein. Sie lässt sich durch den matthäischen Sprachgebrauch an anderen Stellen stützen (vgl. Mt 8,4; 19,7f; 22,24; 23,2). Vor allem aber entgeht sie der Schwierigkeit, dass Jesus dem Wort des Vaters sein eigenes gegenübergestellt haben soll. Im Vorgriff auf die folgenden Erläuterungen müssen wir das es wurde gesagt noch genauer umschreiben: Es handelt sich um das, was „von Mose im Auftrag Gottes zu den Alten gesagt wurde“. Die Formel Ihr habt gehört (Ἠκούσατε [Ēkousate]) bedarf ebenfalls der Erklärung. Ihr sind wie sonst in Mt 5,1ff die Jünger. Wo haben sie die Gebote gehört? In der Synagoge, im Gottesdienst, im Tempel, von den Eltern. Das Hören schließt das Lernen ein.28 Nun wird in V. 21 das sechste (bei Luther das fünfte) Gebot aus dem Dekalog zitiert: Du sollst nicht töten. In der Formulierung οὐ φονεύσεις [ou phoneuseis] (Indikativ Futur) spiegelt sich die Gesetzessprache des AT.29 οὐ φονεύσεις [ou phoneuseis] steht wörtlich auch in LXX Ex 20,13; Dtn 5,17. Vom Hebräischen her ist es klar, dass die genauere Übersetzung „Du sollst nicht morden“ lauten muss. Denn ein von der Rechtsordnung erlaubtes Töten in der Strafjustiz oder im Krieg wird natürlich durch dieses Gebot nicht ausgeschlossen. Jesus fügt an: wer aber tötet (mordet), soll dem Gericht verfallen. Gericht (κρίσις [krisis]) ist hier das lokale Strafgericht. Diese Zufügung Jesu gehört nicht mehr zu den Zehn Geboten, findet sich jedoch inhaltlich ebenfalls im Mosegesetz (Ex 21,12; Lev 24,17; Num 35,16ff; Dtn 17,8). Es ist verständlich, dass Jesus mit den Zehn Geboten beginnt. Aber warum gerade mit dem sechsten Gebot? Vielleicht ist es doch so, dass Jesus die Gebote der zweiten Gesetzestafel als die leichteren betrachtete (vgl. Mt 19,18ff) und deshalb bewusst bei den leichteren Geboten anfing, um von dort zu den schwereren, nämlich den Geboten der Gottes- und der Menschenliebe, zu kommen (vgl. Mt 5,43; 6,34; 19,21; 22,34ff). Gerade beim sechsten Gebot, das die Juden allgemein zu halten glaubten (Röm 2,21ff), konnte er die bessere Gerechtigkeit lehren. V. 22 bringt das erste Ich aber sage euch: Dieses Ich aber hat die Ausleger aller Zeiten herausgefordert. Peter Fiedler möchte das δέ [de] – zugegebenermaßen gegen den „üblichen“ Sprachgebrauch – nicht als Gegensatz, nicht als aber verstehen, sondern als weiterführendes nun. Grammatisch ist dies möglich.34 Aber er tritt damit nicht nur in einen Gegensatz zur altchristlichen Exegese eines Irenäus, sondern er zerbricht auch die Parallelität der Versanfänge in V. 21 und V. 22. ἐγώ [egō] (Ich) ist die (Gegensatz-)Parallele zum Subjekt des „es wurde gesagt“, euch steht in Parallele zu den Alten, λέγω [legō] mit seinem Präsens in Parallele zur Vergangenheitsform ἐρρέθη [errethē]. Es liegt daher näher, mit Blass-Debrunner-Rehkopf und anderen37 an dem adversativen Charakter des δέ [de], also an dem aber, festzuhalten. Während das unbestimmte Passiv ἐρρέθη [errethē] im Stile der Pirqe Abot auch die nachfolgende Tradentenkette einschließen kann, hat das ἐγώ [egō] (Ich) einen exklusiven Charakter. Nur er, Jesus, kann das Folgende sagen. Dabei sind mehrere Dimensionen eingeschlossen: Er ist der „rechte Lehrer“ (vgl. Mt 22,16) und „der rechte Gesetzesausleger“, er ist der „sole authoritative interpreter“ des AT, vor allem aber der Messias, der „in der Macht seines Wortes“41 sprechen kann. Angesichts der heutigen Diskussion sind zwei entscheidende Gesichtspunkte hervorzuheben. Den ersten hat besonders Don A. Carson betont: Jesus ist hier nicht mit innerhalachischen oder innerrabbinischen Diskussionen befasst, sondern mit dem Anbruch der messianischen Zeit und mit der Frage, wie jetzt die Heiligen Schriften Israels fortgelten. Den zweiten Gesichtspunkt hat schon 1935 Ethelbert Stauffer in aller Deutlichkeit herausgearbeitet: Es geht Jesus um die eschatologische Erfüllung der Schrift. Um Stauffer zu zitieren: „Dies λέγω ὑμῖν schließt eine Epoche ab in der Geschichte der Religion und Ethik, es schafft eine neue Situation.“ Es genügt daher nicht, nach Übereinstimmungen mit den damaligen Rabbinen zu forschen, so sinnvoll dies auch in Einzelfragen ist. Vielmehr muss das christologische Vorzeichen der Bergpredigt beachtet werden, das uns in Mt 1–4 vorliegt. Doch nun zum Inhalt der Aussage Jesu: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen. Jesus geht hier zurück zum Ausgangspunkt des Mordens. „Morden“ ist nicht nur im Akt der Lebensvernichtung gegeben, sondern auch in einem Prozess, der nach Mt 15,19 im Herzen beginnt. „Zorn ist die erste Stufe des Mordes“. Jesus hat hier nicht „freihändig“ formuliert. Er griff vielmehr Lev 19 auf – ein häufig von ihm benutztes Kapitel –,wo es in V. 17 heißt: „Du sollst deinen Bruder in deinem Herzen nicht hassen.“ Vorsicht ist jedoch geboten gegenüber einer zu engen Auslegung des Begriffes Bruder. Wenn Fiedler hier auf „Gemeindemitglieder“ einschränken will, greift das zu kurz. Schon in Lev 19,17 hat אָח [ʾāch] die Bedeutung „Nächster“. Beim Gericht (κρίσις [krisis]) ist wieder an das Lokalgericht zu denken. In der Auslegung fragt man, wie ein innerer Vorgang, das Zürnen, Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein soll. Gustav Stählin spricht von einem „grotesken Charakter“ dieses Wortes. Aber Jesus lehrt hier kein juristisches Verfahren, sondern lässt die Hörer das Ausmaß ihrer Schuld erkennen. Jeder Zorn müsste angeklagt und verurteilt werden, weil er einen Verstoß gegen das sechste Gebot darstellt. Angesichts der Debatte über den „heiligen Zorn des Menschen“ bleibt es bemerkenswert, dass Jesus einen solchen überhaupt nicht erwähnt. Wir können daraus nur schließen, dass er einen wirklich „heiligen“ Zorn nur bei Gott annimmt (vgl. Mt 22,7). Wie tief die Worte Jesu die Apostel geprägt haben, zeigt das NT. Der Bergpredigt am nächsten steht Jakobus in 1,19f. Gustav Stählin hat die zutreffende Beobachtung gemacht, dass „menschlicher Zorn im NT nie“ ein gerechter oder heiliger Zorn genannt wird. Gerade dies kommt im Jakobusbrief zum Ausdruck.53 Weiter ist zu erinnern an Johannes in 1Joh 3,15 und Paulus in Eph 4,26f. Es bleibt bemerkenswert, dass manche Rabbinen hier ähnlich lehrten wie Jesus. Am bekanntesten ist das Wort von Rabbi Elieser vom Ende des 1. Jh. n.Chr.: „Der, der seinen Bruder hasst, gehört zu denen, die Blut vergießen.“55 Das zeigt, dass Jesu Wort den Hörern sofort verständlich war. Eine feine Nuance trennt allerdings Rabbi Elieser von Jesus. Er spricht in Aufnahme des hebr. שׂנא [śnʾ] aus Lev 19,17 von „hassen“, während Jesus von zürnen spricht. Zürnen aber ist weiter verbreitet als „hassen“. Nun folgen in Mt 5,22 zwei Steigerungen, wobei schon umstritten ist, ob es sich wirklich um Steigerungen handelt. Zuerst sagt Jesus: Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka!, soll dem Hohen Rat verfallen. Zum Begriff Bruder vgl. oben. Raka (ῥακά [rhaka]) oder, wie manche Handschriften lesen, „Racha“ bleibt ein umstrittenes Wort. Lohmeyer nannte drei mögliche Ableitungen: a) von aram. rega = Hohlkopf, b) von hebr. reg = leer, eitel, c) von griech. ῥαχιστής [rhachistēs], „Prahlhans“. Die Variante ῥαχά [rhacha] ist spärlicher bezeugt und deshalb wohl auszuschließen. Joachim Jeremias erblickt in ῥακά [rhaka] eine „Transkription des aram[äischen] Schimpfwortes רֵיקָא“. Letzteres wiederum hängt seiner Meinung nach mit dem hebr. רֵיק [rēq] = leer zusammen. Das Vorkommen in der rabbinischen Literatur ermöglicht es, seinen Sinngehalt zu erfassen: ῥακά [rhaka] ist „ein Ausdruck der ärgerlichen Geringschätzung, die mit Unwillen, Zorn oder Verachtung gepaart sein kann, und wird regelmäßig gegenüber einem törichten, gedankenlosen oder anmaßenden Menschen angewandt. „Man empfand das Schimpfwort als harmlos: Schafskopf, Esel.“ Des Weiteren meint Jeremias, κρίσις [krisis] bedeute nicht das Lokalgericht, sondern die Strafe, genauer: die Todesstrafe. Seine Deutung bleibt grundsätzlich möglich. Sie leidet aber unter einer Inkongruenz: Bei der Todesstrafe selbst fehlt die Instanz, dann folgen zwei Instanzen (Synhedrium und Feuerhölle) ohne ausdrückliches Strafmaß. Wir ziehen es deshalb vor, bei einer Steigerung durch die drei Instanzen zu bleiben: Lokalgericht – Hoher Rat (Synhedrium, Sanhedrin, in Jerusalem) – Feuerhölle. Die Strafe allerdings ist jedes Mal die Todesstrafe entsprechend Ex 21,12; Lev 24,17. Zum Hohen Rat, griech. συνέδριον [synedrion], hebr. סַנְהֵדְרִין [s̀anhedrīn]: Es handelt sich um das höchste jüdische Gericht zur Zeit Jesu, das ihn dann später zum Tod verurteilte (Mt 26,57ff). Mt 5,22 schließt mit dem Satz: Wer aber sagt: Gottloser, soll der Feuerhölle verfallen. Wieder geht es um ein Sagen, eine „Zungensünde“. Während zürnen sich nur im Zürnenden selbst abspielen kann, greift das Sagen den anderen verbal an. Es kann, wie alles böse Wirken der Zunge (vgl. Jak 3,1ff), schädigen, verletzen, evtl. den andern in den Tod treiben. Auch darin liegt eine Steigerung, nicht nur bei der Gerichtsinstanz. Gottloser, griech. μωρέ [mōre], gibt wieder Anlass für eine lebhafte Diskussion. Was ist daran so Schlimmes?, fragt der moderne Leser. Schon das Griechisch-deutsche Wörterbuch nennt eine ganze Reihe von Deutungsversuchen, darunter auch den, μωρέ [mōre] als griech. Übersetzung von ῥακά [rhaka] aufzufassen. Dann würde Jesus sinngemäß sagen: „Wer andere mit ῥακά oder μωρέ beschimpft, muss vom Hohen Rat zum Tod verurteilt werden, ja mehr noch: Gott wird ihn in die ewige Hölle werfen.“ Aber es gibt eine Reihe von Beobachtungen, die in eine andere Richtung deuten: μωρός [mōros] ist an mehreren Stellen der LXX Übersetzung für נָבָל [nābāl], was den Gottlosen bezeichnet. So zum Beispiel in Dtn 32,6, wo Israel im Lied des Mose als „törichtes Volk“ (LXX: λαὸς μωρός [laos mōros]) getadelt wird, das heißt als gottloses Volk. Man denke ferner an Davids Gegner in 1Sam 25,1ff, der „Nabal“ (נָבָל [nābāl]) = „Tor“ hieß. Ferner ist zu beachten, dass im Judentum Beleidigungen wie „Gottloser“ sehr ernst genommen wurden. Fiedler zitiert aus b Bab Mez 58b: „Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt, ist es ebenso, als würde er Blut vergießen.“ Die genannten Beobachtungen legen es nahe, μωρός [mōros]in Mt 5,22 tatsächlich als schwerwiegende Beschimpfung – Gottloser – aufzufassen. 1Joh 3,15 kann dies nur unterstützen. Es liegt dann also eine dreifache Klimax (Steigerung) vor: vom inneren Vorgang des Zürnens zum äußerlich registrierbaren Sagen; vom Lokalgericht zum Gottesgericht der Feuerhölle; von der harmlosen Beschimpfung „Schafskopf“ zur schwerwiegenden Beschimpfung „Gottloser“. Nur kurz sei hier angemerkt, dass Feuerhölle (γέεννα τοῦ πυρός [geenna tou pyros]) die ewige Strafe im Gottesgericht nach Jes 66,24 bedeutet. Alle Steigerungen, die wir in Mt 5,22 beobachtet haben, dienen dazu, den Hörern das Ausmaß ihrer Schuld deutlich zu machen und auf diesem Hintergrund das Bild einer besseren Gerechtigkeit im Gottesreich entstehen zu lassen. Geht Mt 5,22 historisch tatsächlich auf Jesus zurück? Dabei spielt es eine Rolle, ob die Worte über ῥακά [rhaka] und μωρέ [mōre] als Zusätze (V. 22b bzw. 22c) zu betrachten sind. Ulrich Luz, der die Sachlage relativ ausführlich darstellt, spricht von „zahlreichen traditionsgeschichtlichen Dekompositionsversuchen“.73 Er selbst entscheidet sich am Ende im Einklang mit einer Reihe anderer Forscher für die Echtheit, das heißt, Mt 5,21f bildet ein „einheitliche(s) Überlieferungsstück“ und geht „auf Jesus zurück“. Matthäus jedenfalls lag daran, dass unser Vers wirklich auf den Messias Jesus zurückgeht, und es gibt kein durchschlagendes Argument, diese Aussage des Evangelisten zu widerlegen.75 Nach V. 22 setzt sich die Liste von Einzelfällen, die unter das sechste Gebot fallen, nicht mehr fort. Das ist typisch für Jesus und auch für Matthäus, die eben die Kasuistik ablehnen. Stattdessen entfaltet Jesus anhand zweier Beispiele in V. 23f und 25f die positive Zielrichtung, die im sechsten Gebot liegt. Interessanterweise besitzen also die Zehn Gebote für Jesus einen Doppelcharakter: 1) Sie wehren dem Bösen (vgl. 1Tim 1,9f); 2) sie fördern ein Gott wohlgefälliges Leben. Der reformatorische Katechismus hat diese Anliegen Jesu ausgezeichnet bewahrt, wenn er das 5. (= 6. biblisches) Gebot so auslegt: „dass wir unsrem Nächsten an seinem Leib keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und ihn fördern in allen Leibesnöten“. In V. 23 zeichnet Jesus das Bild eines Israeliten, der mit seiner Opfergabe (Gabe = Opfer) unterwegs ist: Wenn du nun deine Gabe zum Altar herbeibringst … Gemeint ist der Brandopfer-Altar im inneren Vorhof des Tempels (vgl. Ex 27,1ff; 38,1ff). Herbeibringen (προσφέρειν [prospherein]) lässt sich auf alle Opferarten anwenden, erinnert aber im Kontext von Mt 5,23f vor allem an ein Opfertier (Schaf, Ziege, Taube). Jesus schildert in Mt 5,23f vermutlich „eine schon im Gang befindliche Opferhandlung“, präziser noch, den Vorgang der „Übergabe des zu Opfernden an den Priester“. Es handelt sich also um den letzten Moment vor Vollendung des Opfers. Und du dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat: Dort, ἐκεῖ [ekei], meint gerade diesen letzten Moment. Dein Bruder sollte wie in V. 22 nicht nur als Gemeindemitglied (das aber ganz besonders!), sondern weiter gefasst als „Nächster“ verstanden werden. Es ist typisch für Jesus, dass er von diesem Nächsten her denkt (vgl. Lk 10,36f). Deshalb sagt er nicht „dass du etwas gegen deinen Bruder hast“, sondern: dass dein Bruder etwas gegen dich hat. Auffallenderweise gibt es dazu in den Handschriften keine Varianten. Hat aber dein Bruder etwas gegen dich, dann gilt die Pflicht zur Versöhnung, wie jetzt sofort V. 23 beweist. Formal fällt auf, dass Jesus in Mt 5,23 zum du, also zur 2. Person Singular, übergeht, nachdem er bisher die 2. Person Plural benutzte. Ist das ein Zeichen dafür, dass Mt 5,21f und 5,23f ursprünglich nicht zusammengehörten? Eine solche Folgerung ginge zu weit.83 Denn gerade in Mt 5,21–48 beobachten wir einen relativ häufigen Wechsel von Plural und Singular (vgl. 5,21f/5,23ff; 5,27f/5,29f; 5,33ff/5,36/5,37; 5,38f/5,40ff). Im Übrigen fragt Jesus hier nicht danach, wer recht hat: du oder dein Bruder. Ihm genügt die Tatsache, dass das Verhältnis gestört ist. V. 24 gibt die Anweisung: dann lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuerst hin, versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bringe deine Gabe herbei. Es ist richtig, dass hier die Versöhnung Vorrang hat vor der Kulthandlung. Dennoch sollte man bei Vergleichen mit Hos 6,6; Mt 9,13 usw. vorsichtig sein. Denn bei Hosea und verwandten Stellen geht es um eine grundsätzliche Höherwertung der Barmherzigkeit gegenüber dem Opfer (vgl. Mt 23,3), während es in Mt 5,23f um eine konkrete Einzelfallentscheidung geht. Was aber in Mt 5,23f im Vordergrund steht, und womit sich der Hörer schwer tut, ist die Rigorosität der Anweisung. In den Kommentaren fragt man: Wie soll das geschehen, was Jesus fordert? Wo soll die Opfergabe / das Opfertier bleiben? Soll ein Galiläer drei Tage lang in seine Heimat zurückwandern? Aber der Sinn der Worte Jesu ist klar und schon längst in Ps 24,3f angeklungen: Nur „wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist“, darf auf den heiligen Tempelberg kommen. Mit Recht erinnert Theodor Zahn an die Seligpreisung der Täter des Friedens. Die einzelnen Umstände hat Jesus nicht besprochen. Ob man die Gabe solange an Freunde oder Bekannte übergibt, ist nicht sein Thema. Was geschieht, wenn der Bruder die Versöhnung ablehnt, bleibt ebenfalls dahingestellt. Das übrige Neue Testament hat sich allerdings zu diesem im praktischen Leben sehr häufigen Fall geäußert, und zwar in einer sehr barmherzigen Weise. In Röm 12,18 schreibt Paulus: „Soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Was nicht an uns liegt, können wir weder bewegen noch verändern. Das macht uns innerlich frei und nimmt den Krampf aus unseren Bemühungen. Da es der erhöhte Herr ist, der durch die Apostel spricht (Lk 10,16; 2Kor 3,17), dürfen wir auch Röm 12,18 als Jesuswort ernst nehmen. Leicht überhört man die letzten Worte: und dann komm und bringe deine Gabe herbei. Jesus hat also den Tempelgottesdienst und die Opferdarbringung in Mt 5,23f nicht aufgehoben. Ja, Mt 5,23f ist sogar eine Stütze für die Annahme, dass das Matthäusevangelium noch vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n.Chr. geschrieben ist. Rainer Riesner geht so weit, aus Mt 5,23 abzuleiten, dass es damals ortsansässige Jünger gab, „die regelmäßig Opfer darbringen“. In Mk 11,25 taucht ein Mt 5,23f verwandtes Wort auf. Demnach hat Jesus auch später in seiner Lehre an die Bergpredigt angeknüpft. Der Einfluss von Mt 5,23f auf die Kirchenväter ist beträchtlich, wie die Beispiele des Cyrill von Jerusalem und des Hieronymus beweisen. Als zweites Lehrbeispiel wählt Jesus die Situation in einem Prozess, den zwei Prozessgegner miteinander führen (Mt 5,25f). Joachim Jeremias nennt Mt 5,25f das „Gleichnis vom Gang zum Richter“. Es versetzt uns in ein Stadium, in dem beide schon auf dem Weg zum Richter sind: Sei deinem Gegner wohlgesinnt – rasch, so lange du noch mit ihm auf dem Wege bist … Der Umstand, dass es sich um den letzten Augenblick handelt, in dem sich die Dinge noch zum Guten wenden lassen, verbindet also Mt 5,25f mit 5,23f. Dieser letzte Augenblick ist für Jeremias der Anlass, auch Mt 5,25f den Krisisgleichnissen zuzuordnen und mit dem Gleichnis von Lk 12,58f zu identifizieren. Matthäus habe durch seinen Kontext sekundär aus dem Krisisgleichnis ein Gleichnis für die Lebensführung gemacht.94 Das Urteil von Jeremias ist nur berechtigt, wenn Jesus diesen Gleichnisstoff nur ein einziges Mal zur Anwendung brachte und tatsächlich Mt 5,25f und Lk 12,58f identisch sind. Aber solche Annahmen lassen sich nicht begründen. Ihnen widersprechen die verschiedenen Kontexte der Evangelien und auch die Lebenserfahrung, wonach ein Lehrer dieselben Stoffe, teilweise anders zugespitzt, mehrfach verwenden kann. So gehen wir zwar von der Verwandtschaft zwischen Mt 5,25f und Lk 12,58f aus, sehen aber Mt 5,25f in einem historischen Zusammenhang mit der Auslegung des sechsten Gebotes und schon in der Frühzeit des lehrenden Jesus beheimatet. Wir dürfen also von der Stimmigkeit des Kontextes bei Matthäus ausgehen. ἀντίδικος [antidikos] ist auch im griech. Sprachgebrauch der Prozessgegner. Die Rabbinen haben dieses griechische Wort „als Fremdwort übernommen“.97 Manchmal nimmt es den Sinn von Kläger an. Obwohl G. Schrenk hier skeptisch ist,99 könnte es auch in Mt 5,25 den „Kläger“ bedeuten, sodass also dein Gegner derjenige ist, der dich vor Gericht zieht und eine Forderung durchdrücken will. Von der Vokabel her könnte mit dem Gegner auch der Satan als Widersacher gemeint sein (vgl. 1Petr 5,8). Aber unser Kontext schließt eine solche Deutung auf den Satan aus, weil man von einem Jünger Jesu nicht sagen kann, er solle dem Satan wohlgesinnt sein (vgl. Jak 4,7). Es bleibt interessant, dass die Karpokratianer, eine Häresie des 2. Jh. n.Chr., den Gegner tatsächlich auf den Teufel deuteten und aus Mt 5,25 / Lk 12,58 die Folgerung ableiteten, dass der Mensch auch alle Sünden begehen müsse, um erlöst zu werden. Griech. εὐνοέω [eunoeō] bedeutet „wohlgesinnt sein“ oder „entgegenkommen“. Behm übersetzt in Mt 5,25 „einige dich schleunigst mit ihm durch gütlichen Vergleich“, Bauer-Aland „sei deinem Gegner schleunigst wieder Freund“105. Johannes Behm erklärt dabei Mt 5,25 so, dass dem „Gegner Unrecht getan worden sei“. Davon steht aber im Wort Jesu – jedenfalls direkt – nichts. Jeremias kommt unserem Text näher, wenn er interpretiert: „Setze alles daran, Deinen Prozeßgegner zu befriedigen. Gib nach! Tu den ersten Schritt! Tu ihn gleich! Es könnte sonst für Dich gefährlich werden!“107 Jedenfalls drängt Jesus zur Eile – rasch –, weil sonst die Chance vertan sein könnte. Die Worte so lange du noch mit ihm auf dem Wege bist versetzen uns ins ländliche Galiläa. Die beiden Prozessierenden kommen offenbar aus einem kleineren Ort, an dem es kein Lokalgericht gibt, und befinden sich auf dem Wege – zu Fuß oder auf dem Eselsrücken – zum Bezirksgericht, dem sog. „Gerichtshof der Dreiundzwanzig“. Der Weg ist die Chance. Hier kann man sich noch verständigen. Handelt es sich um vermögensrechtliche Streitigkeiten, wie Strack-Billerbeck u.a. annehmen, kann man sich eine solche Verständigung umso leichter vorstellen. Dabei setzt Jesus in der Tat voraus, dass man nachgibt und nicht bis zum Letzten auf dem eigenen Recht beharrt (vgl. V. 38–48; Mt 5,9; Hebr 12,14). Er begründet es allerdings – und das irritiert viele Ausleger – sehr rational, indem er auf die Gefahr hinweist, die hier lauert: damit dich der Gegner nicht dem Richter übergibt und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen wirst! Selbst wenn der Gegner Unrecht hat, kann er mithilfe eines ungerechten Richters siegen (vgl. Lk 18,6). Der Richter im Singular kann nach dem jüdischen Prozessrecht formuliert sein, wonach unter Umständen ein einziger autorisierter und ordinierter Rechtsgelehrter entscheidet. ὑπηρέτης [hypēretēs] ist der Gerichtsdiener, wie er dem Richter „zum Zweck der Durchführung von Urteilen zur Verfügung steht“. Modern formuliert: der „Vollzugsbeamte“. Und du ins Gefängnis geworfen wirst: das griech. φυλακή [phylakē] für Gefängnis wurde zum rabbinischen Lehnwort פִּילָקֵי [pīlāqē]. Davies-Allison meinen, dass Geldschuldner nach jüdischem Recht nicht ins Gefängnis geworfen wurden.114 Aber Jesus setzt auch in Mt 18,30ff voraus, dass es eine Gefängnishaft für solche Schuldner gab. Eins jedenfalls ist klar: Mt 5,25 lässt sich nicht auf einen Rechtsstreit unter Christen begrenzen. Es geht hier wirklich um Frieden und Versöhnung mit jedermann, um, wie Davies-Allison sagen116, „peace with all“. Ein Nebenthema in der Diskussion ist die Frage, ob Jesus hier auf „heidnische Verhältnisse“ Bezug nimmt. Weil uns keine Schuldhaft nach jüdischem Recht bekannt sei, müsse man annehmen, dass Jesus auf römisches Recht rekurriere. Gerade durch außerjüdische, als unmenschlich empfundene Rechtsverhältnisse könne er „die Furchtbarkeit des Gerichtes … eindringlich … machen“.118 Eine solche Annahme bleibt möglich. Aber ausgerechnet in den ländlichen Gebieten Galiläas mit ihren Lokalgerichten ein römisches Prozedere anzunehmen, erweckt doch andererseits Bedenken. Mit einem bekräftigenden Amen, dem zweiten im Matthäusevangelium nach 5,18, leitet Jesus sein Schlusswort zur Auslegung des sechsten Gebotes ein: Amen, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du auch den letzten Quadrans bezahlst (V. 26). Ein Quadrans ist die kleinste römische Münze oder 1/4 As, also ein Viertel der gängigsten römischen Kupfermünze (Mt 10,29; Lk 12,6). Ein As wiederum ist je nach Berechnung der 16. oder 24. Teil eines Silberdenars. Seinerseits enthält ein Quadrans zwei Lepta, in jüdischer Sprache: zwei Peruten. Ein solches Lepton bzw. eine solche Peruta stellte die kleinste jüdische Münze dar (vgl. Mk 12,42; Lk 21,2). Demnach sagt Jesus: Du musst deine Schuld bis auf die kleinste Münze in der römischen Reichswährung bezahlen, bevor du aus dem Gefängnis (von dort) wieder herauskommst. In Mt 18,34 sagt er dasselbe. Die Frage erhebt sich: Bezieht sich Mt 5,25–26 nicht auf das Jüngste Gericht? Zweifellos ist die Parallelaussage in Lk 12,58f eschatologisch orientiert. Aber gilt dies auch für Mt 5,25f? Viele Forscher bejahen dies. Auf einem eschatologischen Hintergrund lassen sich die Schlüsselbegriffe leicht deuten: der Richter = Gott, Gefängnis = Gehenna, Schuldner = Sünder, Gerichtsdiener = Engel. Auf jeden Fall wird man festhalten müssen, dass Mt 5,25f transparent bleibt für den Ernst des Jüngsten Gerichts. Aber trotz dieser Transparenz sollte man nicht den Gesichtspunkt der gegenwärtigen, gottgewollten Lebensführung vernachlässigen, der nach der Bergpredigt durchaus nicht sekundär ist: Aus dem sechsten Gebot ergibt sich die Aufgabe des Jüngers, Frieden und Versöhnung zu suchen. Er soll nicht nur nicht töten, sondern auch andere Menschen fördern. Damit hat er die Aufgabe, andere vor ihrem Zorn zu bewahren (vgl. Lev 19,17). Es genügt also nicht, wenn wir uns nur selbst vor dem Zorn bewahren wollen! In dieser Perspektive verliert die Frage, ob Jesus denn mit einer Rückkehrmöglichkeit aus der „Hölle“ (Gehenna) rechne, an Gewicht. Für die alten Rabbinen stellten Strack-Billerbeck fest, dass sie eine solche Rückkehrmöglichkeit „durchaus“ bejahten. Für Jesus aber kann man dies nicht annehmen (vgl. Mk 9,43–48). Die Worte bis du auch den letzten Quadrans bezahlst müssen also dahin verstanden werden: „Das kannst du nicht, und deshalb wirst du dort bleiben.“ Am Ende von Mt 5,21–26 stellen Davies-Allison die Frage, weshalb Jesus überhaupt antithetisch (in „antithetical form“) spreche.128 Er führe doch nichts Neues ins Judentum ein, alle seine Aussagen ließen sich auch bei den Rabbinen nachweisen. Strack-Billerbeck haben diesen Sachverhalt ebenfalls betont.130 In der Tat lassen sich bei Mt 5,21–26 für alle Einzelaussagen rabbinische Parallelen finden. Bei ihrer Antwort erwähnen Davies-Allison vier Gesichtspunkte: 1) vollziehe das AT selbst noch nicht die Gleichsetzung von Hass/Zorn mit Mord; 2) genüge eine strenge Beachtung des Gesetzes Jesus zufolge noch nicht für ein gottgewolltes Leben; 3) habe Jesus bewusst provozieren wollen; 4) würde Jesus den ansonsten respektierten „heiligen Zorn“ nicht mehr erlauben. – Diese Gesichtspunkte behalten ihr Recht. Sie können durch weitere Einzelpunkte ergänzt werden, zum Beispiel den, dass Jesus als „ein ganz vorzüglicher Gleichniserzähler“132 unter allen anderen hervorsticht. Das Wesentliche aber scheint uns in einem Doppelten zu liegen: 1) Jesus als Gottessohn und Messias ist der Einzige, der mit höchster Autorität sagen kann, was denn nun Gottes Wille ist; 2) er ermäßigt das Gesetz an keiner Stelle und führt uns deshalb unausweichlich zu der Erkenntnis, dass wir es nicht erfüllen können, und deshalb mit Notwendigkeit zum Kreuz, an dem er uns erlöst. Matthäus 5,27–32 2. Die Auslegung des siebten Gebotes, 5,27–32 Diese Auslegung setzt in V. 27 wieder mit den Worten ein, die uns aus V. 21 vertraut sind: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde. Nur fehlt jetzt τοῖς ἀρχαίοις [tois archaiois]. Der Sinn bleibt dennoch derselbe. Du sollst nicht ehebrechen (οὐ μοιχεύσεις [ou moicheuseis]) entspricht wieder dem Wortlaut des siebten Gebotes in der LXX (Ex 20,13; Dtn 5,17). Die Bedeutung dieses Gebotes geht auch aus Mt 19,18; Röm 2,22; Hebr 13,4 und alttestamentlich aus Num 5,11ff hervor. Über die zahlreichen rabbinischen Diskussionen zu diesem Thema informieren Strack-Billerbeck zur Stelle und Friedrich Hauck im ThWNT.133 Während Israel die eheliche Treue hoch bewertete und sowohl den Mann als auch die Frau dafür verantwortlich machte, galt sie in der antiken Welt der Griechen und Römer viel weniger. Unbedingte eheliche Treue wurde hier nur von der Frau verlangt. Dem Mann war freier Umgang mit einer oder mehreren Geliebten, oft mit „Hetären“, erlaubt. Nach griechischem Recht war nur „der heimliche geschlechtliche Verkehr mit der freien Frau ohne Zustimmung“ ihres Mannes oder Vaters verboten.135 Die Zeit der römischen Kaiser, also auch die Zeit Jesu, sah eine „fortschreitende Entsittlichung“. Augustus konnte ihr nicht wehren, obwohl er mit Gesetzen dagegensteuerte. „Ehescheidungen waren sehr häufig … Eheliche Untreue der Frauen galt fast als allgemeine Tatsache.“137 Die heutigen Verhältnisse im westlich-nordatlantischen Raum entsprechen weitgehend den damaligen Verhältnissen der griechisch-römischen Antike. Das macht unsere Auslegung nicht leichter. In V. 28 beginnt Jesus, das siebte Gebot mit seiner Autorität auszulegen. Das Ich aber sage euch (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν ὅτι [egō de legō hymin hoti]) wiederholt wörtlich V. 22. So wie er in V. 21ff von der Mordtat zum Zorn und zum Herzen zurückgegangen ist, so geht er auch jetzt konsequent zum Auge und zum Herzen zurück. Das Auge ist hier gewissermaßen ein Organ des Herzens. Vgl. Mt 15,19. Wie in 5,21ff der Zorn, so wird in 5,27ff die ehebrecherische Begierde verurteilt: Jeder, der eine Frau ansieht, um seine Begierde auf sie zu richten, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Auch hier muss man sorgsam hören. Mit Frau ist die Ehefrau, also die mit einem anderen verheiratete Frau, gemeint. Für ansieht ist das Allerweltswort gebraucht, βλέπειν [blepein] = „sehen“, „hinsehen“. Die entscheidenden Worte sind πρὸς τὸ ἐπιθυμῆσαι αὐτήν [pros to epithymēsai autēn], um seine Begierde auf sie zu richten. πρὸς τό [pros to] bezeichnet hier den Zweck und die Folge. Im Verlauf des Anblickens entsteht also die Begierde (vgl. Jak 1,14f), und der Betreffende erliegt ihr innerlich und bleibt dabei, die Frau anzusehen. Seit Klaus Haackers Beitrag in der Biblischen Zeitschrift von 1977 wird aktuell diskutiert, ob die Übersetzung in Mt 5,28 nicht lauten müsse: „so dass die Begierde in ihr [= der Frau] erweckt wird“. Grammatisch ist eine solche Übersetzung möglich. Aber sowohl der Umstand, dass Jesus hier offensichtlich von der Schuld des Mannes reden will, als auch die betonten Worte in seinem Herzen widerraten der von Haacker vorgeschlagenen Übersetzung. Jesu Auslegung des siebten Gebotes folgt der elementaren Linie, dass er die Ursache des Ehebruchs aufdeckt und ebenso verurteilt wie den Vollzug des Ehebruchs selbst: Der Mann hat dann schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Wieder stellen wir fest, dass Jesus hier nicht völlig Neues bringt. Er schärft im Grunde nur das letzte der Zehn Gebote ein: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau“ (Ex 20,17; Dtn 5,21). Die LXX berührt sich dabei im Wortlaut eng mit Mt 5,28: οὐκ ἐπιθυμήσεις τὴν γυναῖκα τοῦ πλησίον σου [ouk epithymēseis tēn gynaika tou plēsion sou]. Das Achten auf das Auge und den Blick durchzieht dann die Weisheitsliteratur (Hiob 31,1; Sir 9,5.8). Es setzt sich fort in der intertestamentarischen Literatur, zum Beispiel Test Benj VIII, 2: „Wer reinen Verstand in Liebe hat, sieht keiner Frau zum Ehebruch nach.“ Dabei wird die Verantwortung der Frau nicht weniger betont. Man sieht das an Test Jos XII, 1, wo der Frau Potiphars vorgeworfen wird: „sie warf ihre Augen auf mich“ [= Josef]. Qumran nimmt diese Linie auf. Die Mitglieder der Qumran-Gemeinschaft verpflichten sich, den „Augen der Unzucht“ nicht mehr zu folgen (1QS I, 6, evtl. nach Num 15,39). In den Rabbinica finden sich ähnliche Aussagen, obwohl man hier immer bedenken muss, dass sie später zu datieren sind als die Aussagen Jesu. Strack-Billerbeck zitieren aus LevR 23 (122b): „Auch der, welcher mit seinen Augen die Ehe bricht, wird Ehebrecher genannt.“ Und in b Sota 8a wird erklärt, „dass der böse Trieb nur über das Gewalt habe, was man mit den Augen sieht“. Man kann also nicht sagen, dass Jesus der Erste und Einzige sei, der eine solche Lehre vertreten habe. Und Ulrich Luz ist darin zuzustimmen, dass wir als Christen nicht krampfhaft die Originalität Jesu verteidigen müssen. Wie aber ist dann das hoheitsvolle Ich aber sage euch zu verstehen? Antwort: Ein schematisches Antithesen-Denken reicht gerade hier nicht aus. Das Ich aber sage euch ist in erster Linie ein Ausdruck der messianischen Autorität, in der Jesus das Gültige und Gottwohlgefällige formuliert – ohne Rücksicht darauf, ob es schon früher oder gegenwärtig ebenso oder ähnlich formuliert wurde. Sein Ich aber sage euch bestätigt zunächst das Alte Testament (vgl. Ex 20,17). Es bestätigt zweitens die nach-alttestamentliche und frührabbinische Auslegung, die mit der Seinen übereinstimmt. Ich aber sage euch muss keinen Gegensatz ausdrücken, es kann auch die Bestätigung durch einen Höheren als Mose darstellen! Vgl. Mt 23,2f. Jesus vertritt drittens das, was wir „eine strenge Linie“ nennen würden, und entfaltet in V. 29f dessen eschatologischen Ernst. Viertens: Jesus stellt sich damit gegen die Zerfallserscheinungen im eigenen Volk, von denen Mischna Sota IX, 9 zur Zeit R. Jochanans ben Zakkaj ein erschütterndes Zeugnis ablegt. Im 29. Vers beginnt Jesus, die Entschiedenheit seiner Weisung zu unterstreichen: Wenn dich aber dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus und wirf es von dir. Da in V. 28 vom Blick die Rede war, wird jetzt natürlicherweise das Auge zum Anschauungsmaterial. Rechts ist im biblischen Sprachgebrauch die wertvollere Seite (vgl. 1Kön 2,19; Ps 16,11; 110,1; Jes 41,10; Jer 22,24), das rechte Auge also besonders wertvoll. Aber was in unsern Augen besonders wertvoll ist, kann auch die stärkste Quelle der Verführung werden. So kennt schon das AT die Gefahr, die vom Auge ausgeht (vgl. Hiob 31,1; Ps 18,28; Prov 6,17; 21,4; 23,33; 30,17; Jes 2,11). Ähnlich sprachen die Rabbinen vom „bösen Auge“ (P. Abot II, 14). Die Hörer wussten also sehr wohl, wovon Jesus sprach. Das griech. σκανδαλίζειν [skandalizein] bedeutet „zum σκάνδαλον machen“, „eine Falle stellen“ oder „ein Hindernis herstellen, an dem man strauchelt“. Gustav Stählin vermutet als Äquivalent aram. תקל [tql] oder hebr. כשׁל [kschl]. Für Mt 5,29 nimmt er die Bedeutung „zur Sünde reizen“ an. Bauer-Aland: „zur Sünde verführen“,152 was wir übernommen haben, weil es nicht nur um den Reiz zur Sünde geht, sondern um ein Instrument, das uns die Tat der Sünde ermöglicht. Dann reiß es aus und wirf es von dir: Meint dies Jesus „echt“, soll das Ausreißen also real vollzogen werden? Teile der Alten Kirche haben es so verstanden, wie die Selbstverstümmelung des Origenes noch vor dem Jahr 211 n.Chr. zeigt. Oder sind ausreißen und wegwerfen nur Begriffe für eine innere, geistliche Reinigung? Die radikale Zuspitzung, die Jesus in den Versen 29 und 30 vollzieht, spricht eher für das erstgenannte, reale Verständnis. Doch im Kontext des Evangeliums wird klar, dass selbst ein Ausreißen des Auges keine Besserung bringt. Denn das Böse wohnt in unserem Herzen (Mt 15,19) und der Mensch ist nach Jesus von Grund auf böse (Mt 7,11). Würde aber das Ausreißen des Auges helfen, dann wäre der Verlust des Auges wesentlich leichter zu ertragen als die Verdammnis zur Hölle. Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Die Hölle nennt Jesus hier wie in V. 22 auf aramäisch γέεννα [geenna] (Gehenna, גֵּיהִנָּם [gēhinnām]). Diese Bezeichnung leitet sich ab vom hebr. גֵּי־הִנֹּם [gē-hinnom] (Jos 15,8; 18,16), ursprünglich גֵּי בֶּן־הִנֹּם [gē bän-hinnom] oder גֵּי בְנֵי הִנֹּם [gē bᵉnē hinnom], einem Tal im Süden des alten Jerusalem, das auch als Wadi er-rababi bezeichnet wird. In diesem Tal wurden zur Zeit der Könige Ahas und Manasse Menschenopfer dargebracht – ein unfassbarer Gräuel für den Glauben Israels (vgl. 2Kön 16,3; 21,6; Lev 18,21). Jeremia verkündigte das Gericht über das „Tal Ben-Hinnom“ (Jer 7,32; 19,6). Später wurde das „Gehinnom“ zum Namen für die endzeitliche Feuerhölle und für die ewige Verdammnis (ä Hen 27,1ff; 54,1ff; 56,3f; 90,26f; 4Esr 7,36; syr Bar 59,10). Es ist bemerkenswert, dass nach Jesus nicht nur die Seele in die ewige Verdammnis kommt, sondern auch der ganze Leib. Das wird durch Mt 10,28; Mk 9,43ff und Jes 66,24 bestätigt. Wie V. 22 stellt uns also Mt 5,29 vor die Tatsache, dass Jesus a) mit einem Gericht Gottes, b) mit einem möglichen Verwerfungsurteil und c) mit ewiger Verdammnis rechnet. Große Teile der heutigen protestantischen Theologie lehnen diese Sicht ab. „Die traditionelle Vorstellung einer Gerichtsverhandlung am Ende der Zeit ist kaum mehr lebendig“, stellte Heinrich Ott schon 1972 fest. Viele neigen zur Allversöhnung oder lassen die Frage nach einem Gericht Gottes bewusst offen. Letzteres ist bei Ott selbst der Fall: „Es ist hier schlechterdings keine Auskunft möglich.“162 Aber sowohl das Offenlassen wie die Ablehnung bringen uns in eine Spannung zur Lehre Jesu. Mehr noch: in einen Gegensatz sowohl zu dem, was die ganze Bibel lehrt, als auch speziell zu Jesus selbst. V. 30 ist weitgehend parallel zu V. 29 aufgebaut. Solche Parallelismen erleichterten das Auswendiglernen. Darüber hinaus decken sich 25 Wörter von insgesamt 32 in V. 30 mit dem 29. Vers, das sind fast 80 Prozent. Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde verführt, dann haue sie ab und wirf sie von dir: „Wie in der ganzen Antike, so wird auch im AT der rechten Hand gegenüber der linken ein höherer Wert zugeschrieben.“164 Ein Auge kann man ausreißen, eine Hand nur abhauen. In der Tat kennt das AT in bestimmten Fällen die Strafe des Handabhauens (Dtn 25,11f), und auch die Rabbinen ließen sie im Ausnahmefall vollziehen. Deshalb kann man bei V. 30 mit mehr Recht als bei V. 29 fragen, ob Jesus eine reale Selbstbestrafung ins Auge fasst. Gustav Stählin bejaht diese Frage: „Jesus (hat) offenbar eine rigorose Selbstbestrafung im Auge.“ Seine Forderung sei „wörtlich gemeint“.167 Aber auch da ist zu sagen, dass die Entfernung der Hand die sündige Begierde nicht beseitigt. Deshalb deckt Mt 5,30 wie Mt 5,29 unsere Sünde auf, der wir selbst nicht entrinnen können (vgl. Röm 3,20). Der Schlusssatz von V. 30: Denn es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geht, hat dieselbe Bedeutung wie in V. 29. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Mk 9,43–48 und Mt 18,8f ganz ähnliche Worte enthalten wie Mt 5,29f. Meist geht man davon aus, dass Matthäus seine Markusvorlage bearbeitet hat. Darin haben sich viele moderne Kommentare Rudolf Bultmann angeschlossen. Betrachtet man aber – wie wir – das Matthäusevangelium als das ältere, dann muss man eine andere Erklärung finden. Hier teilen wir die Meinung von Don A. Carson: „The point is so fundamental that Jesus doubtless repeated it on numerous occasions.“169 Wie in vielen Fällen hat Jesus einprägsame Bilder und Begriffe mehrfach und bei verschiedenen Gelegenheiten benutzt. Ein Zeugnis der Wirkung seiner Predigt begegnet uns in Kol 3,5; Jak 4,8. Zu seiner Auslegung des siebten Gebotes gehören auch die Verse 31 und 32. Formal betrachtet handelt es sich hier allerdings um die dritte „Antithese“ (Ἐρρέθη δέ [Errethē de] …). Es wurde gesagt: Wer seine Frau entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben (V. 31): Die Bezugsstelle ist Dtn 24,1–4. Es geht also um die Ehescheidung. In Mt 19,3ff greift Jesus dieses Thema noch einmal auf, und es ist deshalb nicht möglich, Mt 5,31f ohne Mt 19,3ff auszulegen. In V. 31 liegt ein Wortlaut vor, der sich so weder im hebräischen noch im griechischen Text von Dtn 24,1ff findet; es scheint sich um eine spätere schriftgelehrte Zusammenfassung von Dtn 24,1ff zu handeln. Insofern ist auch die Kürze der Eingangsformel berechtigt: Es wurde gesagt (ἐρρέθη [errethē]). Sie ist die kürzeste aller Einleitungen in Mt 5. Es fehlt sowohl das „Ihr habt gehört“, weil Dtn 24,1–4 einen andern, vollständigeren Text bietet, als auch das „zu den Alten“, weil es sich offensichtlich um eine spätere Zusammenfassung handelt. ἀπολύειν [apolyein] ist hier „aus dem Eheverhältnis entlassen“, „fortschicken“, ἀποστάσιον [apostasion] als Kurzform für βιβλίον ἀποστασίου [biblion apostasiou] der Scheidebrief, „das Dokument der Ehescheidung, das der Frau bei ihrer Entlassung ausgehändigt werden mußte“. Mit V. 32 trifft Jesus eine seiner wichtigen Lehrentscheidungen, die bis heute die Kirchen bestimmt: Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, es sei denn wegen Unzucht (παρεκτὸς λόγου πορνείας [parektos logou porneias]), der macht, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe. Eine der Kernfragen bei dieser Stelle lautet: Ist das nun eine echte Antithese zum AT? Viele Ausleger teilen die Meinung Schniewinds: „Der Gegensatz unseres Spruches richtet sich bestimmt gegen die Gesetzgebung des A.T. selbst und nicht nur gegen deren Auslegung bei den Pharisäern.“173 Aber dieses Urteil ist falsch. Schon ein Blick auf Mt 19,8 zeigt, dass Jesus Mose in Schutz nimmt, und andere Stellen bestätigen seine pro-mosaische Haltung (Mt 17,3; 23,2; Lk 16,29.31; 24,27.44; Joh 3,14; 5,45). Speziell steht Mt 5,17–20 der Annahme, Jesus wolle hier das alttestamentliche Gesetz ändern oder aufheben, im Weg. Weit mehr empfiehlt sich die Annahme, dass Jesus gegen die ausufernde Erlaubnis zur Ehescheidung bei den Gesetzeslehrern seiner Zeit Stellung nimmt. Hier behält also Zahn recht. Es geht dabei auch um das richtige Verständnis der Worte „weil er etwas Schändliches (עֶרְוַת דָּבָר [ʿärwat dābār]) an ihr gefunden hat“ in Dtn 24,1. H. Niehr macht darauf aufmerksam, dass der „Gegenbegriff“ zu „schändlich“ in Dtn 23,15 „heilig“ sei. Folglich muss „etwas Schändliches“ in Dtn 24,1 „etwas Anstößiges“ sein, das gegen Gottes Willen verstößt. Die Schule Hillels hat aber zur Zeit Jesu das hebr. עֶרְוַת דָּבָר [ʿärwat dābār] (LXX ἄσχημον πρᾶγμα [aschēmon pragma]) so gedeutet, dass es nur „etwas Schändliches“ in menschlichen Augen meine, präziser: in den Augen des Ehemannes. „Selbst wenn sie ihm die Suppe versalzen hat (oder: hat anbrennen lassen)“, reicht dann für eine Scheidung aus, ja nach Rabbi Akiba, „wenn er eine andere schöner als sie findet“.178 Die Schule Schammajs urteilte hier weit strenger. Aber durchgesetzt hat sich die Schule Hillels. Wie wir gleich sehen werden, lenkt Jesus entschieden zur ursprünglichen Wortbedeutung zurück und verwirft auf jeden Fall die „liberale“ Deutung der Schule Hillels. Wie leicht Letztere als führende pharisäische Schule eine Scheidung machen konnte, zeigt das Beispiel des Josephus. Er entließ zur Zeit der Apostel seine erste Ehefrau, weil ihm ganz allgemein „ihr Verhalten missfiel (ἀρεσκόμενος αὐτῆς τοῖς ἤθεσιν [areskomenos autēs tois ēthesin])“. Ein Problem lag freilich in der offenen Formulierung von Dtn 24,1, worin die Worte „etwas Schändliches“ verschieden interpretiert werden konnten und eben doch Mose „um der Herzen Härte“ willen die Scheidung nicht grundsätzlich ausschloss (vgl. Mt 19,8). Mit Ich aber sage euch deckt Jesus in messianischer Autorität den wahren Willen Gottes auf. Dieser Wille zielt auf Bewahrung der Ehe. Deshalb tritt er generell jeder Ehescheidung entgegen: Jeder, der seine Frau entlässt, … der macht, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Auf das obige Beispiel des Josephus angewandt: Bei seiner Scheidung hat er gegen den Willen Gottes verstoßen, auch wenn er Priester und pharisäisch geschult war. Das griech. αὐτὴν μοιχευθῆναι [autēn moicheuthēnai] lässt sich doppelt übersetzen. Entweder heißt es, „dass sie die Ehe bricht“, oder es heißt, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Weil damals der Mann der aktiv Handelnde war, ist die zweite Übersetzung vorzuziehen. Jedoch laufen beide Übersetzungen auf dasselbe hinaus: Wer sich von seiner Frau scheidet, treibt sie in den Ehebruch. Jesus setzt hier die normalen Lebensvorgänge voraus. Dieser Normalität entsprach es, dass die geschiedene Frau wieder heiratete. Um ihrer Versorgung willen musste sie das sogar in vielen Fällen tun. Der Scheidebrief sollte gerade eine solche Wiederverheiratung möglich machen183 und konnte als Muster etwa die Worte enthalten „zu gehn, um dich zu verheiraten an jeden beliebigen Mann“. Die Traktate Gittin und Ketubot des babylonischen Talmud schildern eine Fülle von Fällen und auch die Komplikationen, die damit zusammenhingen. In den Augen Jesu bedeutete aber eine solche zweite oder gar mehrfache Ehe generell einen Bruch der ersten Ehe. Hier wird der meilenweite Abstand zwischen ihm und der heutigen westlichen Welt erkennbar. Wir fügen gleich den zweiten Satz von V. 32 an: Und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe. Wieder geht Jesus vom Mann aus, der damals der aktiv Handelnde war. Heiratet ein Mann eine geschiedene Frau (eine Entlassene), dann zerstört er endgültig die vorausgehende Ehe. Jesus spricht diesen Grundsatz in aller Klarheit aus. Er wird auch hier nicht kasuistisch, er setzt keine „neue Halacha“. Er trennt sich aber von der Praxis der damaligen Synagoge, indem er die Wiederverheiratung zum Ehebruch erklärt. In aller Schärfe stellen Strack-Billerbeck fest: „Dergleichen Gedanken kennt die Synagoge nicht.186 Nur die Wiederverheiratung mit dem Ehebrecher wurde auch von den damaligen Rabbinen verboten. Es ist wichtig, zusammen mit Paul Gaechter daran festzuhalten, dass schon Dtn 24,1 dem Schutz der Frau diente und einen rein „konzessiven“ Charakter hatte. Deshalb bringt Jesus tatsächlich „den Geist“ des mosaischen Gesetzes zur Geltung, und es liegt „kein Verstoß gegen die Tora und keine Korrektur des göttlichen Gebotes“189 vor. Allerdings hat Jesus in derselben Klarheit einen Grund benannt, der eine Scheidung auch nach dem Willen Gottes ermöglicht. Das ist die Unzucht (πορνεία [porneia]): es sei denn, wegen Unzucht (παρεκτὸς λόγου πορνείας [parektos logou porneias]). Genauer übersetzt heißt es hier: „abgesehen von etwas von Unzucht“. Denn λόγος [logos] geht, wie G. Kittel bemerkt, auf das hebr. דָּבָר [dābār] in Dtn 24,1 zurück. Jesus will also, wie es unsere Stelle erneut bestätigt, wirklich Dtn 24,1 auslegen. Unzucht (πορνεία [porneia]) entspricht demnach dem hebr. עֶרְוַת דָּבָר [ʿärwat dābār]. Sie ist ein weiter gefasster Begriff als „Ehebruch“ (μοιχεία [moicheia]), auch wenn es sich häufig „praktisch“ um Ehebruch handelt. In den Begriff Unzucht sind eingeschlossen alle geschlechtlichen Betätigungen außerhalb der Ehe von Mann und Frau, in erster Linie Ehebruch, aber auch homophile Beziehungen, Beziehungen nur auf Zeit und Beziehungen, die sonst gegen die Gebote verstoßen. Liegt ein solcher Fall der Unzucht vor, dann darf der Ehemann seine Frau entlassen und die Frau die Scheidung verlangen. Es handelt sich allerdings nur um das Recht, sich zu scheiden, und nicht um eine Pflicht, wie sie von den Rabbinen nach Mischna Sota V, 1 aufgestellt wurde. Das heißt, dass ein Ehebruch auch vergeben werden kann. Zu einer solchen Vergebung darf man jedoch auch unter Christen niemanden drängen. Der Grund zum Scheidungsrecht bei Unzucht liegt offensichtlich darin, dass Ehebruch und Unzucht die bisherige Ehegemeinschaft in der Tat schon zerbrochen haben. Der Klarheit willen sei noch hinzugefügt, dass πορνεία [porneia] nicht als matrimonium nullum im Sinne des katholischen Kirchenrechts zu verstehen ist, sondern eben im Sinne der biblischen Aussagen. Diese „Unzuchtklausel“ von Mt 5,32 hat eine intensive Diskussion darüber ausgelöst, ob sie ein echtes Jesuswort ist. Weil sie in Mk 10,1ff und Lk 16,18 fehlt, nimmt man häufig an, dass sie nicht von Jesus stammt und erst von Matthäus in die Jesusworte Mt 5,32; 19,9 eingefügt wurde, vielleicht um „der Rechtfertigung frühkirchlicher Praxis“ zu dienen. Daneben macht man geltend, sie sei „juristisch-kasuistischer Natur“, Jesus aber habe „nirgends Rechtsentscheidungen gegeben“.199 Beides trifft nicht zu. Erstens musste Jesus klären, welche Scheidungen nach Dtn 24,1 erlaubt sind. Das hat aber mit Kasuistik nichts zu tun. Zweitens traf Jesus durchaus Entscheidungen über göttliches Recht, zum Beispiel beim Ährenraufen (Mt 12,1ff) und bei der Steuerfrage (Mt 22,15ff). Wir gehen also mit Schlatter, Schniewind,202 Hauck, Schulz und anderen204 davon aus, dass Matthäus die Ausnahmeklausel historisch zu Recht auf Jesus zurückführt. Fazit: 1) Jesus legt in Mt 5,31f die von Gott gegebene Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1–4 aus. 2) Er schließt grundsätzlich um der Bewahrung der Ehe willen die Scheidung aus. Damit befindet er sich in der Nähe der Schule Schammais, aber im Gegensatz zur Schule Hillels. Darüber hinaus stimmt er mit Mal 2,13ff überein. 3) Im Falle der Unzucht hat aber jeder der beiden Ehegatten ein gottgegebenes Recht auf Scheidung. Der gedemütigte Ehegatte kann allerdings vergeben. 4) Wer das Recht auf Scheidung hat, hat auch das Recht auf Wiederverheiratung. 5) Positiv ist festzuhalten, dass aus Mt 5,31f die außerordentliche Hochschätzung der Ehe durch Jesus hervorgeht. 6) Auf dem Hintergrund der Kulturgeschichte erweist sich Jesu Auslegung als Schutz für die Frau, die auch in Mt 5,31f „zu gleicher persönlicher Würde wie der Mann erhoben“ wird. 7) Weder Dtn 24,1ff noch Mt 5,31f schließen eine Trennung „von Tisch und Bett“ aus. Eine solche Separation bleibt aus geistlich-seelsorgerlichen Gründen möglich. Nachbemerkung: Der Kommentar von Ulrich Luz beschreibt in dankenswerter Weise die Wirkungsgeschichte von Mt 5,31f. Am Ende entdeckt er bei Jesus „ein Moment potentieller Lieblosigkeit“, das „sachkritisch“ angegangen werden müsse.211 Er selbst kann jedoch keine Lösung vorschlagen und bleibt bei „Fragen“ stecken. Dabei übersieht er zwei Tatsachen: Erstens verkündet Jesus hier kein Staatsgesetz, sondern eine vollmächtige Lehre für seine Gemeinde. Zweitens hat die westliche Gesellschaft, die sich wie Luz auf die „unbedingte Liebe Gottes zum Menschen“ beruft und deshalb die Scheidung vollkommen liberalisiert hat, eine unsagbare Verelendung der Ehen heraufgeführt und gelingende lebenslange Ehen zu einer Randerscheinung gemacht.213 Hier ist Jesus barmherziger. Matthäus 5,33–37 3. Die Auslegung des dritten Gebotes im Blick auf das Schwören, 5,33–37 Hier treffen wir wieder die Wendung Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde aus V. 21. Sie ist nur durch πάλιν [palin] (weiter) erweitert, um sie in die Kette der Auslegungen einzufügen.215 Ein Vergleich von Lev 19,12 und Ex 20,7 zeigt, dass sich Jesus jetzt dem dritten Gebot des Dekalogs (Ex 20,7) zuwendet, es aber sofort im Bereich des Schwurs konkretisiert. Am Ende von Mt 5,33–37 spannt er den Bogen noch weiter bis zur allgemeinen Wahrheitspflicht der Jünger und berührt damit auch das neunte Gebot (Ex 20,16). Du sollst keinen falschen Eid schwören: οὐκ ἐπιορκήσεις [ouk epiorkēseis] lässt sich doppelt übersetzen. Entweder heißt es: „Du sollst keinen Meineid leisten“, oder es heißt: „Du sollst deinen geschworenen Eid nicht brechen.“ Im ersten Fall steht es näher an Lev 19,12 und Dtn 23,22, im zweiten Fall näher an Num 30,3. Aber es ist anzunehmen, dass hier beides gemeint ist. Dafür spricht jedenfalls V. 37. Dafür spricht ferner der hebr. Text in Lev 19,12 (לֹא־תִשָּׁבְעוּ בִשְׁמִי לַשָּׁקֶר [loʾ-tischschābᵉʿū bischmī laschschāqär]). Sondern dem Herrn deine Eide halten (ἀποδώσεις δὲ τῷ κυρίῳ τοὺς ὅρκους σου [apodōseis de tō kyriō tous horkous sou]): Hier drängt sich schon wegen ἀποδοῦναι [apodounai] die Nähe zu Dtn 23,22 einerseits und zu Ps 49,14 LXX (MT 50,14) andererseits auf. Wir stehen also wie bei V. 21 vor einem Sinnzitat aus dem AT, bei dem Jesus verschiedene Stellen kombiniert und zugleich kürzt.220 Davies-Allison erinnern an Ex 20,7; Lev 19,12; Num 30,3–15; Dtn 23,21–23; Ps 50,14; Sach 8,17; Sap Sal 14,28. Einem solchen Sinnzitat entspricht es am ehesten, wenn man Mt 5,33 insgesamt auf Eide und nicht auf Gelübde bezieht. In Kürze formuliert: „Alle deine Eide sollen wahrheitsgemäß sein.“ Warum greift Jesus gerade dieses Thema auf? Weil Eid und Schwur im Rechtsleben unverzichtbar und überdies gang und gäbe waren. Davon legen die Aussagen und Rechtsdiskussionen bei Ben Sira (23,9ff; 27,15), in den Testamenten der Zwölf Patriarchen (Test Ass 2,6), in Qumran (11Q19, 53f) und bei den Rabbinen, vor allem b Nedarim (Gelübde) und b Schebuoth (Eide), Zeugnis ab. In Mt 23,16ff taucht unser Thema erneut auf. Jakobus, der noch im Synagogenverband lebt, muss sich ebenfalls mit ihm auseinandersetzen (5,12). In messianischer Autorität nimmt Jesus nun in V. 34–37 Stellung: Ich aber sage euch … Der Spitzensatz und zugleich Grundsatz besteht lediglich aus drei griechischen Worten: μὴ ὀμόσαι ὅλως [mē omosai holōs] = Ihr sollt überhaupt nicht schwören! (V. 34). Um diese Weichenstellung richtig zu verstehen, muss man sich zunächst daran erinnern, dass Jesus zu seinen Jüngern spricht (euch – ihr). Er formuliert also kein Gesetz für das Rechtsleben eines Staates. Deshalb ist es verfehlt, auf Num 5,11ff oder ähnliche Teile des AT zu verweisen und dann am Ende die Folgerung zu ziehen, Jesus stehe hier in einem Gegensatz zum AT. Mit Recht sagt R.V.G. Tasker: „His prohibition is limited to personal relationships and does not apply to the taking of an oath in a civil court of law.“225 Von da aus versteht man es, dass Jesus im Prozess selbst unter Eid aussagte (Mt 26,63f). Jak 5,12 bestätigt, dass es sich allein um eine Anweisung für die Gemeinde handelt („meine Brüder“). Klar ist dann auch, dass Gott selbst schwören kann, um unsern schwachen Glauben zu stützen (vgl. Hebr 6,13ff; 7,20ff; Gen 22,16; 50,24). Im Übrigen mahnt das AT bei Gelübden zur Vorsicht (Koh 5,4). Halten wir positiv fest: Für das Gemeindeleben verbietet Jesus den Schwur. Das Reden der Jünger soll wahr sein, auch ohne Schwur. Damit ist er radikaler als der Prediger oder Ben Sira, die nur zur Vorsicht mahnten (Koh 5,4; Sir 23,9ff; 27,15). Er ist auch radikaler als die Essener, die beim Eintritt „furchtbare Eide schwören“ (ὅρκους … ὄμνυσι φρικώδεις [horkous … omnysi phrikōdeis]) und die Schwurpraxis der Gelübde fortsetzen.228 Erst recht wird durch Jesu Wort „die christliche Gemeinde von der jüdischen Praxis des Schwörens geschieden. Um der Gerechtigkeit willen muss man allerdings auch sagen, dass sich die Rabbinen der Zeit Jesu um Wahrhaftigkeit bemüht haben. So galt beispielsweise bei Gelübden der Grundsatz: „Er soll sein Wort nicht entweihen.“230 Aber die Eindeutigkeit der Weisung Jesu teilten sie nicht. In ihrer komplizierten Rechtsprechung kam es doch zu einem häufigen Missbrauch des Schwurs. Um der Anschaulichkeit willen nennt Jesus vier Beispiele, die sein Schwurverbot illustrieren. Das Erste ist der Schwur beim Himmel: Weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron. Dass beim Himmel geschworen wurde, zeigt auch Mt 23,22. Jesu Begründung zielt auf den Schutz des Namens Gottes. Er zitiert hier Jes 66,1: „Der Himmel ist mein Thron“ (Ὁ οὐρανός μοι θρόνος [Ho ouranos moi thronos]), vgl. Ps 11,4. Auch in der Stephanusrede wird Jes 66,1 zitiert (Apg 7,49). Fazit: Wir sollen Gott nicht zu einem Mittel machen, um unsere Wahrhaftigkeit zu unterstreichen. Hier ist klar, dass es um das dritte Gebot geht (Ex 20,7). Vers 35 nennt als zweites Beispiel den Schwur bei der Erde: noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße. Wieder haben wir ein Zitat aus Jes 66,1 vor uns: „die Erde ist der Schemel meiner Füße“ (ἡ δὲ γῆ ὑποπόδιον τῶν ποδῶν μου [hē de gē hypopodion tōn podōn mou]). Vergleiche Ps 99,5; 132,7; Klgl 2,1. Und wieder zeigt es sich, dass es Jesus um die Würde Gottes geht, die der Mensch nicht in seine Wahrheitsdiskussionen hineinziehen soll. Wir bleiben somit im Bereich des dritten Gebotes. Drittes Beispiel ist der Schwur bei Jerusalem: noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Hier zitiert Jesus aus Ps 48,3: „die Stadt des großen Königs“ (ἡ πόλις τοῦ βασιλέως τοῦ μεγάλου [hē polis tou basileōs tou megalou]). Vgl. Mt 23,16ff. Er wahrt auch hier die Grundlinie seiner Argumentation: Der Schwur bei Jerusalem berührt Gottes Würde und Heiligkeit und zieht damit Gottes Namen in unsere Diskussionen und Rechtssachen hinein. Jesus sieht hier eine Verletzung des dritten Gebotes. Nach Himmel, Erde und Jerusalem zieht Jesus in V. 36 ein viertes Beispiel heran, nämlich den Schwur beim eigenen Haupt: Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören, denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Jesus hat das Bild vom Haar gerne benutzt (vgl. Mt 10,30). Das gilt auch für die ganze Bibel (1Sam 14,45; Ps 40,13; Apg 27,34). Das Haupt steht im AT öfter für den ganzen Menschen.232 Wer bei seinem Haupt schwört, schwört bei sich selbst. Aber nicht einmal das minimalste Stück unseres Ichs steht in unserer eigenen Verfügung (vgl. Mt 6,25ff). Ein Haar kann von uns unbemerkt zur Erde fallen, aber niemals ohne Gottes Willen (Mt 10,30). Seine Farbe bestimmen nicht wir – weiß oder schwarz – sondern Gott allein. Und weil dies alles in Gottes Macht liegt, sollen wir es nicht für einen menschlichen Schwur in Anspruch nehmen. So weit zieht Jesus den Geltungsbereich des dritten Gebotes! Die Schriftzitate in V. 34 und 35 haben Zweifel erweckt, ob es sich um echte Jesusworte oder nicht vielmehr um Gemeindebildungen handelt. Davies-Allison rechnen zum originären Text nur V. 34a neben V. 33a und V. 37. Aber der Schriftbeweis gehört zur Lehre Jesu, und es ist kein Grund ersichtlich, weshalb man Teile von Mt 5,33–37 Jesus absprechen sollte. Im Gegenteil. Der evtl. um 50 n.Chr., jedenfalls aber vor 62 n.Chr. geschriebene Jakobusbrief bestätigt in 5,12, dass schon in der ältesten christlichen Tradition eine Überlieferung über das Schwurverbot existiert, die Mt 5,33–37 ganz nahe steht, einschließlich der Bezugnahme auf Himmel, Erde und „anderes“. Die Frage, ob Jak 5,12 vom Matthäusevangelium abhängig ist oder einen vor-matthäischen Ursprung hat, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. In V. 37 geht Jesus zu einer allgemeinen Wahrheitsregel über: Es sei aber eure Rede: Ja, ja. Nein, nein. Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen. Eure Rede (ὁ λόγος ὑμῶν [ho logos hymōn]) schließt alles ein, was Menschen sagen. Auffällig ist das doppelte Ja (ναὶ ναί [nai nai]) und das doppelte Nein (οὒ οὔ [ou ou]). Bauer-Aland erklären es als ein „deutliches Ja“ und ein „deutl. Nein“. Blass-Debrunner-Rehkopf setzen für unsere Epanadiplosis einen etwas anderen Akzent. Sie verstehen sie im Sinne von Jak 5,12: „Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein“, also ein wirkliches Ja oder Nein. Weil Jak 5,12 eine Art Kommentar zum Jesuswort in Mt 5,37 darstellt, ist die zweite Verstehensmöglichkeit vorzuziehen. Jesus will also ein wirkliches Ja oder Nein ohne Abstriche an deren Wahrheitsgehalt. Vor allem soll man sich nicht durch Schwüre oder andere Zusätze absichern: Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen. Auch ἐκ τοῦ πονηροῦ [ek tou ponērou] kann man doppelt interpretieren. Entweder heißt es: „es ist etwas vom Bösen = etwas Böses“, oder es heißt: es kommt vom Bösen im personalen Sinn, also vom Teufel. Die formale und inhaltliche Nähe von Mt 6,13 spricht eher für Letzteres, also die personale Deutung. Resultat: Jedes Wort der Jünger soll der Wahrheit entsprechen. Schwüre und Lüge bleiben ausgeschlossen. Wie stark Jesu Anweisung die Gemeinde prägte, lässt sich bei Paulus (2Kor 1,17) und Jakobus (5,12) nachweisen. Übrigens ist es kaum möglich, die Abfassung pseudonymer Schriften durch Christen anzunehmen, solange Mt 5,37 bei ihnen in Geltung stand. Die Wirkungsgeschichte von Mt 5,33–37 kann einige Bände füllen. Wir greifen hier nur wenige Stationen heraus. Die alte Kirche hat uns ein Dreifaches hinterlassen: 1) Sie sah Jesus nicht im Widerspruch zum AT, sondern betrachtete seine Worte als „Erfüllung und Ausdehnung“ des AT;246 2) sie ging von der Erfüllbarkeit seiner Worte aus; 3) sie sah in Mt 5,33–37 die bessere Gerechtigkeit von Mt 5,20. Im Mittelalter entzweite sich die Auslegung in der Frage, ob der Eid bei staatlichen Anlässen möglich sei oder ob auch dort ein absolutes Schwurverbot herrsche. Für ein solches absolutes Schwurverbot traten zum Beispiel die Albigenser, Katharer, Waldenser, Täufer, Mennoniten und Jansenisten ein.249 So heißt es im 7. Schleitheimer Artikel von 1527: „es ist alles Schwören verboten“. Jedoch erkannte das kanonische Recht der römischen Kirche die Möglichkeit der Eidesleistung im Staat an.251 Ebenso das lutherische Bekenntnis: Nach CA XVI sind vom Staat „aufgelegte Eide“ zu leisten (iurare postulantibus magistratibus), von Röm 13,1ff und 1Petr 2,13ff her begründet. Ebenso die Konkordienformel,253 Calvin, der Heidelberger Katechismus,255 die Anglikanische Kirche. Bei Luther finden wir beide Linien. Einmal sagt er: „ein Christenmensch … soll … nicht schwören“, ein andermal hält er den Eid sogar innerhalb der christlichen Gemeinde aus seelsorgerlichen Gründen für richtig: „Wenn ich jemand in geistlichen Nöten und Gefahr, schwach im Glauben, verzagten Gewissens oder irrenden Verstandes und dgl. sehe, da soll ich nicht allein trösten, sondern auch dazu schwören, sein Gewissen zu stärken.“ Man wird hier bei aller Achtung vor anderen Meinungen nur Klarheit bekommen, wenn man die Bergpredigt als solche ernst nimmt: als Anweisung für die Nachfolge Jesu und seine Gemeinde. Sie ist aber nicht Staatsgesetz und lässt dem Staat seinen gottgegebenen Raum nach Röm 13,1ff, also auch die Möglichkeit, von Nichtchristen und Christen den Eid zu verlangen. Dass Ulrich Luz für die „nonkonformistischen Gruppen“ schwärmt,260 kann deren Anliegen exegetisch nicht stärken. Man hat die Herkunft dieser Worte (Mt 5,33–37) von Jesus bestritten unter Hinweis auf die Amen-Worte. Aber man darf die ganz andere Kategorie der Amen-Worte nicht vermischen mit dem Schwur. Jesu Bekräftigung durch das Amen vermeidet gerade den Schwur und ist ein Hinweis auf die Wahrhaftigkeit seiner Worte (vgl. Joh 21,24; Röm 9,1). Es spricht nichts dagegen, Mt 5,33–37 auf Jesus selbst zurückzuführen. Matthäus 5,38–42 4. Gottes Urteil über das Vergelten, 5,38–42 Jesus bleibt auch hier bei der Auslegung des mosaischen Gesetzes. Allerdings verlässt er jetzt den Dekalog, was sich schon in 5,33–37 mit der starken Abstützung durch Lev 19,12 andeutete. Hier, in V. 38–42, setzt Jesus im Bundesbuch bei Ex 21,24 an, einer Bestimmung, die sich in Lev 24,20 und Dtn 19,21 wiederfindet: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn (V. 38). Jesus zitiert die erste Hälfte von Ex 21,24. Sie hat sich auch bei uns als gängiges Sprichwort durchgesetzt. Die große Leistung jener alttestamentlichen Gesetzgebung lag in der Zügelung des Rachegedankens und in der Strafgerechtigkeit. Niemand sollte über die Schuld und über den tatsächlichen Schaden hinaus haften. Für den Schaden am Auge eines andern haftete man nur bis zur Höchstgrenze des Wertes des eigenen Auges. Entsprechendes galt für den Schaden am Zahn, an der Hand, am Fuß usw. (Ex 21,23–25). Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass sich dieses sog. Talionsprinzip auch in anderen antiken Rechtsordnungen findet, z.B. im Codex Hammurapi § 196.197. Es wurde fester Bestandteil der abendländisch-westlichen Gesetze.264 In messianischer Autorität, zugleich in der Autorität des Sohnes Gottes (Mt 3,17) legt Jesus nun auch da den Willen Gottes aus: Ich aber sage euch. Ein Widerspruch zum Gesetz ist auch jetzt nicht beabsichtigt. Sein Kernsatz lautet: Ihr sollt dem Bösen nicht Widerstand leisten (μὴ ἀντιστῆναι τῷ πονηρῷ [mē antistēnai tō ponērō], V. 39). Nachdem wir πονηρός [ponēros] soeben in V. 37 personal verstanden haben, müssen wir in V. 39 dasselbe tun. Dem Bösen heißt also: dem Menschen, der uns „einen Schaden oder sonst ein Unrecht … zugefügt hat“. Den Bösen auf den Teufel zu beziehen, ist dagegen nicht möglich. Denn nach Eph 6,14ff; 1Petr 5,9 und Jak 4,7 sollen wir ihm Widerstand leisten (ἀντιστῆναι [antistēnai]). Allerdings sind die Argumente, die Günther Harder zugunsten einer neutrischen Deutung auf „das Übel“ vorträgt,268 beachtlich. Das Problem einer neutrischen Deutung liegt aber vor allem darin, dass Jesus im ganzen Abschnitt Mt 5,21–48 zum Widerstand gegen „das Böse“ / „das Übel“ auffordert! Sollte er jetzt in V. 38ff das Gegenteil verlangen? Außerdem haben es alle Beispiele in Mt 5,38–42 eben mit Menschen zu tun. Deshalb ziehen wir zusammen mit der Alten Kirche in Mt 5,37 und 39 doch die personale Deutung vor, wobei das erste Mal (5,37) der Teufel, das zweite Mal in Übereinstimmung mit Mt 5,45; 13,49 und 22,10 der böse Mensch gemeint ist. Doch was bedeutet dieser Kernsatz Jesu? Schlatter beschreibt es so: „Ihr dürft … Unrecht dulden, ohne es zu vergelten, dürft euch wehtun lassen, ohne dass ihr auch wehtut!“ Fiedler hat ebenfalls einen wesentlichen Teil des Sachverhalts erfasst, wenn er von einem „Verzicht auf das Recht, das einem zusteht“, spricht.272 Denn es kann nach dem Zusammenhang kein Zweifel daran bestehen, dass uns das Recht zusteht, Schadensersatz und Sanktionen nach dem Talionsprinzip zu fordern. Um noch einmal Schlatter zu zitieren: „Wer die Regel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, hart oder barbarisch schilt, dessen Tadel ist so lange lauter Heuchelei, solange er selbst kleine Kränkungen mit großem Leid vergilt und für jede kleine Wohltat einen unendlich großen Dank begehrt.“ Die personale Deutung des Bösen auf einen bösen Menschen schließt hier das Missverständnis aus, als wollten wir alles Übel und alles Böse wachsen und am Ende über uns selbst herrschen lassen. Nein! Nach Röm 12,21 sollen wir das Böse „überwinden“ (νίκα [nika]!). Warum dann einem bösen Menschen mit so viel Dulden, so viel Rechtsverzicht begegnen? Die erste Antwort kommt aus dem AT.274 Schon hier wird der Verzicht auf Vergeltung gepredigt (Prov 20,22; 24,29; Klgl 3,30; vgl. Röm 12,19; 1Petr 3,9). Denn Dulden führt in die Nähe Gottes und unter den Schutz seiner Liebe. Dulden bewahrt uns davor, dass wir selbst zu Sündern werden. Die zweite Antwort kommt speziell aus den messianischen Verheißungen. Prophetisch zeichnet Jesaja ein Bild des Messias und Erlösers: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes 50,6). Wer duldet, entspricht also Jesus als unserem messianischen Vorbild, wird ihm ähnlich, ja tritt in Gemeinschaft mit ihm (1Petr 2,21ff; Phil 3,10; 1Thess 5,15). Deshalb fordern uns die apostolischen Briefe zur Freude am Dulden auf (1Kor 13,7; 2Tim 2,12; 1Petr 4,13; Jak 1,12). Dies alles hat aber nur Sinn und Kraft, wenn der lebendige Gott für den duldenden, verzichtenden Menschen eintritt. Und gerade dieses Eintreten Gottes gehört zur ständigen Verkündigung der Bibel: „Harre des HERRN, der wird dir helfen“ (Prov 20,22) – „gebt Raum dem Zorn Gottes“ (Röm 12,19). Wenn ich nicht weiß, dass Gott mich nicht im Stich lässt, kann ich Jesu Anweisung niemals befolgen. So wie Jesus in V. 33–37 vier anschauliche Beispiele der Hauptthese folgen ließ, so lässt er auch jetzt wieder vier Beispiele folgen. Das Erste steht in V. 39b: wenn dir jemand eine Ohrfeige auf deine rechte Backe gibt, dem halte auch die andere hin! ὅστις [hostis] ist „jeder beliebige, der“ oder „wer auch immer“. Jesus will gerade keine Kasuistik. ῥαπίζειν [rhapizein] ist der Schlag mit der Hand ins Gesicht. Schlägt ein Rechtshänder zu, trifft er normalerweise die linke Backe des anderen. Er muss mit dem Handrücken zuschlagen, um die rechte zu treffen. Ein solcher Schlag mit dem Handrücken galt als besonders ehrenrührig. Zum Schmerz der Ohrfeige kam also der Ehrverlust hinzu. Und dennoch verlangt Jesus Unerhörtes: Nicht nur das Dulden des Schlages, sondern auch die Bereitschaft, den Ehrverlust zu tragen, ja mehr noch: das Angebot weiteren Duldens und weiterer Preisgabe der Ehre einem hässlichen Gegner gegenüber, ohne zurückzuschlagen (dem halte auch die andere hin!). Dieses Beispiel hat Jesus nicht „freihändig“ geschaffen, sondern der Schrift entnommen (Klgl 3,30; Jes 50,6). Die Kirchenväter haben an Mt 5,39 unter anderem zwei Gedanken geknüpft. Der Erste drückt die Erwartung aus, dass christliches Dulden auch böse Menschen beeindruckt und zu einer Umkehr veranlasst: „Denn wer ist so tierisch roh, daß er dadurch nicht beschämt würde?“ Der zweite Gedanke erwächst aus der Beobachtung der Realität unter Christen. So fragt Salvian von Marseille nach einem Zitat von Mt 5,39 voll Skepsis: „Wie viele, glaubt ihr, gibt es, die dieser Rede … Gehör schenken?“ Offenbar war es damals nicht anders als heute. Das zweite Beispiel zu der These V. 39a steht in V. 40: Und dem, der mit dir prozessieren und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel! κριθῆναι [krithēnai] ist hier „sich vor Gericht auseinandersetzen“, „im Rechtsstreit liegen,281 kürzer ausgedrückt: „prozessieren“. Es geht also nicht um Raub, sondern um Rechtsstreit, folglich auch um Rechtsverzicht. Den „Chiton“ trug man als Untergewand unmittelbar auf dem Leib, das ἱμάτιον [himation] als Obergewand oder Mantel darüber. Dabei war der Mantel als unentbehrliche Decke der Armen beim Schlafen prozessrechtlich besser geschützt als das Untergewand (Ex 22,25f; Dtn 24,13). Jesus sagt also: Lass dem Prozessgegner nicht nur das, worum er prozessiert und was er im Falle seines Obsiegens leicht nehmen kann, nämlich das Untergewand, sondern sogar das, was für ihn höchstens mit Einschränkungen zu bekommen ist, nämlich den Mantel. Auffallenderweise gibt er auch hier keine Begründung. Ist das nun das Ende des Rechtslebens? Der Beginn einer schrankenlosen Herrschaft der Bösen? Keineswegs. Denn Jesus „organisiert“ nicht die Gewaltlosigkeit als neue „Bewegung“, schafft keine neue Politikform wie unsere modernen Nicht-Regierungs-Organisationen. Viel weniger hebt er das Recht auf (vgl. V. 38), geschweige denn, dass er ein neues Staatsgesetz schafft. Es geht vielmehr um das persönliche, individuelle Verhalten des Jüngers, der ein Zeugnis seines Glaubens gibt und auf Gott vertraut (Prov 20,22; Jes 50,7). Genau diese Linie nimmt Paulus in 1Kor 6,1–8 auf. V. 41 bildet das dritte Beispiel: Und wenn dir einer eine Meile Frondienst auferlegt, dann gehe mit ihm zwei! Es ist erstaunlich, wie viele unserer Sprichwörter aus diesem Teil der Bergpredigt stammen: „Auch die andere Backe hinhalten“; „Wer deinen Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel“; „Auch die zweite Meile gehen“; „Gib dem, der dich bittet“ (Lutherübersetzungen). Das zeigt, dass Jesus mitten ins Leben getroffen hat. Die wenigen Worte in V. 41 sind stark vom Lateinischen geprägt. Meile, μίλιον [milion], ist aus milia passuum (tausend Schritte) abgeleitet, zwingen, ἀγγαρεύειν [angareuein], ursprünglich persisch oder babylonisch, wohl vom lateinischen angariare nahegelegt. Dieses zwingen hat den Sinn von „zur Fron für den Beförderungsdienst heranziehen“. Der unterworfenen Bevölkerung des Römischen Reiches oblagen Transportleistungen für die Römer (vgl. Mt 27,32), die man meist mit Unwillen oder Hass erbrachte. Und nun sagt Jesus: Leiste freiwillig das Doppelte – zwei Meilen! Dass er dies als Jude zu Juden sagte, die sich damals schon mitten im Guerillakrieg gegen Rom befanden, macht seine Worte umso erstaunlicher. Irenäus hat den Sinn von Mt 5,41 ausgezeichnet getroffen, wenn er erklärt: „damit du ihm nicht wie ein Sklave folgst, sondern ihm wie ein Freier vorangehst, indem du dich in allem für den Nächsten dienstbereit und nützlich erweist“. Mit Recht sieht er darin schon die Vollkommenheit von Mt 5,45.48 angedeutet. Das Glaubenszeugnis der Jünger bezieht nach Mt 5,41 unstrittig auch die Heiden mit ein. Im Übrigen konnte Jesus aufgrund von Mt 5,41; 9,11; 22,15ff; Lk 13,1ff so prorömisch erscheinen, dass ihm der Talmud bis heute vorwirft; „er stand der (römischen) Regierung nahe“. Dass er sich von den Zeloten kräftig unterschied, ist sicher.290 Im vierten Beispiel (V. 42) verbinden sich die Stichworte geben und leihen: Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir leihen will! Die alttestamentlichen Bezugsstellen sind hier vor allem Dtn 15,7f, sodann Ex 22,24; Lev 25,35ff; Dtn 23,20. Überraschenderweise begnügt sich Jesus damit, diese Barmherzigkeitsgebote erneut einzuschärfen. Hier würde niemand auf den Gedanken kommen, dass eine „Antithese“ vorliegt. Die alttestamentlichen Bezugsstellen machen auch klar, dass Bittende und Leihende wirklich Bedürftige sind. Wer nur etwas „herausschlagen“ will, kann sich nicht auf Mt 5,42 berufen (Dtn 15,7: „Wenn einer deiner Brüder arm ist“ – Lev 19,11: „Ihr sollt nicht betrügerisch handeln einer mit dem anderen“). Allerdings hat Jesus eine Begrenzung aufgegeben, die noch in Dtn 15,7f usw. vorliegt, nämlich die Begrenzung auf den „Bruder“ als Volksgenossen. Jesus erweitert hier auf alle Menschen. Wir versuchen, Mt 5,38–42 kurz zusammenzufassen: 1) Diese wenigen Worte Jesu haben die christliche Tradition und Kirche tief geprägt. Die frühen Überlieferungen in der Didache (I,4f), bei Justinus (Apol I, 16,1f) und bei Irenäus (Adv. haer. IV, 11,4ff), und dann bei den Kirchenvätern, ja bis hin zu den Sprichwörtern Deutschlands legen davon Zeugnis ab. Die Literatur ist fast unendlich.295 2) Auch Mt 5,38–42 darf nicht als Gegensatz zum AT gesehen werden. Vielmehr legt Jesus aufgrund des AT aus, was der wahre Gotteswille ist. Er tut dies in seiner messianischen Vollmacht und Autorität. 3) Mt 5,38–42 ist kein Angriff auf die Rechtsordnung. Wieder ist daran festzuhalten, dass die Bergpredigt kein Staatsgesetz darstellt. Sie stellt vielmehr dar, wie wir als Christen und Jünger Jesu ein Zeugnis von unserem Glauben durch „gute Werke“ (Mt 5,16) geben können. 4) Im Vordergrund steht hier Dulden, Verzicht und Barmherzigkeit. Matthäus 5,43–48 5. Vollkommenheit in der Liebe, 5,43–48 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde (V. 43) wiederholt wörtlich V. 38 und 27. Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen ist ein Mischzitat. Seine erste Hälfte stammt aus Lev 19 (V. 18), dem Kapitel, das Jesus abgesehen vom Dekalog am häufigsten ausgelegt hat. Du sollst deinen Nächsten lieben bildet das erste Grundmotiv für die Verse 43–48. Ergänzt um die Worte „wie dich selbst“ ist es für Jesus neben dem Schma Jisrael (Dtn 6,5) das höchste Gebot (Mt 22,34ff). Er hat es immer wieder ausgelegt (Mt 5,43ff; 19,19; 22,34ff; Lk 10,27) und die apostolische Verkündigung ist ihm darin gefolgt (Röm 13,9f; Gal 5,14; 1Joh 4,7ff; Jak 2,8). Doch woher stammt die zweite Hälfte: und deinen Feind hassen? Die manchmal herangezogenen Stellen Ex 34,12; Dtn 7,2; 23,7 betreffen eine andere Problematik und helfen uns hier nicht weiter. Im Gegenteil: Eine Reihe von Stellen im AT ermutigt sogar zur Feindesliebe (Lev 19,33f; Ex 23,4f; Prov 25,21f). So müssen wir annehmen, dass deinen Feind hassen eine Formel von damaligen Schriftgelehrten wiedergibt, die die Erlaubnis zu Ausnahmen vom Liebesgebot erteilen wollten. Dafür spricht die Gemeinderegel von Qumran, die „ewigen Hass gegen alle Männer des Verderbens“, das heißt gegen alle Nicht-Essener, vorschreibt. Dafür sprechen ferner die Vergeltungsgedanken in den pharisäischen Ps Sal 2,25ff. Nach Otto Michel „kennt auch die rabb Überlieferung den erlaubten, ja den gebotenen Haß“. Im Anschluss an Strack-Billerbeck298 sieht er in V. 43b „eine populäre Maxime“. Eine weitverbreitete Maxime ist aber nicht nachweisbar. In königlich-messianischer Vollmacht (Ich aber sage euch) legt Jesus das „königliche Gesetz“ (Jak 2,8) der Liebe aus: Liebt eure Feinde und betet für eure Verfolger (V. 44). Die Ersetzung von τὸν πλησίον [ton plēsion] durch τοὺς ἐχθρούς [tous echthrous] eröffnet neue Räume. Auch mein Feind kann im Sinne der Bibel „mein Nächster“ sein, nämlich der Mensch, den mir Gott vor die Füße gelegt hat (Lk 10,29ff). Jesus bewegt sich hier nicht in der Welt der Ideologien und der Programme, nicht einmal der religiösen. Es kommt, wie Julius Schniewind wieder und wieder betont hat, auf das „Vor Gott stehen“ an. Auch Gottesfeinde sollen zum Glauben bewegt werden. Im praktischen Leben erweist sich die Feindesliebe als „ein hartes Gebot“, wie schon Fulgentius von Ruspe feststellte. Wir weichen ihr schon aus, wenn wir sagen, wir hätten keine Feinde. Sind unsere Feinde die eigenen Hausgenossen (Mt 10,36), mit denen wir täglich zusammenleben, wird es besonders hart. Für die Kirche aber, die von weltlichen Machthabern und fremden Religionen unterdrückt wird, ist die Liebe zu den Verfolgern menschlich nicht mehr vorstellbar. Dennoch greift Jesus diesen vielleicht schwersten Fall heraus, um sein Liebesgebot außerhalb aller Zweifel zu stellen: und betet für eure Verfolger. Lk 6,27ff berichtet in der Sache dasselbe. Hier taucht mit Wucht noch einmal die Frage auf, die uns durch die ganze Bergpredigt begleitet: Wer kann das? Die Antwort gibt das NT selbst: Nur die Liebe, die der Heilige Geist den Gläubigen schenkt (Röm 5,5; 1Kor 12,31ff). Es gehört zu den erstaunlichen Taten der apostolischen Generation, dass sie diese Worte Jesu ohne Einschränkungen weiter überliefert hat (vgl. auch Röm 12,14.20; 1Kor 4,12; 1Petr 2,20ff; 3,9). Jesus selbst ist das leuchtende Beispiel (Lk 23,34; 1Petr 2,21ff). Aber auch Stephanus hat uns ein Vorbild hinterlassen (Apg 7,60). Auf einen wichtigen Punkt hat unter anderen Augustinus unsere Aufmerksamkeit gelenkt. Er schreibt: „Gewiß, wie ich denke, befiehlt uns der himmlische Meister nicht, die Gottlosigkeit zu lieben, wenn er uns befiehlt, unsere Feinde zu lieben.“ In der Tat: Unsere Liebe kann weder dem Feind schlechthin, dem Teufel (Mt 13,25ff), gelten, noch der Gottlosigkeit, noch der Irrlehre. Hier gibt es nur Trauer, Scheidung, Widerstand, ja „Kampf“. Aber die Menschen, die den Teufel, die Gottlosigkeit oder die Irrlehre gewählt haben und die auf diese Weise unsere weltlichen oder geistlichen Verfolger werden, sollen wir nicht aufhören zu lieben. In einer überraschenden Weise, wie es uns bisher nicht begegnet ist, bringt jetzt V. 45 den Vergleich mit Gott: damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Hier lässt sich γένησθε [genēsthe] doppelt übersetzen: ihr werdet oder „ihr seid“ bzw. „ihr erweist euch“.307 Mit unserem früheren Kommentar bleiben wir bei ihr werdet. Denn für ein „ihr seid“ hätten ja die Formen von εἶναι [einai] zur Verfügung gestanden, und auch der parallele V. 48 hat futurischen Sinn. „Kinder Gottes“ sind die Jünger noch nicht im Sinne des NT, sondern sie sollen es durch Christi Wirken erst werden (vgl. Joh 17,1ff). Sohn Gottes kann Israel heißen (Hos 11,1). Sohn Gottes ist der Messias (Jes 7,14; 9,5; Ps 2,7; 89,27ff; 2Sam 7,14). Wenn jetzt die Jünger Söhne des Vaters im Himmel = Gottes werden sollen, werden sie zur Würde des wahren Israel, ja zu einer Würde als Brüder des Messias erhoben (vgl. Mt 28,10; Mk 3,34f; Hebr 2,10ff). Die Übersetzung „Kinder eures Vaters im Himmel“ verwischt leider dieses Profil und führt den Leser nur zur Annahme eines allgemeinen „Menschenkinder“-Begriffes. Die Übersetzung „Töchter und Söhne Gottes“ der „Bibel in gerechter Sprache“ macht daraus vollends ein bürgerliches Familienidyll. Stattdessen ist mit Eduard Schweizer daran festzuhalten, dass die Sohnschaft in Mt 5,45 „nicht eine natürliche gegebene“ ist, sondern erst durch die Vaterliebe Gottes und unsere Gemeinschaft mit ihm zustande kommt. Gott als himmlischer Vater gehört seit früher Zeit zu den Glaubensinhalten Israels (Dtn 32,6; Jes 1,2f; 63,15f; 64,7; Jer 3,19; Hos 11,1). Ebenso ist diese Bezeichnung Gottes den Rabbinen und der Synagoge wohlvertraut, nicht nur aus den biblischen Stellen, sondern auch als Gebetsanrede.312 Niemals musste Jesus seinen Hörern erklären, was das denn sei: Vater im Himmel. Er konnte es als bekannt voraussetzen. Nun hat man aufgrund von Lk 6,35, wo von „Söhnen des Allerhöchsten“ die Rede ist, gegen Mt 5,45 Einwände erhoben. Man sah das Vater im Himmel, wörtlich „in den Himmeln“ (= aram. בִּשְׁמַיָּא [bischmajjāʾ], hebr. בַּשָּׁמַיִם [baschschāmajim]), als matthäische Formulierung an, die Jesus selbst nicht gebraucht habe, und betrachtete es als eine Art Rejudaisierung. Es gibt für diese Annahme aber, außer der Berufung auf ein rein hypothetisches Q, keine Begründung. Gottlob Schrenk kommt denn auch zu dem Ergebnis: „Ohne die Frage pedantisch-biographisch lösen zu wollen, können wir sagen: Jesus wird sowohl „Vater“ wie „Vater in den Himmeln“ gesagt haben.“ Wir schließen uns diesem vernünftigen Urteil Schrenks an. Beim Vaterunser (Mt 6,9) kommen wir auf die Wendung Vater in den Himmeln (ὁ πατὴρ ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ho patēr ho en tois ouranois]) noch einmal zurück. Hier sei nur noch zweierlei festgehalten: 1) Der himmlische Vater ist eine Art Leitfaden durch die Bergpredigt (Mt 5,16.45.48; 6,1.4.9.14.15.18.26.32; 7,11), 2) Der Vater in den Himmeln vereinigt in unüberbietbarer Weise beides: größte Nähe und höchste Erhabenheit. Das ist also der Maßstab für die Jünger: das Handeln und das Sein Gottes. Jesus illustriert dies in der zweiten Hälfte von V. 45: Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und über Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Was er sagt, ist alles andere als selbstverständlich. Denn Gott kündigt dem ungehorsamen Israel an, dass er „euren Himmel wie Eisen und eure Erde wie Erz machen will“ (Lev 26,19; Dtn 11,17; 28,23f; 1Kön 17,1). Dennoch gibt es gerade im AT auch die Erfahrung der wunderbaren Güte Gottes, der dem götzendienerischen Volk wieder Regen schenkt (1Kön 18,44f), der Jona den Rhizinus aufwachsen lässt (Jona 4,6) und dessen weltumspannende Güte Paulus in Ikonion und Athen rühmt (Apg 14,17; 17,25). Man vgl. die Gottesbekenntnisse Israels in Ex 34,6; Ps 103,8; Jona 4,2; Nah 1,7. Man vgl. ferner Gottes Wohltaten an Bösen und Guten in Mt 13,47f; 22,10. Es ist ja seine Sonne, die den Menschen Licht und Wärme gibt, sein Regen, der uns nährt. Offenbar ist gerade dieser Gedanke von der Liebe und Güte Gottes bei Jesus besonders stark (vgl. wieder Mt 5,45; 13,47f; 20,15; 22,10; Joh 3,16). Die Apostel haben ihn aufgenommen (vgl. Röm 5,8; 1Joh 4,7ff; Jak 5,11.20). Bis heute wird die Christenheit dadurch geprägt, wie es die Zeilen von Paul Gerhardt zeigen: „Wer hat das schöne Himmelszelt hoch über uns gesetzt? Wer ist es, der uns unser Feld mit Tau und Regen netzt?“ Vers 46 beleuchtet noch einmal das Gebot der Feindesliebe: Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dann? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Gegenliebe für die, die uns lieben, ist ein völlig normaler, fast automatischer Vorgang: bei Tieren und bei Menschen. Allerdings bleibt bei der heutigen Destruktion der Moral auch dieses „Normale“ häufig aus. Jesu Prophezeiung „dann wird die Liebe in vielen (wörtlicher: der Vielen) erkalten“, erfüllt sich auch in diesen „normalen“ Verhältnissen (Mt 24,12). Für die damalige Lebenserfahrung jedoch konnte Jesus vom Tatbestand „Gegenliebe für Liebe“ ausgehen. Es war die allgemeine Regel „do, ut des“ („ich gebe, damit du gibst“), die man auch den Göttern gegenüber anwandte. Welchen Lohn habt ihr dann (τίνα μισθὸν ἔχετε [tina misthon echete]): Das Wort vom Lohn ist philosophisch höchst verdächtig. Gotthold Ephraim Lessing, ein führender Dichter und Denker der Aufklärung in Deutschland, sehnte sich nach einer Zeit, in der der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind“. Aber Lohn im Sinne der Bibel ist ein Gottesgeschenk. Das merkt man schon daran, dass Gott selbst unser Lohn sein kann (Gen 15,1). Dieses Gottesgeschenk hat aber nur dort Platz, wo es angenommen wird, anders formuliert: wo man in der Gemeinschaft mit Gott lebt. Insofern besteht ein enger Zusammenhang mit Gehorsam und Erfüllung des Gebotes. Es ist biblisch nicht möglich, dass Gott denen, die ihm dienen, sein Lob und seinen Lohn versagt. Vielleicht trifft der Ausdruck „wohltuende Vergeltung“ die biblische Vorstellung vom „Lohn“ am besten. Insofern trifft für beide Testamente zu, was das Lexikon der katholischen Dogmatik bezüglich des AT sagt: „Mit Lohn meint das AT … keinen Rechtsanspruch, sondern eine Belohnung aus Gnade.“ Weil das Prinzip „Liebe gegen Liebe“ nur dem natürlichen Trieb folgt, aber weder die Gemeinschaft mit Gott noch die Erfüllung seines Willens voraussetzt, verneint Jesus, dass es Gottes Lob und wohltuende Vergeltung (Lohn) findet. Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Jesus legt hier die „gängige Einschätzung“ der Zöllner zugrunde. In der damaligen jüdischen Gemeinschaft galten die Zöllner als unrein, als Diebe und Räuber.320 Dabei bezeichnet der Begriff τελώνης [telōnēs] „eine Person, welche die Ausübung staatlicher Besteuerungs- u[nd] Abgaberechte dem Staat abkauft … u[nd] die Abgaben von den Schuldnern eintreibt“. Kurz gesagt: Es handelt sich um Zoll- und Steuerpächter. Innerhalb des Römischen Reiches unterschied man die vornehmen und kapitalstarken publicani von deren Angestellten, den portitores, die im eigentlichen Sinne Zöllner genannt wurden. In der Regel hatte man es im Israelland mit Letzteren zu tun. Dass sie, unter dem Druck von Staat und Gesellschaft und von den religionsstrengen Israeliten ausgegrenzt, untereinander zusammenhielten, war sehr natürlich. Dass Matthäus, selbst ehemaliger Zöllner, das zöllnerkritische Wort Jesu323 in 5,46 überliefert, zeigt seine verlässliche Treue zur Lehrtradition Jesu. Vers 47, eine Art Doppel zu V. 46, führt diese Argumentation noch einmal vor Augen: Und wenn ihr nur (μόνον [monon]) eure Brüder grüßt, was tut ihr dann Besonderes (περισσόν [perisson])? Tun nicht sogar die Heiden dasselbe? Der Grundgedanke ist klar. Doch fallen einige Einzelheiten auf. Dazu gehört das μόνον [monon] (nur). Man soll also durchaus seine „Brüder“ grüßen – aber nicht nur! Der μόνον-Gebrauch [monon] in Mt 5,47 erinnert stark an den des Jakobus (1,22; 2,24). Sodann hat das grüßen (ἀσπάζεσθαι [aspazesthai]) im biblischen Kontext eine besondere Bedeutung. Nach Hans Windisch ist der Gruß „bei den Juden eine gewichtige Zeremonie“. Grüßen geschah durch „Umarmung, Kuß, Reichen der Hand, unter Umständen auch Proskynese … und in Worten, vor allem der Grußformel“. Weil grüßen so gewichtig ist und Gemeinschaft herstellt, untersagt man es gegenüber Irrlehrern (2Joh 10). Weil es viel Zeit in Anspruch nimmt, kann es bei eiligen Missionaren unterwegs nur hindern (Lk 10,4). Aber Jesus hat es jetzt nicht mit solchen Sonderfällen zu tun, sondern mit der Alltagspraxis. Und da ist es üblich, dass derjenige, den man ehren will, zuerst gegrüßt wird (vgl. Mt 23,6f; Mk 12,38; Lk 20,46; 11,43). Die Formulierung wenn ihr grüßt setzt voraus, dass sie, die Jünger, die zuerst Grüßenden sind. Das dürfen sie im Blick auf ihre Brüder durchaus tun. „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor“, schreibt Paulus (Röm 12,10). Was sind die Brüder? Mit Zahn kann man von Lev 19,18 her an die „Volksgenossen“ = Mitisraeliten denken. Oder sind es die Mit-Jünger?330 Eher Letzteres, dem sonstigen Sprachgebrauch bei Mt entsprechend (Mt 7,3ff; 18,15ff.21; 25,40ff; 28,10). Nur seine Brüder grüßen, genügt nicht, um den Willen Gottes zu erfüllen: Denn sogar die Heiden tun dasselbe, wenn sie den Banden des Blutes, der Sprache und der Kultur folgen. ἐθνικοί [ethnikoi] sind die „Heidnischen“ außerhalb Israels, die nach landläufiger Meinung – von Jesus auch hier aufgenommen – das Gesetz Gottes weder kennen noch befolgen. Zöllner und Heiden werden hier wie in Mt 18,17 nebeneinandergestellt. Und was ist das Besondere (περισσόν [perisson]), das, „was hinausgeht über das sonst Übliche“? V. 44 gibt die Antwort: Aus der Feindesliebe heraus auch die Widerwärtigen und Widersacher zuerst grüßen. Den jüdischen Lehrern war die Anweisung von Mt 5,47 nicht ganz fremd. Man erzählte zum Beispiel von Rabbi Jochanan ben Zakkaj, einem Zeitgenossen der Apostel, „daß ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße“. Jesu Gesetzesauslegung nach dem Bericht des Matthäus schließt mit V. 48: Darum sollt ihr336 vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Für uns ist Jesu Wortgebrauch an dieser Stelle etwas überraschend. Wir könnten uns eher Wendungen wie „lieben, wie euer Vater liebt“, „gerecht sein (vgl. V. 20), wie euer Vater gerecht ist“, „treu sein, wie euer Vater treu ist“ (vgl. 1Thess 5,24; 2Thess 3,3) oder Ähnliches vorstellen. Stattdessen spricht Jesus von τέλειος [teleios], vollkommen. Dieser Begriff hat in der griechischen Philosophie eine hervorragende Bedeutung, wobei es inhaltlich „um das ganze Menschsein“ geht und um die vollkommene Tugend (ἀρέτη [aretē]), „die verwirklicht werden sollen“. Wir müssen jedoch auf das Alte Testament zurückgehen, um den Sinn der Worte Jesu zu erfassen. Von den für τέλειος [teleios] vorgeschlagenen hebr. Äquivalenten כָּלִיל [kālīl], שָׁלֵם [schālem] und תָּמִים [tāmīm] kommt wohl primär das zuletzt Genannte infrage. Denn שָׁלֵם [schālem], das Delling stark heranzieht, ist doch sehr stark von den Aussagebereichen „vergelten“, „Gelübde erfüllen“ und „Ersatz leisten“ geprägt,342 was in Mt 5,48 kaum Sinn ergibt. Anders die Wurzel tmm. Mit ihr ist „die Vorstellung von einer Ganzheit, einer Vollständigkeit ohne jeglichen Abstrich“ verbunden. Mehr noch: Die Wurzel tmm „weist äußerst viele Belege auf“, die „beinahe ausschließlich in den Bereich moralisch-sittlicher Bewertung“ gehören. Das aber ist der Bereich, den wir auch in Mt 5,48 vorfinden. Und nicht zuletzt: Gott selbst wird im AT vollkommen (תָּמִים [tāmīm]) genannt. „Vollkommen ist sein Tun“ (תָּמִים [tāmīm]) nach Dtn 32,4, „vollkommen ist sein Weg“ nach 2Sam 22,31; Ps 18,31 (תָּמִים [tāmīm]), vollkommen sein Gesetz nach Ps 19,8 (תְּמִימָה [tᵉmīmāh]). Deshalb sollen die Menschen seines Volkes ebenfalls תָּמִים [tāmīm] = vollkommen, „ungeteilt“, „ganz und gar“ bei ihrem Gott sein (Dtn 18,13). Fazit: Jesus greift in Mt 5,48 nicht auf ein menschliches oder philosophisches Vollkommenheitsideal zurück, sondern auf Aussagen des Alten Testaments. Ihnen zufolge eignet Gott eine uneingeschränkte Vollkommenheit in Sein und Handeln. Der mit ihm verbundene Mensch aber hat das Ziel, ihm ähnlich zu werden, und zwar dadurch, dass er Gott ungeteilt und ganz und gar gehört und vollkommen nach seinem Willen lebt. Genau dies bringt nun Jesus zum Ausdruck mit den Worten: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Zusätzlich sei bemerkt, dass die LXX an den oben genannten alttestamentlichen Stellen mit der Übersetzung τέλειος [teleios] vorsichtig ist und meist ἄμωμος [amōmos] gebraucht. Der Grund könnte darin liegen, dass sie das philosophisch befrachtete τέλειος [teleios] als gefährlich ansah. Anders in Dtn 18,13. Das dortige τέλειος ἔσῃ [teleios esē] kommt Mt 5,48 sehr nahe. Anders auch die Apostel, die offenbar τέλειος [teleios] ohne große Hemmungen benutzten, relativ markant Jakobus (1,4; 1,17; 1,25; 3,2), aber auch Paulus (Röm 12,2; 1Kor 2,6; 14,20; Eph 4,13; Phil 3,15; Kol 1,28; 4,12), der Hebräerbrief (5,14) und Johannes (1Joh 4,18). Vgl. Mt 19,21. Zu Gott als Vater / die Jünger als „Söhne“ und Gottes Kinder vgl. die Erklärung bei V. 16.45. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Vollkommenheit und Liebe nach Mt 5,43–48 aufs Engste zusammengehören. Es zeichnet sich ab, dass für Jesus das Liebesgebot ein Spitzengebot ist (vgl. Mt 22,34ff; Lk 10,25ff; Joh 13,1.34f; Röm 13,10; Jak 2,8). Matthäus 5,43–48 IV Zusammenfassung 1. Die Aussagen in Mt 5,21–48 sind von einzigartiger Prägnanz und Sprachkraft. 2. Sie beeindruckten sogar kritische Theologen so stark, dass sie geneigt waren, viele dieser Aussagen auf Jesus selbst zurückzuführen. Typisch ist hier, was einst Rudolf Bultmann zu Mt 5,44–48 schrieb: „Wenn irgendwo, so muß hier das Charakteristische der Verkündigung Jesu zu finden sein.“ 3. Dennoch bleiben manche Passagen schwierig. Beispielsweise urteilt R.V.G. Tasker über Mt 5,21–26, es sei eine „very difficult passage“. 4. Insbesondere steht das Verhältnis Jesu zu den jüdischen Rabbinen zur Diskussion, noch allgemeiner formuliert: das des NT zum Talmud. Man kann die Tendenz der letzten Jahre so kennzeichnen, dass die christliche Auslegung eher bereit war, jüdische Parallelen anzuerkennen. Das gilt etwa im Blick auf b Schab 88b, wo diejenigen gepriesen werden, „die gedemütigt werden, ohne zu erwidern, die aus Liebe [die Gebote] ausüben und der Züchtigungen froh sind“, oder im Blick auf b Ber 17a, wo von Rabbi Jochanan ben Zakkaj (1. Jh. n.Chr.) rühmend erzählt wird, „daß ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße“. Da die christliche Exegese aber die Neigung zu Extremen hat, droht auch die Gefahr, Jesus ganz in das Rabbinat einzuebnen. Dieser Gefahr ist offensichtlich der Kommentar von Peter Fiedler erlegen. Wir müssen nicht krampfhaft die Originalität Jesu vertreten, als habe nur er und als habe er als Erster etwas gesagt. Was aber bleibt, ist seine Gottessohnschaft und seine Messianität, und damit seine Einzigartigkeit und Autorität. Nur er kann in göttlicher Vollmacht (Mt 7,29) sagen, was Gottes vollständiger Wille ist: in Bestätigung, Erklärung und Weiterführung der alttestamentlichen Gesetzgebung. Im Übrigen sind seine Aussagen in aller Regel früher als die der talmudischen Rabbinen. 5. Dagegen muss man denen zustimmen, die wie Fiedler der Meinung sind, es sei „notwendig, die irreführende Bezeichnung „Antithesen“ aufzugeben. Unsere Kommentararbeit hat gezeigt, dass Jesus Gesetz und Propheten festhält (Mt 5,17ff) und nicht gegen sie, sondern in ihrem Sinne argumentiert. Irenäus von Lyon behält recht: Er „löst … das Gesetz nicht auf, sondern erfüllt es und erweitert es“. 6. Wie schon die Einleitung der Bergpredigt klargemacht hat, legt Jesus in Mt 5–7 kein Staatsgesetz nieder, sondern trifft Anweisungen für die Glaubensnachfolge. Jeder Grenzverschiebung ins Politische ist zu widerstehen, mögen auch Politik und Gesellschaft, ja sogar andere Religionen, viele wertvolle Anregungen und Ideen aus der Bergpredigt schöpfen. Auf der anderen Seite gerät vor allem die protestantische Auslegung in die Gefahr, jesuanische Paränese und Rechtsordnung voneinander zu trennen, so etwa Ulrich Luz, der von einer „Abwertung des Rechts“ bei Jesus spricht, der „die Paränese … der geltenden Rechtsordnung antithetisch gegenüberstellt“. Aber die Bergpredigt zielt darauf, der Gemeinde die Richtung vorzugeben, in der sie Gemeindeleben und Kirchenrecht gestalten soll. 7. In einer eigenartigen Spannung zu jener Abwertung der Rechtsordnung steht die Vorliebe, die gerade jüngere Kommentare für „nonkonformistische Gruppen“ und „kleinere Gemeinschaften“ entwickeln, die nach Ansicht ihrer Verfasser die Bergpredigt eher umgesetzt hätten. Dass alle Kirchen und Gemeinschaften die Bergpredigt immer wieder zur Seite geschoben haben, ist richtig. Aber die viel geschmähten Großkirchen haben durch ihre Überlieferung der ganzen Schrift und ständige Erneuerungs-und Erweckungsbewegungen nicht weniger als andere Kirchen und Gemeinschaften versucht, die Bergpredigt zu befolgen. 8. Es ist eine positive Entwicklung, dass wieder neu nach der Umsetzbarkeit der Bergpredigt gefragt wird. Ist zum Beispiel „die Feindesliebe eine utopische Forderung?“ Ist die Bergpredigt erfüllt, wenn wir wie die alten Rabbinen „einen menschlichen Umgang“ pflegen?357 Und erreichen wir diesen menschlichen Umgang durch unsere menschliche „Selbstsucht“? Schniewind sah hier wohl tiefer, wenn er die Botschaft der Bergpredigt so auffasste, dass sie „jeden Hörer Jesu bis aufs Letzte verurteilt“.359 Nur in Jesus ist ihm zufolge die Erfüllung gegeben. Deshalb versteht er „die Verkündigung des Kreuzes“ als „eine Entfaltung der Bergrede“.361 Unsere Antwort auf die oben gestellten Fragen bewegt sich in dieselbe Richtung: Die Bergpredigt führt uns zum Kreuz. Erst die Erlösung durch Jesu Kreuzestod bringt uns die Kräfte des Geistes, die mit der Erneuerung des Herzens auch die Freude an der Erfüllung der Bergpredigt geben. Vollständig wird unsere Nachfolge zwar nie in diesem Leben (vgl. Röm 7,18f). Aber wir haben den Willen und die Freude, sie praktisch umzusetzen, weil „Jesus das wirkliche Tun erwartet“ und nicht nur eine Gesinnungsethik oder eine Interimsmoral.363 Matthäus 6,1–18 6. Wahre Frömmigkeit, 6,1–18 Matthäus 6,1–18 II Struktur Nahezu unumstritten ist, dass Jesus in Mt 6,1–18 drei zentrale Bereiche alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit anspricht: Almosen, Gebet und Fasten. Sie haben auch im Islam zentrale Bedeutung. Dagegen hat im westlichen Christentum nur das Gebet seine zentrale Bedeutung behauptet. Anders ist es im orthodoxen und orientalischen Christentum. Eigenartigerweise und ganz gegen Matthäus nehmen moderne Ausleger die Verse 6,9–13, das Herrngebet, aus dem Ganzen des Abschnitts 6,1–18 heraus und behandeln sie als „Sonderüberlieferung“, so z.B. Davies-Allison als „Excursus IV“ oder Schniewind4. Über die Wortfelder προσεύχεσθαι [proseuchesthai], πατήρ [patēr] und ὑμεῖς [hymeis] sind jedoch Mt 6,5ff und 6,9ff viel zu eng miteinander verzahnt, als dass man sie auseinanderreißen dürfte. Προσέχετε [prosechete] ist gegenüber dem fünffachen Ἠκούσατε [Ēkousate] in 5,21–48 ein unbestreitbarer Neueinsatz. Dasselbe gilt für Μὴ θησαυρίζετε [Mē thēsaurizete] in V. 19 gegenüber den Versen 1–18. So weist V. 1–18 stilistisch eine große Geschlossenheit auf. Innerhalb von Mt 6,1–18 bedeutet das wiederholte ὅταν [hotan] bzw. ἐάν [ean] (V. 2.5.6.14.15.16) eine prägende Stilfigur. Die sog. „Antithesen“ und das „Ich aber sage euch“ sind verschwunden. Stattdessen regelt Jesus das Verhalten für den Fall, dass die Jünger Almosen geben, beten und fasten. Seine Worte haben also ermutigende, korrektive und komplettierende Bedeutung. Davies-Allison ist darin zuzustimmen, dass V. 1 eine Einleitung darstellt, „a general statement of principle“. Von daher ergibt sich die Gliederung: 1. Einleitung und Generalanweisung V. 1, 2. Worte zum Almosen V. 2–4, 3. Worte zum Gebet V. 5–15, 4. Worte zum Fasten V. 16–18. Matthäus 6,1 1. Allgemeine Anweisung, 6,1 Der Generalsatz lautet: Gebt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht vor den Menschen praktiziert, um ihnen ein Schauspiel zu bieten (V. 1). προσέχειν [prosechein] heißt hier achtgeben, „aufpassen“. Bauer-Aland und Blass-Debrunner-Rehkopf schlagen an unsrer Stelle „sich hüten, dass“ vor. Diese Akzentuierung ist wohl etwas scharf, ändert aber kaum etwas am Sinn. Entscheidend wird für V. 1 der Sinn des griech. δικαιοσύνη [dikaiosynē], hinter dem hebr. צְדָקָה [zᵉdāqāh] zu vermuten ist. Die übliche Übersetzung „Gerechtigkeit“ trifft hier offenbar nur teilweise das, was Jesus meint. Bauer-Aland und Gottlob Schrenk ziehen deshalb die Übersetzung „Frömmigkeitsübung“, „Frömmigkeit“ vor.10 Andere bleiben bei „Gerechtigkeit“. Inhaltlich geht es um die Erfüllung des Gotteswillens im Alltag. Weil der Begriff „Gerechtigkeit“ dabei doch eher Missverständnisse produziert, haben wir mit Frömmigkeit übersetzt. Achtgeben sollen die Jünger, dass sie die praxis pietatis, das praktizierte (ποιεῖν [poiein]!) Frömmigkeitsleben, nicht mit falschen Motivationen und Verhaltensweisen verknüpfen. Explizit warnt Jesus davor, dass sie vor den Menschen ein Schauspiel bieten oder „in Erscheinung treten“ wollen. Frömmigkeit soll nicht zur Schau werden! Bis heute ist diese Mahnung wichtig. Frömmigkeit bleibt ein „Handeln vor und für Gott“.12 All das ändert freilich nichts daran, dass man den heutigen europäischen Christen die Feigheit vor dem Bekenntnis nehmen muss. Vgl. noch Mt 23,5. Jesus nennt sofort die Konsequenz eines solchen „sich zur Schau Stellens“: Andernfalls habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Darin steckt zweierlei: Erstens kann ein solches öffentliches Praktizieren durchaus einen Lohn bei den Menschen zur Folge haben, zweitens gibt es aber im Reich Gottes und nach der Auferstehung keinen Lohn mehr. Der Jünger muss sich zwischen diesen zwei Optionen entscheiden. Euer Vater im Himmel nimmt die Formulierung von 5,45 auf. Vgl. die Erklärung dort. Auch die späteren Rabbinen unterstrichen übrigens, dass die Frommen nach Mi 6,8 „bescheiden wandeln“ sollten „vor Gott“. Sie sahen hier deutlich: „Alles hängt von der Intensität des Herzens ab.“15 Hier stoßen wir erneut auf die Problematik des Lohn-Gedankens (μισθός [misthos]), mit dem sich vor allem Karl Bornhäuser intensiv beschäftigt hat. Er möchte die „Belohnung“ im Vater-Sohn-Verhältnis streng unterscheiden von der „Entlohung“ im Arbeitsverhältnis. Auf Letztere besteht ein Anspruch, auf Erstere nicht. Erstere ist ein Geschenk,17 Letztere ein Rechtstitel. Bornhäuser kann sich dabei auf Röm 4,4 berufen, wo der „Lohn nach Gnade“ (ὁ μισθὸς κατὰ χάριν [ho misthos kata charin]) dem „Lohn nach Schuldigkeit“ (ὁ μισθὸς κατὰ ὀφείλημα [ho misthos kata opheilēma]) gegenübergestellt wird. Damit hat er die richtige Spur gelegt. Er wies bei gleicher Gelegenheit auch auf die beiden verschiedenen Lohn-Auffassungen in Pirqe Abot I, 3.13 einerseits und II, 15.16 andererseits hin. Matthäus 6,2–4 2. Almosen, 6,2–4 Zuerst wendet sich Jesus dem Almosen zu: Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und in den Gassen tun, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon weg (V. 2). Nach R. Bultmann ist ἐλεημοσύνη [eleēmosynē] im NT „stets Wohltätigkeit an Armen“.20 Heute spricht man gern von „Privatwohltätigkeit“. Es handelt sich meist um finanzielle Zuwendungen, obwohl zum Beispiel in b Sukka 49b unter Hinweis auf Mi 6,8 „Wohltätigkeit“ und „sich der Liebe befleißigen“ identifiziert werden und damit ein weiterer Anwendungsbereich existiert. Vgl. Lk 11,41; 12,33; Apg 3,2; 10,2; 24,17. In der jüdischen Tradition wurde das Almosengeben schon Jahrhunderte vor Jesus hoch geschätzt. Vor allem das Tobit-Buch ist davon geprägt, vgl. Tob 12,8f: „(8) Gut ist ein Gebet mit Fasten und Almosen und Gerechtigkeit; besser das Wenige mit Gerechtigkeit (zu geben) als viel mit Ungerechtigkeit. Besser (ist es,) Almosen zu geben als Gold anzuhäufen. (9) Denn Barmherzigkeit errettet vom Tode, und sie reinigt jede Sünde.“ Vergleiche ferner Tob 4,7ff; Dan 4,24. Hinter ἐλεημοσύνη [eleēmosynē] steht hebr. צְדָקָה [zᵉdāqāh]. Jesus setzt voraus, dass die Jünger Almosen geben. Hier findet keine Trennung von jüdischer Sitte und jüdischem Gottesdienst statt. R. Riesner sieht in Mt 6,2 die ortsansässigen Jünger und nicht die Wanderjünger angesprochen, weil Erstere „noch frei über ihr Eigentum zum Almosengeben verfügen können“. Ein posaunen/ausposaunen kam Luz zufolge gar nicht vor: „Es kam nicht vor, daß bei spektakulärer Wohltätigkeit Trompete geblasen wurde.“ Aber woher will er das wissen? Ganz anders urteilt Gerhard Friedrich. Nach sorgfältiger Durchsicht der rabbinischen Belege kommt er zu dem Ergebnis: „Wahrscheinlich hat man in den Synagogen, wenn besonders hohe Spenden gemacht waren, … in das Horn gestoßen, um andere zu ähnlichen Taten anzuspornen und um den Wohltäter bei Gott in Erinnerung zu bringen.“ Warum sollte auch Jesus oder Matthäus in einem an Juden gerichteten Wort von posaunen gesprochen haben, wenn es dies gar nicht gab? Jesus nimmt Bezug auf die Praxis der Heuchler. Damit begegnet uns zum ersten Mal ein Begriff, der fortan im Matthäusevangelium eine Rolle spielt (vgl. Mt 6,5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.15.23.25.27.29; 24,51). Heuchelei ist der Widerspruch zwischen Schein und Sein. In Mt 6,2 wird der Schein eines Handelns für Gott bewusst aufrechterhalten, während doch tatsächlich der Ruhm bei den Leuten/Menschen gesucht wird. Hier, in Mt 6,2, wird auch der Unterschied zwischen Mt 6,1ff und Mt 5,16 ganz klar: In Mt 5,16 zielt der Betreffende auf den Lobpreis für den himmlischen Vater, in Mt 6,1ff dagegen auf den Lobpreis für sich selbst. δοξάζω [doxazō] ist mehr als „loben“. Es bedeutet „rühmen“, preisen, ehren, verherrlichen, „verklären“ – lauter Lobpreisungen, die im Grunde nur Gott zukommen. Die Heuchler aber wollen „sein wie Gott“ (Gen 3,5) und selbst gepriesen werden. Dies ist es, was Jesus ablehnt. Zum ersten Mal taucht jetzt im Matthäusevangelium die Feststellung auf: Sie haben ihren Lohn schon weg (ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν [apechousin ton misthon autōn]). Sie ist typisch für die Bergpredigt (Mt 6,2.5.16; vgl. Lk 6,24). Das griech. ἀπέχειν [apechein] übersetzt Hermann Hanse mit „Geschuldetes bekommen haben“ und sieht es wie Bauer-Aland aus der Geschäftssprache übernommen. Dort bedeutet es, dass ein Betrag empfangen und quittiert wird. Der Sinn der Worte Jesu ist also: Die Betreffenden haben ihren Lohn, nämlich die Anerkennung durch die Menschen, schon empfangen, er ist „himmlisch“ quittiert. Beim Endgericht steht dann nichts mehr zu erwarten. Ist es so, dann muss sich der Jünger jetzt und hier entscheiden, ob er für den Selbstruhm lebt oder für die Gemeinschaft mit dem Vater in Ewigkeit. Öfter wird Matthäus „theologische Polemik“ vorgeworfen, weil er den Vorwurf Heuchler auch gegen die Pharisäer erhebe (vgl. Mt 23,13ff). Dieser Vorwurf geht ins Leere. Denn 1) spricht in Mt 6,2 Jesus und nicht Matthäus, 2) ist die innerjüdische Auseinandersetzung an anderen Stellen weit schärfer, 3) werden in Mt 6,2 die Pharisäer im Unterschied etwa zu 23,13ff nicht genannt und damit der Begriff Heuchler jeder parteilichen Festlegung entzogen. Ein ganz anderes Problem ergibt sich, wenn man die heutige kirchliche und christliche Praxis bedenkt. Der Begriff Almosen wird abgelehnt. Die Privatwohltätigkeit erstickt in Spendenaffären, Bestechungsskandalen und Steuerregeln. Hinzu kommt, dass Hilfe für Bedürftige meistens auf bestimmte Institutionen wie z.B. die diakonischen Werke verlagert wurde. Wer übt und wer will noch Almosen? Aber die persönliche, menschliche und oft pädagogische Wohltätigkeit ist zu wertvoll, als dass sie verloren gehen dürfte. Vergleiche noch Sir 3,33; 1Kor 13,3. Das positive Gegenbild, das für die Jünger gelten soll, zeichnet Jesus in V. 3 und 4. Wie so oft sind seine Formulierungen überraschend: Wenn du aber Almosen gibst (wörtlich: tust), soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut (V. 3). Zunächst ist klar, dass Jesus von seinen Jüngern das Almosengeben erwartet. Es wird auch nicht gegenüber der alttestamentlichen und jüdischen Sitte eingeschränkt, sondern eben reichlich erwartet. Aber: Es wird nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt und präsentiert, sondern gehört ins „Verborgene“ (V. 4). Gerade diese Anweisung wird von Jesus so zugespitzt, dass ein neues Sprichwort entsteht: Deine Linke soll nicht wissen, was deine Rechte tut. Vor Jesus gab es diese Formulierung nicht. Moderne Kommentare empfinden sie als „überspitzt und hyperbolisch“.39 Aber sie ist eher pädagogisch und ein unvergessliches Ideal. Wenn die linke Hand von der rechten nicht darüber informiert werden soll, was diese rechte Hand tut, dann soll der betreffende Mensch sich nicht selbst in sein Almosen verlieben und daraus eine Art „High“-Sein ableiten. Geschweige denn, dass er damit an die Öffentlichkeit geht. Die alten Kirchenlehrer haben hier ein gutes Gespür gehabt. So, wenn Petrus Chrysologus bei der Auslegung von Mt 6,1ff sogar zum Wohltun in der Öffentlichkeit auffordert und dabei sagt: „gerade sie, die Straßen und die Plätze sind es“ [wo die Barmherzigkeit geübt werden soll], und danach fortfährt: „Der Herr beschuldigt hier durch seine Mahnung nicht den Ort, sondern die innere Gesinnung.“ An diesem letzten Punkt, dass Jesus nämlich die innere Gesinnung heiligen, das heißt ganz auf Gott ausrichten will, trifft sich die alte Auslegung mit der modernen Exegese.42 Davies-Allison haben in diesem Zusammenhang auf Röm 2,28f hingewiesen. Vergleiche Röm 12,8. Das Wort von der linken und rechten Hand lässt die Ausleger fragen, ob hier nicht doch metaphorisch auf bestimmte Personen angespielt wird. So wollen zum Beispiel Wellhausen und Bornhäuser die linke Hand als den „vertrauten Freund“ verstehen. Eine solche Deutung wäre durchaus möglich. Aber nötig ist sie nicht. Sie nimmt außerdem dem Wort Jesu die letzte Zuspitzung, da sie doch wieder die Mitteilung an die Umwelt zum Thema macht. Unseres Erachtens will aber Jesus sagen, dass der Almosengebende nicht einmal bei sich selbst daraus eine Sache von Bedeutung macht.45 Bei V. 4 stellt sich zunächst ein Textproblem. Sind die Worte ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („in der Öffentlichkeit“ / „im Sichtbaren“) ursprünglich? Im Unterschied zu 6,18 sind sie stark bezeugt. Schlatter meinte deshalb, es sei „nicht sicher“, ob Matthäus wirklich das ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] „beigesetzt“ habe. Aber die meisten Autoren betrachten diese Worte als sekundär48 – wohl mit Recht. Weiß deine Linke nicht, was deine Rechte tut, dann bleibt dein Almosen im Verborgenen. Der, dem es zugute kommt, ist dadurch aber nicht weniger gesegnet. Mehr noch: Dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Die Ausleger sind sich weitgehend darin einig, dass die Vergeltung eschatologisch zu verstehen ist, also im Endgericht erfolgt. Auch diejenigen, die ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („in der Öffentlichkeit“) für ursprünglich halten, denken an den Jüngsten Tag, „der alles offenbar macht“. Bornhäuser verweist auf 1Kor 4,5; 3,13; 2Kor 5,10; Jes LXX 8,16; 64,2. Zu beachten ist, dass Jesus in Mt 6,4 Gott erneut als Vater der Jünger bezeichnet. Für ihn steht fest, dass seine wahren Jünger Gott als ihren Vater verehren und lieben dürfen. Vergleiche 5,16.45.48; 6,1. Zwei Punkte fordern noch unsere Aufmerksamkeit. Der erste Punkt betrifft die Nähe von Mt 6,1–4 zu Aussagen der Weisheit und der jüdischen Rabbinen. Vergleiche Prov 21,14; Sir 3,34 einerseits und b BB 10a andererseits, wo Rabbi Jochanan ben Zakkaj im 1. Jh. n.Chr. sagt: „Ich wollte, dass ihr gute Werke um ihrer selbst willen ausübt“51 und R. Jehoschua b. Qorha nichtswürdige Gedanken bei der Wohltätigkeit mit dem Götzendienst gleichgesetzt. Der zweite Punkt betrifft die wiederholte Selbstverständlichkeit, mit der Jesus eine lohnende Vergeltung im Endgericht verspricht. Entspricht dies nicht weit besser dem Wesen des Menschen, der Lob und Liebe ersehnt, als die blutleere Aufklärung, die Gutes tun um seiner selbst willen als Ideal aufstellt53 und damit den Menschen auf den realitätsfernen Intellekt reduziert? Matthäus 6,5–15 3. Gebet, 6,5–15 Vers 5 erinnert stark an V. 2, teilweise auch an V. 1. Auch V. 5 beginnt mit der typischen ὅταν-Einleitung [hotan] (vgl. V. 2.16). Sie drückt den Iterativus aus, also „immer wenn ihr betet …“ Jesus hält es für selbstverständlich, dass seine Jünger beten. Das Gebet wird hier mit dem allgemeinen Ausdruck προσεύχεσθαι [proseuchesthai] bezeichnet. Gemeint ist also das Gebet in den verschiedensten Formen. Der Wechsel von der 2. Pers. Sing. in V. 2–4 zur 2. Pers. Plur. in V. 5 kann dadurch veranlasst sein, dass die Redeweise von V. 1 wieder aufgenommen wird. Eine Änderung der Adressaten ergibt sich dadurch nicht. Zum Vergleich mit den Heuchlern siehe die Erklärung bei V. 2. Sie stehen in den Synagogen58 und an den Straßenecken, eben dort, wo sie von vielen Menschen gesehen werden können. Wieder ist es ihr Ziel, vor den Menschen in Erscheinung zu treten (ὅπως φανῶσιν τοῖς ἀνθρώποις [hopōs phanōsin tois anthrōpois]) und dafür menschliches Lob zu ernten (vgl. V. 2). Den Schluss des Verses Amen, ich sage euch … kennen wir aus V. 2. Die Verse 2–4 und 5 sind also ein Schulbeispiel für „parallelistic style“. Es sprengt die Grenzen eines Kommentars, wollte man die Rolle des Gebets im Israel der Zeit Jesu auch nur annähernd beschreiben. Große Teile des AT sind nichts anderes als Gebete. Man denke an die 150 Psalmen, an ganze Kapitel in den Propheten und in den Geschichtsbüchern wie 2Sam 22; Jes 38; Jona 2; Dan 9; Esr 9; Neh 9. Man denke an die Rolle der Fürbitten Abrahams, Moses, Hesekiels oder Daniels. Man denke daran, wie viele Gebete Israel der Gemeinde des Neuen Bundes mitgegeben hat, weit über den Psalter hinaus, z.B. 1Chron 29,11–13. Gerade in der Zeit Jesu war man sich dessen bewusst. Am Anfang der rabbinischen Überlieferung steht der Satz: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand: Auf der Tora, dem Gottesdienst und den Liebeswerken“, wobei der Gottesdienst eben die Gebete als Hauptteil enthält. Und der Pharisäer in Lk 18,9ff reklamiert für sich: „Ich faste zweimal in der Woche“, wobei Fasten und Gebet eng zusammengehören. Schließlich bildete die Lehre vom Gebet einen wichtigen Bereich der Tätigkeit Johannes des Täufers (Lk 11,1). Qumran (1QH) und die Psalmen Salomos (pharisäisch) lassen etwas vom Reichtum des Gebetslebens in jener Zeit ahnen. Es sind nur wenige wichtige Richtlinien, die wir jetzt in V. 6–8 vorfinden: Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist (V. 6). Du aber (σὺ δέ [sy de]) ist betont und hebt die persönliche Verantwortung eines jeden Jüngers hervor. ὅταν [hotan] bedeutet auch hier wieder „immer wenn“. ταμεῖον [tameion] ist das innerste Gemach (Ex 7,28), das Zuschließen der Türe soll jede andere Person ausschließen. Vergleiche 2Kön 4,33 in der Elisa-Geschichte sowie Mk 5,40f (auch Jes 26,20). Nolland hat darin recht, dass hier der Fokus „on secrecy“ liege.67 Dein Vater, der im Verborgenen ist bzw. der in das Verborgene sieht, nimmt V. 3 wieder auf. Im Verborgenen bedeutet analog Joh 1,18; 1Tim 6,16 und Ex 33,20, dass Gott für uns Menschen unsichtbar ist. Dass er in das Verborgene sieht, bedeutet, dass alles, auch das Geheimste, vor ihm offenbar ist (1Sam 16,7; Jer 23,24; Joh 2,25). Vom vergelten des Vaters sprach Jesus schon in V. 1 und 4. Auch in Mt 6,6 sind die Worte ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („öffentlich“ / „im Sichtbaren“) vermutlich erst später eingefügt worden. Vielleicht ist es doch empfehlenswert, mit Don A. Carson das Vergelten des Vaters sowohl auf das irdische Leben als auch auf das Endgericht zu beziehen – um so mehr, als Jesus in Mt 6,6 auf jede nähere Terminierung verzichtet. In V. 6 hat sich Jesus zum Ort des Gebets geäußert. In V. 7 und 8 äußert er sich nun zur Länge des Gebets: Wenn ihr aber betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden. Denn sie meinen, erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen (ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν [en tē polylogia autōn]). Schon in Mt 5,47 war uns deutlich geworden, dass Jesus zwischen Juden und Heiden (ἐθνικοί [ethnikoi] Mt 5,47; 6,7; 18,17) unterschied. Keine Art von Synkretismus kann sich auf Jesus berufen. Interessanterweise geht es in Mt 6,7 nicht um die Frage, wer der wahre Gott ist, sondern um das richtige menschliche Reden. Wenn ihr aber betet oder besser: „Beim Beten aber“ (Προσευχόμενοι δέ [proseuchomenoi de]) eröffnet keinen neuen Abschnitt, wie manche annehmen, sondern setzt als Partizipialkonstruktion V. 5f fort. Entscheidender Inhalt in V. 7 ist das μὴ βατταλογήσητε [mē battalogēsēte] (ihr sollt nicht plappern). Es zeigt sich, wie leicht die Anrede Jesu zwischen der 2. Person Singular und 2. Person Plural wechselt, ohne dass man diesem Wechsel jedes Mal einen Bedeutungswandel unterstellen dürfte. Das griech. βατταλογεῖν [battalogein], ein neutestamentliches Hapaxlegomenon, ist in seinem Ursprung ungeklärt. Aber die Bedeutung plappern wird allgemein angenommen. Daneben wird die Bedeutung „Leeres/Nichtiges reden“ öfter vertreten.73 Die Verbindung mit πολυλογία [polylogia] = Vielrednerei, Geschwätzigkeit, Wortschwall in Mt 6,7 zeigt jedenfalls, dass in Mt 6,7 der Akzent nicht auf der Art des Sprechers liegt, sondern auf der Anhäufung der Worte und damit auf der Länge des Gebets. Insofern ist eine Berührung mit dem fatigare deos der Römer gegeben. Es handelt sich also um ein eigenwilliges „Bestürmen“ Gottes. Dabei meinen die Betreffenden erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen. Blass-Debrunner-Rehkopf übersetzen ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν [en tē polylogia autōn] mit „durch ihren Wortschwall“. In der Tat kann man bei Heiden einen solchen Wortschwall häufig feststellen: bei der Häufung von Gottesbezeichnungen in Assyrien und Babylonien bei den Beschwörungsformeln im Zauberwesen, bei den asiatischen Gebetsmühlen, aber auch bei den langen Gebeten der Baalspriester in 1Kön 18,26ff und bei den falschen Propheten in Jerusalem (Jes 28,7ff). Eine interessante Diskussionslage zeigt der Talmud. Demnach wird sowohl das lange als auch das kurze Gebet von den Rabbinen gelobt.79 Nach Ansicht mancher Ausleger werde eher das lange Gebet bevorzugt. Aber dieses Urteil ist fragwürdig.81 Jesus jedenfalls will das echte, mit Herzblut gefüllte, Gebet: Gleicht ihnen [= den Heiden] also nicht! (V. 8). Das ist eine klare Anweisung. Den Grund fügt Jesus sofort hinzu: Denn euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet. Dasselbe finden wir in Mt 6,32 – ein Wort größter Zuversicht. Es enthält ein Doppeltes: 1) Gott als euer Vater muss nicht informiert werden, er begleitet euch mit ganzer Zuwendung, sodass er weiß, was ihr braucht. Das griech. χρείαν ἔχειν [chreian echein] hebt auf das Nötige ab, vom Unnötigen wird gar nicht gesprochen. 2) Gott wird euch alles geben, was ihr braucht: Also alles, was für euch nötig ist, aber nicht das Schädliche (Mt 6,11). Die wenigen Worte Jesu zum Gebet in Mt 6,6–8 fordern noch einmal unser Nachdenken heraus. Wir versuchen ein kurzes Fazit: 1. Die Bemerkungen zum Ort des Gebets, zum „Gebet im Kämmerlein“, leiten dazu an, ganz auf den Vater im Himmel zu vertrauen und deshalb auf menschliche Anerkennung zu verzichten. Es geht um unsere innere Orientierung („Motivation“ ist zu wenig). 2. Es wäre aber ein Missverständnis, Mt 6,6ff als „die Forderung einer rein innerlichen Frömmigkeit“ aufzufassen. Nein, Jesus will nicht nur eine innerliche, sondern eine ganzheitliche, auch den Leib und das Bekenntnis einschließende Frömmigkeit (vgl. Mt 10,26ff), also das, was die Apostel später mit „Heiligung“ bezeichneten (2Kor 7,1; 1Thess 4,3ff; 1Tim 2,15; 1Petr 1,2; Hebr 12,10.14). 3. Das zeigt sich gerade daran, dass die Anweisung zum Gebet in der Kammer keinesfalls den Ausschluss oder auch nur die Geringschätzung des öffentlichen oder gemeinsamen Gebets bedeutet. Stärkstes Beispiel des gemeinsamen Gebets ist sofort anschließend das Vaterunser: „Vater unser“ kann man nur gemeinsam sagen. Gebetsgemeinschaften, Gebetskreise, Gebetszellen, Gottesdienste sind also ganz nach dem Willen Jesu (Mt 18,19f). Vergleiche Apg 1,14.24; 2,4f; 4,24ff; 5,12; 12,5; 13,3. Ferner gibt es zahlreiche Beispiel dafür, dass Jesus selbst in aller Öffentlichkeit gebetet hat (Mt 14,19; 19,13ff; 26,26ff; Joh 11,41f; 12,27f). Wir brauchen also das einsame wie das gemeinsame Gebet. 4. Mt 6,6–8 beinhaltet, dass unser Gebet ein Gespräch mit dem Vater ist. Gebete, die die Gemeinde informieren wollen oder versteckte Propaganda oder Handlungsanleitungen sind, verstoßen gegen Mt 6,6ff. 5. Das beliebte „Sturmbeten“ in christlichen Kreisen bleibt von Mt 6,7 her fragwürdig. Ein herzliches, gelegentlich sogar langes, ja leidenschaftliches Vor-Gott-Bringen ist biblisch. Aber ein Endlos-Beten, das nicht mehr mit einer letztgültigen Antwort Gottes rechnet (vgl. Mt 26,36f; 2Kor 12,8f), oder ein Beten, das auf die Menge oder Leidenschaft der Gebete baut, stimmt nicht mit Mt 6,7 überein. 6. Die Worte euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet (V. 8) dürfen nicht dazu missbraucht werden, das Bittgebet einzuschränken oder gar abzuschaffen. Es müsste sonst zu einer Abschaffung aller Gebete kommen. Denn was können wir beten, was nicht Gott zuvor schon weiß? Außerdem fordert Jesus mit Nachdruck zum Bittgebet (Mt 7,7ff) und zu allen Gebeten auf (Lk 18,1). 7. Gerade zu Mt 6,7f gibt es entsprechende Anweisungen schon im AT (Jes 1,15; Koh 5,1; vgl. Sir 7,15). Ebenso lassen sich bei den Rabbinen, zum Beispiel im Traktat Berachot, viele Parallelen finden. Aber unter den vielen Stimmen seiner Zeit ist es die Stimme des Messias und Gottessohnes, die uns verlässlich sagt, wie das AT zu verstehen sei und wie wir wirklich nach Gottes Willen beten sollen. 8. Zur äußeren Haltung beim Gebet hat sich Jesus nicht geäußert. Jüdischerseits konnte man „im Gehen, Sitzen und Liegen“ beten. Diese Freiheit hat Jesus gelassen. Eine Kirche mag für ihre Gottesdienste und ihre Liturgie gewisse Ordnungen einführen – mit Recht. Aber die Freiheit des einzelnen Christen, an allen möglichen Orten, in allen möglichen Situationen und in den verschiedensten Gebetshaltungen zu beten, wird dadurch nicht aufgehoben. Nun folgt gewissermaßen der positive Teil von Mt 6,5–15: So sollt ihr nun beten (Οὕτως οὖν προσεύχεσθε ὑμεῖς [Houtōs oun proseuchesthe hymeis]). So (οὕτως [houtōs]) legt ein Wort oder einen Vorgang auf einen bestimmten Inhalt oder eine bestimmte Art und Weise fest (Mt 1,18; 19,10). So heißt also „folgendermaßen“ „mit diesen Worten“. Ganz offensichtlich ist es die Absicht Jesu, dass die Jünger das folgende Gebet auswendig lernen und es rezitieren können.93 Über das Verhältnis zu Lk 11,1–4 später. οὖν [oun], nun, zieht die Konsequenz aus V. 5–8. Ihr, ὑμεῖς [hymeis], ist betont. Es setzt einen Unterschied nicht nur zu den Heiden von V. 7 voraus, sondern auch zu den Heuchlern von V. 5. Es folgt zunächst eine Gebetsanrede: Unser Vater im Himmel! (V. 9). Mit zwei Worten werden zwei Dimensionen aufgerissen, von denen jede unverzichtbar ist und die engstens zusammengehören: Vater und Himmel, Liebe und Macht. Es gibt gute Gründe, sowohl die Nähe zum „Achtzehngebet“ (Schemone Esre) als auch die Verwandtschaft mit dem liturgischen Qaddisch-Gebet98 zu betonen. Diese Verwandtschaft lehrt uns, dass Jesus im Vaterunser seine Jünger bewusst in das Gebetsleben des Alten Testaments und damit bewusst auch in das Gebetsleben Israels hineinstellen wollte (vgl. Sir 23,1; 51,10; Sap Sal 2,16; 14,3; Schemone Esre 4.6). Was die Wirkungsgeschichte am tiefsten geprägt hat, ist die Vater-Anrede. Sie findet sich auch bei Lukas (11,2) und in der Didache (8,2). Mag sie auch jüdisch verbreitet und geschätzt gewesen sein, so konzentriert sich doch Jesus darauf in einzigartiger Weise. Gott ist sein Vater, und Gott ist der Vater seiner Jünger. Stellt man die Eröffnungssure des Koran, Al-Fatiha, daneben, so wird der ganze Unterschied offenbar. Barmherzigkeit und Macht sind deren Aussagen über Gott, aber der Vater-Name wird dort vergebens gesucht. Mit „aller Wahrscheinlichkeit“101 benutzte Jesus für Vater das aramäische אַבָּא [ʾabbāʾ], dessen hebräisches Äquivalent אָב [ʾāb] ist. Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6 bezeugen es. אַבָּא [ʾabbāʾ], „Abba“, wird als ein „Laut des bittenden Kindes“ aus der Kindersprache abgeleitet.104 Für die Zeitgenossen Jesu klang es, „weil dem Alltagssprachgebrauch der Familie angehörig, … unfeierlich und respektlos“. Doch gerade so wurde es ein Ausdruck größter Innigkeit und völligen Vertrauens. Andererseits blieb in der Bezeichnung Vater die unvergleichliche Autorität und Macht des hebräischen אָב [ʾāb] stets gegenwärtig. Ob Jesus im Vaterunser nur אַבָּא [ʾabbāʾ] oder die Mehrzahlform אָבִינוּ [ʾābīnū] gebrauchte, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Bewusst stellt Jesus neben אַבָּא [ʾabbāʾ], den „Vater“, die Aussage im Himmel (ἐν τοῖς οὐρανοῖς [en tois ouranois]) = שֶׁבַּשָּׁמַיִם [schäbbaschschāmajim]. Der Synagoge war sie wohlvertraut. Aber auch für Jesus lässt sie sich nachweisen.109 Diese Aussage im Himmel kennzeichnet Gott als den schlechthin allen Geschöpfen Überlegenen. Sie ist, wie es Helmut Traub formuliert, ein „Ausdruck absoluter Weltherrschaft“. Und gerade dieser uns unendlich überlegene und das All regierende Gott ist unser liebevoller Abba! Es folgt in V. 9 die erste von insgesamt sieben Bitten: Dein Name werde geheiligt (ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου [hagiasthētō to onoma sou]). Hier sind wir nahe an der Formulierung des gottesdienstlichen Qaddisch-Gebetes: „verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name“. Dieses Gebet lehrt uns, dass die Heiligung des Gottesnamens auch seine Verherrlichung einschließt. Dabei ist der Name im biblischen Sinne alles andere als „Schall und Rauch“. Im biblischen Denken ist Name vielmehr ein „Austauschbegriff“ für die betreffende Person. So heißt Gott (Jahwe) im Judentum einfach „haschschem“ = „der Name“.114 Dein Name steht demnach im Vaterunser gleichbedeutend für „Du, Gott“. Das Passiv werde geheiligt verstehen wir wie Gnilka als „Ausdruck der Ehrfurcht“. Einigermaßen überraschend bleibt es, dass weder ein konkreter Name noch ein Gottesprädikat („der Höchste“ o.ä.) genannt wird. Doch was heißt nun werde geheiligt? Eine erste Antwort ergibt sich aus Ez 36, einem der großen Endzeitkapitel des AT. Es betont, dass in der Endzeit der Name Gottes geheiligt werden soll, und zwar durch Gott selbst: „Und ich werde meinen großen Namen heiligen“ (V. 23). Jesus bittet also darum, dass die Endzeit jetzt beginnen soll und diese Heiligung stattfindet. Ez 39,7 und Jer 29,23 zielt in dieselbe Richtung, nur dass es dort die Israeliten der Endzeit sind, die Gottes Namen heiligen. Deshalb muss man bezüglich der Aussage von Otto Procksch: „Subjekt der Heiligung ist einzig und allein Gott, nicht der Mensch“, vorsichtig bleiben. Besser ist es anzunehmen, dass die Heiligung des Namens von beiden vollzogen werden soll, von Gott und den Menschen.118 Der konkrete Inhalt des Begriffes heiligen ist schwer zu erfassen. Otto Procksch geht vom Faszinosum aus und schreibt: „Wenn Gottes Gottheit dem Menschen im Schauer der Anbetung offenbar wird …, dann heiligt sich Gott an ihm.“ W. Kornfeld definiert das „sich als heilig erweisen“ in Ez 36,23 als die „keiner Änderung unterworfene göttliche Heiligkeit … zur Selbstdarstellung“ bringen. Für die Heiligung des Namens Gottes auf Seiten des Menschen hat Martin Luther in seiner „Auslegung deutsch des Vater unser“ 1519 Entscheidendes gesagt: Es ginge darum, dass wir „leben als Gottes Kinder“121 und dass „Gott allein der Name und Ehre gebühre“. Dem Grundsinn nach bedeutet also heiligen: in Ehrfurcht vor dem einzigartigen Gott leben. Wenn Gott selbst sich als „heilig erweist“, dann erweckt er diese einzigartige Ehrfurcht. Sie erfüllt am Ende die ganze Schöpfung (Offb 22,19f). Jesus und seine Jünger beten also darum, dass dies geschehen soll (vgl. 1Petr 1,17). Schließlich sei noch auf einen wesentlichen Punkt in Mt 6,9 hingewiesen: Das ist der Charakter, den das Vaterunser als Gemeinschaftsgebet hat. Es hat, wie Gundry formuliert, eine „communal nature“. Ein „Vater mein“ gibt es auf gleicher Ebene nicht. Solange die christlichen Kirchen dieses Gebet beten, bekennen sie ihre Zusammengehörigkeit und die Unmöglichkeit, sich zu trennen. Mt 6,10 enthält die zweite und dritte „Du-Bitte“. Die zweite lautet: Dein Reich komme (ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου [elthetō hē basileia sou]). Wieder geht es um das Kommen der End- und Erlösungszeit, also die eschatologische Verherrlichung Gottes. Erneut fällt die Nähe zum gottesdienstlichen Qaddisch auf, das ebenfalls nach der Bitte um Heiligung des Gottesnamens die Bitte formuliert: „er lasse herrschen seine Königsherrschaft“.127 Zahn behält also recht, wenn er sagt: „Das Vaterunser konnte und kann noch heute jeder Jude beten.“ Zur βασιλεία [basileia] vgl. die Erklärung oben bei Mt 3,2; 4,17; 5,3.19.20. Trotz ihrer außerordentlichen Kürze eröffnet die zweite Vaterunser-Bitte weitreichende Perspektiven. Erstens leitet Jesus dazu an, um des Vaters Reich zu bitten – und nicht um das Reich des Christus. Man kann freilich sagen, dass das Christus-Reich „zugleich die βασιλεία Gottes“ ist. Aber bemerkenswert bleibt es doch, dass Jesus selbst das Reich des Vaters in den Mittelpunkt rückt. Dadurch verlängert sich die Perspektive bis zur letzten Seite der Bibel (Offb 22,1ff). Zweitens bedeutet die sprachliche Wendung vom „Kommen“, dass es Gottes Gabe sein wird. Nicht Menschen bauen es, sondern Gott der Schöpfer und Weltenherrscher. Gelegentlich können sogar Liedzeilen des Evangelischen Gesangbuchs („Gott will mit uns die Erde verwandeln“, EG 432,3) diese Wahrheit verdunkeln. Drittens ist es von Mt 6,10 her klar, dass das Reich, das Jesus meint, noch nicht vorhanden ist. Seine Endzeitrede (Mt 24 parr) wird das unterstreichen. Es gibt wohl ein beginnendes Reich, verkörpert in seiner Person (Lk 17,21). Es gibt die gegenwärtige Sammlung erlöster Menschen, die in jenes vollendete Reich eingehen werden (Apg 14,22; Mt 28,18ff). Aber eben im Vollsinn ist das Reich von Mt 6,10 immer noch Zukunft und wir müssen damit leben, „daß die königliche Herrschaft Gottes in der Gegenwart noch nicht hergestellt … ist.“ Viertens aber entsteht aus unserer Bitte die Sehnsucht nach jenem Reich, verbunden mit der höchsten Hingabe in der Mission. Sehr gut spiegelt ein Lied von Christian Gottlob Barth (1799–1862) sowohl die Hoffnung als auch die missionarische Hingabe: „Tu der Völker Türen auf; deines Himmelreiches Lauf hemme keine List noch Macht. Schaffe Licht in dunkler Nacht … Gib den Boten Kraft und Mut, Glaubenshoffnung, Liebesglut, lass viel Früchte deiner Gnad folgen ihrer Tränensaat“ (EG 263,4–5). Im Verlauf der Geschichte hat sich gezeigt, dass ein theologisches Denken, das beim Reichs-Gedanken ansetzt, fähig ist, ohne faule Kompromisse die Konfessionsgrenzen zu überwinden. Ein Beispiel bildet der Pietismus. So konnte Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) in seiner Predigt zum Feiertag des Jacobus maior sagen: „Das Königreich Gottes“ sei „der Mittelpunkt aller Lehre“. Die zweite Bitte in V. 10 – und damit die dritte des Vaterunsers überhaupt – lautet: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden! Diese Bitte fehlt bei Lukas, und wir werden später mögliche Gründe zu bedenken haben. Wir sind hier noch im Bereich der „Du-Bitten“. Allerdings fällt nach den kurzen Bitten in V. 9 und 10a die erweiterte Fassung (wie im Himmel, so auch auf Erden) auf. Rainer Riesner macht jedoch darauf aufmerksam, dass Mt 6,10b dem Gebet Jesu in Lk 22,42 entspricht und daher auch die Erweiterung als jesuanisch betrachtet werden muss. Dein Wille geschehe (γενηθήτω τὸ θέλημά σου [genēthētō to thelēma sou]): Auch im Qaddisch sind Name und Wille Gottes eng miteinander verknüpft. Wille, θέλημα [thelēma], geht vor allem auf das hebr. רָצוֹן [rāzōn] zurück, daneben auf die Wurzel חפץ [chpz]. Konstituierend sind zwei Elemente: das Wohlgefallen und der überlegene, wohlüberlegte Entschluss Gottes. Die häufige jüdische Wendung עשׂה רצון [ʿśh rzwn] = ποιεῖν τὸ θέλημα [poiein to thelēma] bedeutet, diesem göttlichen Entschluss Folge zu leisten. Mit Recht sagt deshalb Gottlob Schrenk, die dritte Bitte des Herrengebets drücke „nicht nur Ergebung aus, sondern Zustimmung zur umfassenden Durchführung des Wollens Gottes“. Jesus hat diese Bitte in Gethsemane selbst praktiziert (Mt 26,42) und uns für alle Zeiten ein Muster für eine solche Gebetshaltung und die willige Übernahme der Konsequenzen hinterlassen. Bemerkt sei noch, dass 1Makk 3,60 eine „wichtige Par(allele) zum Herrengebet“ darstellt. Ps 103,21; Jona 2,11 und Sir 43,18 besagen zusammen mit Offb 4,11, dass in Gottes Schöpfung alle Geschöpfe seinen Willen erfüllen. Nur Engel und Menschen widersetzen sich ihm. Gerade diesen dunklen Fleck der Schöpfung spricht Jesus mit seiner dritten Bitte an. Denn wenn der Wille Gottes erst noch geschehen soll (γενηθήτω [genēthētō] = רצון יהי [rzwn jhj]), dann ist klar, dass er heute noch nicht überall geschieht. Fragen kann man, wie die Worte wie im Himmel, so auf Erden zu verstehen sind. Zwei gut begründbare Möglichkeiten stehen nebeneinander: 1) Sowohl im Himmel als auch auf Erden muss sich der Wille Gottes erst noch ganz durchsetzen. Diese Deutung lässt sich begründen a) mit der biblischen Aussage, dass „selbst die Himmel nicht rein sind“ vor Gott (Hiob 15,15; 25,5); b) mit dem damals noch zukünftigen Drachensturz nach Offb 12,7ff (vgl. Hiob 1,6ff; 2,1ff); c) mit der Notwendigkeit, einen „neuen Himmel“ zu schaffen (Jes 65,17; 66,22; 2Petr 3,13; Offb 21,1ff). 2) Die Erfüllung des Willens Gottes soll auf Erden genauso geschehen wie im Himmel, also im Himmel jetzt schon ihr Vorbild haben. In diesem Fall muss man allerdings den Himmel auf die engere Umgebung Gottes beschränken (Dan 7,9ff; Offb 4–5). – In den Textvarianten, die das ὡς [hōs] in Mt 6,10 streichen, wird offensichtlich die erste Deutungsmöglichkeit vertreten. Näher liegt jedoch ein korrelatives Verständnis. Die Abfolge ὡς – καί [hōs – kai] dient normalerweise einer Vergleichung. Deshalb verstehen wir wie im Himmel, so auf Erden als Bitte, die auf Erden dieselbe unbeschränkte Geltung des Gotteswillens ersehnt, wie sie bereits in der Umgebung Gottes Wirklichkeit ist. Hier ist zu beachten, dass nicht nur die eschatologischen Feinde Gottes überwunden werden sollen, sondern dass sich diese dritte Du-Bitte auch gegen die Planungen und den Willen der Gläubigen richten kann (vgl. 2Kor 12,8f; Jak 4,15). Eine Liedzeile wie die von Paul Gerhardt: „Treib unsern Willen, dein Wort zu erfüllen; hilf uns gehorsam wirken deine Werke“ (EG 447,8) nimmt gerade diese Anliegen auf. Auf die drei Du-Bitten folgen im Vaterunser vier „Wir-Bitten“. An die Stelle des dein tritt das uns. Dass Jesus die drei auf Gott bezüglichen Bitten an die Spitze stellt, zeigt, dass er selbst sich auf den Vater im Himmel konzentriert und dass auch wir in unserm Gebet dasselbe tun sollen. Dass er dann aber vier Bitten für die Anliegen des Menschen formuliert, zeigt, dass er die menschlichen Bedürfnisse ernst nimmt. Die vierte Bitte ist wieder bemerkenswert kurz: Unser nötiges Brot gib uns heute (τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον [ton arton hēmōn ton epiousion dos hēmin sēmeron]). Aber in dem griech. Wort ἐπιούσιος [epiousios] enthält sie das schwierigste Wort des ganzen Vaterunsers. Es ist „der gesamten Profangräzität fremd“ und im NT „nur noch Lk 11,3“. Nur ein Papyrus der frühen Kaiserzeit spricht von τὰ ἐπιούσια [ta epiousia] = diaria („Tagessold“). Origenes meinte, das Wort sei erst von den Evangelisten gebildet worden.148 Dementsprechend bleibt die Deutung schwierig und die Literatur umfangreich. Es lassen sich folgende Deutungsmöglichkeiten auflisten:150 1) Die Übersetzung mit „morgig“ bzw. „für den folgenden (oder: kommenden, oder: anbrechenden) Tag“. Dafür spricht das מָחָר [māchār]im HebrEv sowie das venientem und crastinum der koptischen Übersetzungen (bo, mae, sa). Die Bitte würde dann lauten: „Unser Brot für morgen gib uns heute.“ Eine solche Bitte ist weniger erstaunlich, als es auf den ersten Blick scheint. Denkt man z.B. an die Situation eines Tagelöhners, der mit seinem Tagesverdienst für seine Familie die Lebensmittel des folgenden Tages kauft, dann leuchtet sie ohne Weiteres ein. Im Anschluss an Zahn152 haben deshalb viele diese Deutung übernommen, darunter Bornhäuser und Schlatter. Ja, Foerster konnte 1935 feststellen, sie sei „gegenwärtig die verbreitetste“.154 Gegen diese Deutung gibt es allerdings einige Einwände: a) Kann man angesichts von Mt 6,34 schon heute das erbitten, was man morgen braucht? b) Durfte man nicht das Himmelsbrot, das Manna von Ex 16,4ff nur „täglich sammeln“, aber gerade nicht für morgen? c) Haben nicht die alten Rabbinen des 2. Jh. n.Chr. die Gebetskonzentration auf das Heute empfohlen, so Elieser der Große, wenn er sagt: „Wer Brot im Korbe hat und sagt: was werde ich morgen essen?, gehört zu denen, die klein im Vertrauen sind.“ Bornhäuser erklärt dies als „bewußte Polemik“ gegen Christen.158 Aber eine solche Erklärung bleibt eine unsichere Vermutung. 2) Eine andere Möglichkeit ergibt sich, wenn man ἐπι-ούσιος [epi-ousios] von ἐπὶ τὴν οὖσαν ἡμέραν [epi tēn ousan hēmeran] ableitet und als „zum Dasein gehörig“, „zum Leben gehörig“, kürzer noch: als „nötig“ versteht. Eng damit verwandt ist die Übersetzung „für den betreffenden Tag“. Von hier aus führt ein verständlicher Weg zu der Übersetzung „täglich“, die wir vor allem vom Luthertext gewohnt sind. Schon alte Übersetzungen haben diese Deutungsmöglichkeit vertreten, so die Itala (cottiadianum) und Teile der Vulgata.160 3) Schließlich findet sich bei den Syrern die Deutung „ständig“ (syc) oder „nötig“ (syp.h). Die beiden Deutungen 2) und 3) verbindet die Orientierung an der Menge des Erbetenen, während die Deutung 1) auf den Zeitpunkt der Erfüllung blickt. Dem inneren Gefälle der Bergpredigt folgend und vor allem Mt 6,8 einerseits und Mt 6,32f andererseits zur Interpretation heranziehend, wird man in der Tat eine Deutung auf die Menge des Erbetenen vorziehen müssen. Nachdrücklich hat besonders Werner Foerster dafür plädiert, „daß ἐπιούσιος keine Zeit-, sondern eine Maßangabe enthalten muß“. Er selbst kam („mit hinreichender Sicherheit“) zu der Übersetzung: „Das Brot, das wir brauchen, gib uns heute.“162 Blass-Debrunner-Rehkopf halten dies für eine positive Möglichkeit, Autoren wie Strack-Billerbeck oder Gnilka unterstützen es.164 Wir schlagen deshalb in unserm Kommentar die Übersetzung Unser nötiges Brot gib uns heute! vor. Auf diese Weise ist die innere Einheit mit Mt 6,8.32.33.34; 7,11 gewahrt. Aber auch Zusammenhang und Einklang mit Prov 30,8–9 einerseits und 1Tim 6,6–8 andererseits sind gegeben. Die Vaterunser-Bitte Unser nötiges Brot gib uns heute! überlässt es dem Vater im Himmel, wie viel Brot für uns nötig ist. Mit dem Brot ist gut alttestamentlich der ganze Lebensunterhalt gemeint (vgl. Gen 3,19; Ex 23,25; Lev 26,5; Dtn 8,3). Eine Deutung des Brotes auf geistliche Speise darf man nicht ausschließen (vgl. Joh 4,8.30ff). Aber wir sollten nicht vergessen, dass Jesus zuerst vom Brot für den Leib spricht. Es ist ja gerade das Besondere, dass er die menschlichen Lebensbedürfnisse an die Spitze seiner vier „Wir-Bitten“ rückt. Im Schemone Esre kommt eine solche Bitte erst bei der neunten von 18 Benediktionen vor. Jesus als einer, der selbst gehungert hat (Joh 4,31ff; Mt 21,18; 4,2), weiß, wovon er spricht. Er war kein Schwärmer, der „auf Wolke sieben“ ging. Und auch das andere wird man mit Adolf Schlatter hören müssen: Unsere Bitte ums Brot ist nötig, weil „die Kraft des arbeitenden Mannes nur mit Gottes Hilfe ihm sein Brot verschafft“.169 In der Betonung des heute drückt sich schließlich ein getrostes Vertrauen aus, das den morgigen Tag wieder ganz neu aus Gottes Hand nehmen kann. Vergleiche schon Klgl 3,22f und Mt 6,34. Nicht zu vergessen ist die zweimalige „Wir“-Form: Unser und uns. Jeder Jünger betet hier „als Glied der Gemeinschaft“. Das heißt, er betet, dass die gesamte Gemeinde Jesu – und nicht nur er selbst! – an diesem Tag das nötige Brot empfängt. Was das angesichts der Verfolgungssituation, die die Christen ständig begleitet, bedeutet, müssen wir im nordatlantischen Raum erst wieder langsam lernen. Von der leiblichen Lebensgrundlage geht Jesus in der fünften Vaterunser-Bitte (der zweiten Wir-Bitte) weiter zur geistlichen Lebensgrundlage: Und vergib uns unsere Schulden (τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν [ta opheilēmata hēmōn]), wie auch wir unsern Schuldigern vergeben haben! (V. 12). Das Wort für Schulden, ὀφειλήματα [opheilēmata], ist auffällig, und man kann beobachten, dass Lukas dafür „Sünden (ἁμαρτίαι [hamartiai])“ wählt (Lk 11,4). ὀφείλημα [opheilēma] wird im NT nur zweimal gebraucht (Mt 6,12; Röm 4,4), und zwar von Autoren, die ausgesprochene Gesetzeslehrer sind. Friedrich Hauck führt ὀφείλημα [opheilēma] zurück auf das aramäisch-neuhebräische חוֹב [chōb]. Sowohl das Substantiv חוֹב [chōb] als auch das Verb חוב [chwb], im Piel „schuldig machen“, finden sich vereinzelt in den Exilschriften des AT (Ez 18,7; Dan 1,10). Im frühen rabbinischen Judentum wird dann חוֹב [chōb] ein „geläufiger Ausdruck“ für das, was der Mensch Gott schuldig bleibt, ja für Sünde. Prägend bleibt „das Bild von der Zahlungsschuld“.175 Es kann sich verdichten zum Bild von Schuldbriefen, die auf den Menschen lauten. Bezeichnet ὀφειλήματα [opheilēmata] genau genommen das Geschuldete, die Schulden, die aus Pflichtverletzungen Gott gegenüber erwachsen, dann muss man ἄφες [aphes] dementsprechend mit „erlasse“ übersetzen. Sieht man in ὀφειλήματα [opheilēmata] eher ein Synonym für Sünden, dann passt nur die Übersetzung vergib. Sehr wahrscheinlich sollten wir in Mt 6,12 jeweils beides zusammensehen, weshalb wir in der Übersetzung beide Bedeutungsebenen zusammenbringen wollten: vergib uns unsere Schulden. Es bleibt interessant, dass Jesus offenbar auch ganz freimütig über die Sünde als Pflichtverletzung Gott gegenüber reden konnte. Insofern liegt er auf einer Linie mit Daniels Bußgebet in Dan 9,18 und auch dem Rabbi Akiba des 2. Jhs. in b Taan 25b. Im Übrigen ist die Bitte um Sündenvergebung ein Hauptpunkt im AT (vgl. Ps 51; 130) wie im Judentum der Zeitenwende. Nur wenn unsre Schuld vergeben ist, kann Gemeinschaft mit Gott entstehen. Martin Luther hat bei seiner Auslegung des Vaterunsers zu Recht auf zwei wesentliche Inhalte hingewiesen: 1) dass die Bitte um Vergebung deutlich macht, dass wir auch in der Nachfolge Jesu „noch täglich“ sündigen und kein Gedanke an eine mögliche Sündlosigkeit aufkommen kann (vgl. 1Joh 1,8f); 2) dass Gottes Vergebung aus reiner Gnade und nicht wegen unserer Verdienste geschieht. Schwer zu verstehen sind die hinzugefügten Worte wie auch wir unsern Schuldnern181 vergeben haben. Dafür, dass sie ursprünglich sind, spricht schon die frühe Überlieferung in 1Clem 13,2; Did 8,2; Polykarp ad Phil 6,2. Schwanken kann man aber, ob das Präsens ἀφίομεν/ἀφίεμεν [aphiomen/aphiemen] oder der Aorist ἀφήκαμεν [aphēkamen] im ursprünglichen Mt-Text stand. Beides ist textlich gut bezeugt. Als lectio difficilior verdient aber wohl doch das bei Nestle-Aland abgedruckte ἀφήκαμεν [aphēkamen] den Vorzug, also: wir haben vergeben. Ist hier eine Bedingung ausgesprochen?184 Muss also der Mensch, ehe er Gottes Vergebung erbittet, zuerst allseits vergeben haben? Oder kann man mit Rudolf Bultmann Mt 6,12 abmildern zu der Bereitschaft, „andern zu vergeben“? Oder darf man Mt 18,21–35 als eine Art Anleitung zum Verständnis von Mt 6,12 und 6,14f betrachten? Im letzteren Fall wäre ἀφήκαμεν [aphēkamen] nicht unbedingt als zeitliches prae zu verstehen, sondern als ein Prozess, in dem Gott uns und auch wir den andern immer wieder vergeben. Es ist interessant, dass das sog. Gleichnis vom Schalksknecht in Mt 18,21ff so aufgebaut ist, dass zuerst der König = Gott vergibt und erst danach der Knecht = Jünger seinem Mitknecht vergeben soll. Unseres Erachtens ist die fünfte Vaterunser-Bitte tatsächlich im Sinne dieses Gleichnisses zu verstehen. Das heißt: Wenn wir nicht unsern Schuldigern vergeben, vergibt uns auch der Vater im Himmel nicht. Diese Verzahnung darf nicht aufgeweicht werden. Aber es kann durchaus so sein, dass Gottes Vergebung zeitlich am Anfang steht.187 Auf diese Weise stimmen wir überein mit Sir 28,2: „Vergib das Unrecht deinem Nächsten, dann werden dir, wenn du darum bittest, auch deine Sünden vergeben werden.“ Auch in V. 12 sind die vierfachen Pluralformen (ἡμῖν – ἡμῶν – ἡμεῖς – ἡμῶν [hēmīn – hēmōn – hēmeis – hēmōn]) mehr als eine formale Angleichung an die übrigen Wir-Bitten. Sie dienen neben der individuellen Konzentration zur Fürbitte für das ganze Gottesvolk. Demnach kann die Kirche als ganze ebenso schuldig werden wie der einzelne Gläubige. Joh 16,13 steht dem nicht im Wege. Der 13. Vers enthält zwei Bitten. Mit Recht sieht J. Gnilka die Siebenzahl der Vaterunser-Bitten als „beabsichtigt“ an. Trotz ihrer grammatikalischen Verbindung (μή – ἀλλά [mē – alla]) sind deshalb die beiden Vershälften in V. 13 als jeweils eigenständige Bitten aufzufassen. Und bringe uns nicht in Versuchung hinein (καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν [kai mē eisenenkēs hēmas eis peirasmon]): Sofort werden wir an das Gethsemane-Wort erinnert: „Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt (προσεύχεσθε, ἵνα μὴ εἰσέλθητε εἰς πειρασμόν [proseuchesthe, hina mē eiselthēte eis peirasmon], Mt 26,41).“ Es handelt sich um die Bitte, von einem unerträglichen πειρασμός [peirasmos] verschont zu werden. Wer baut diesen πειρασμός [peirasmos] auf? Die Versuchungsgeschichte Jesu gibt die Antwort: Es ist der „Versucher“, der Teufel (vgl. Mt 4,3). Und wo handelt Gott? Wieder gibt die Versuchungsgeschichte die Antwort: Gott leitet die Seinen im ganzen Leben durch seinen Heiligen Geist, deshalb leitet er sie nach seinem Willen auch hinein in versuchliche Situationen (vgl. Mt 4,1). Stehen die Dinge so, dann gibt es auch keinen Widerspruch zwischen Mt 6,13 und Jak 1,13. Denn Gott „selbst versucht (πειράζει [peirazei]) niemand“ in dem Sinne, dass er ihn von der Wahrheit und vom Gehorsam abbringen will (Jak 1,13). Er kann es aber zulassen, dass der Teufel, „der Versucher“, an uns herantritt, um uns von Gott abzubringen. In diesem Sinn bringt er uns in Versuchung hinein. Dabei sind die Zielsetzungen diametral verschieden: Gott will, dass unser Glaube durch solche Proben gestärkt wird und wächst (vgl. Röm 5,3ff). Der Teufel aber will, dass unser Glaube geschwächt wird und zerbricht. Deshalb können, ja müssen wir bitten: Und bringe uns du, lieber Vater im Himmel, nicht in eine Versuchung hinein, die unsern Glauben zugrunde richtet. Die Apostel haben die Gemeinde an diesem Punkt getröstet: „Der Herr weiß die Frommen aus der Versuchung zu erretten“ (ῥύεσθαι [rhyesthai]), 2Petr 2,9, und „Gott macht, dass die Versuchung (πειρασμός [peirasmos]) so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt“, 1Kor 10,13 (vgl. Joh 17,15; 2Thess 3,3; 2Tim 4,18). Erneut befindet sich Jesus in Übereinstimmung mit dem Sirachbuch, das in 33,1 versichert: „wenn er [= der, der den Herrn fürchtet] in Versuchung kommt, wird er ihn wiederum erretten.“ Überhaupt fällt auf, wie eng das Sirachbuch mit diesem Teil der Bergpredigt verwandt ist (vgl. Sir 7,14; 23,1; 28,2; 33,1). Zur sechsten Vaterunser-Bitte ist noch festzuhalten: Sie rechnet mit Gottes Allmacht, die allen bösen Mächten überlegen ist und uns bewahren kann. Sie rechnet außerdem mit Gottes Erbarmen, das diese Bitte erfüllen will. Sie geht ferner davon aus, dass der Teufel und die Versuchung vor allem die Jünger angreifen. Trotz des Protestes von Heinrich Seesemann195 wird man auch daran festhalten müssen, dass die Schlatter’sche Übersetzung von πειρασμός [peirasmos] mit „Erprobung“ immer noch die beste ist, die sich dann im Falle des teuflischen Handelns gut mit Versuchung wiedergeben lässt. Erneut bietet die rabbinische Literatur eine Reihe von Parallelen. Als Beispiel zitieren wir b Ber 60b: „laß mich nicht zur Sünde kommen noch zur Versuchung noch zur Schmach“. Fazit: Der Jünger Jesu weiß, dass er aus eigener Kraft die Versuchung nicht bestehen kann. Er ist darauf angewiesen, Gott zu bitten, dass er ihn vor übermächtigen Versuchungen bewahrt – Luther meinte sogar, das müsse man „alle Stunden“ tun.198 Nur durch Gebet können wir dem Teufel widerstehen (vgl. 1Petr 5,9; Jak 4,7). Das gilt auch für die ganze Kirche (uns!). Die siebte und letzte Vaterunserbitte hat erneut mit dem Thema Teufel/Macht des Bösen zu tun: sondern rette uns vor dem Bösen! (V. 13). Mit einem „kurzen, scharfen Blick in diese Ecke“, den Karl Barth für genügend hielt, hat sich Jesus also nicht begnügt. Der Teufel war ihm zu sehr Realität. Er ist ja gekommen, um „die Werke des Teufels zu zerstören“ (1Joh 3,8). Dazu gehört es, den Menschen aus der Gefangenschaft des Teufels zu befreien und für ihn das Lösegeld zu bezahlen (Mt 20,28; 1Petr 1,18f). Warum dann auch heute noch diese letzte Bitte des Vaterunsers? Luther hat auf diese Frage eine exzellente Antwort gefunden: Weil der Teufel durch die ganze Kirchengeschichte hindurch „alles, was wir bitten, unter uns hindert: Gottes Namen oder Ehre, Gottes Reich und Willen, das täglich Brot, fröhlich gut Gewissen etc.“ In der Tat bäumt sich der Teufel bis zum Schluss gegen Gottes Heilsgeschichte auf. Ja, gegen das Ende hin sogar am rasendsten (Offb 12,1ff), sodass auch diese Bitte einen eschatologischen Ton trägt. Ob ἀπὸ τοῦ πονηροῦ [apo tou ponērou] (vor dem Bösen) maskulinisch („der Böse“ = der Teufel) oder neutrisch („das Böse“) aufzufassen ist, wird seit Langem diskutiert. Schon Luther deutete es vorwiegend maskulinisch, also auf den Teufel. Darin folgen ihm bis heute viele Ausleger.201 Luther war allerdings klug genug, auch die neutrische Deutungsmöglichkeit auf „das Böse“ offenzulassen. Für beide Deutungsmöglichkeiten kann man Parallelen aus der rabbinischen Literatur beibringen.203 Es ist deshalb empfehlenswert, in Mt 6,13 beides angesprochen zu sehen: „den Bösen“ = den Teufel und „das Böse“. Bei rette uns (ῥῦσαι ἡμᾶς [rhysai hēmas]) warnte Schlatter vor der „unrichtige(n) Wiedergabe“ mit „bewahre uns“. Denn es sei ja „die Gefahr“ schon „vorhanden“. Darin muss man ihm zustimmen. Nach Wilhelm Kasch geht neutestamentlich ῥύεσθαι [rhyesthai] weit überwiegend auf hebr. Verben des „Rettens“ zurück: נצל, גאל, פלט, מלט [nzl, gʾl, plth, mlth] und ישע [jsch ʿ]. Seinem Sinngehalt nach bedeutet es auch an allen „Stellen des NT „retten“. Man muss dieses retten entsprechend dem oben Gesagten ganz umfassend verstehen. Es schließt ein: 1) die grundsätzliche Rettung des Menschen „von der Macht der Finsternis“ und die Versetzung in das Reich Christi bzw. Gottes (Kol 1,13; vgl. Lk 1,74; Röm 11,26; 1Thess 1,10); 2) die Errettung vor bösen Mächten und Menschen, die die Jünger gefährden (Röm 15,31; 2Kor 1,10; 2Thess 3,2; 2Tim 3,11; 2Petr 2,7), 3) die Errettung vor dem Teufel, der die Gemeinde Jesu angreift und vernichten will (2Thess 3,3; 2Tim 4,17f), 4) die Errettung vor der Versuchung (2Petr 2,9). Die eben erwähnten neutestamentlichen Stellen sind zum Teil ausgesprochen eschatologisch geprägt (Kol 1,13; 1Thess 1,10; 2Thess 1,10; 2Tim 4,18). Manche lassen sich als direkte Zitate von Mt 6,13 verstehen, zum Beispiel 2Tim 4,18. Jedoch geht es nicht an, die letzte Vaterunser-Bitte nur eschatologisch aufzufassen und sie ausschließlich als „Bitte … um endgültige Errettung von der Macht des Bösen“ zu definieren. Gegen eine solche Engführung spricht schon der apostolische weit gefasste Gebrauch der Rettungsbitte und der Rettungsaussagen in Röm 15,31; 2Kor 1,10; 2Thess 3,2.3; 2Tim 3,11; 4,17; 2Petr 2,7.9. Nein, die letzte Vaterunserbitte hat neben dem eschatologischen auch einen präsentischen Bezug auf den täglichen Glaubenskampf der Jünger. Als „Wir-Bitte“ (rette uns) erinnert sie uns daran, dass gleichzeitig die ganze Kirche diesen Glaubenskampf zu bestehen hat und sie ebenso gefährdet bleibt wie der einzelne Jünger (vgl. Joh 17,15). Abschließend stellen wir fest, dass im Vaterunser die wichtigsten Voraussetzungen des Glaubenslebens zur Sprache kommen. „Nur die zentralen Anliegen sind in das Gebet aufgenommen. Alles Wechselnde, Zufällige, Entbehrliche und Einzelne bleibt weg.“ Ein Problem besonderer Art ist das Verhältnis von Mt 6,9–13 zum Vaterunser bei Lukas (11,1–4). Wir können es bis heute nur ansatzweise erklären. In ganzen Partien haben wir wörtliche Übereinstimmungen, so bei der ersten, zweiten und sechsten Bitte. An anderen Stellen registrieren wir bei Lukas Kurzformen, so bei der Anrede „Vater!“ (Lk 11,1). Es gibt sodann teilweise Umformulierungen, so bei der vierten und fünften Bitte, wobei umstritten ist, inwieweit etwa die Formulierung „wir vergeben“ in Lk 11,4 (Präsens), vom aramäischen Urtext aus betrachtet, tatsächlich verschieden vom matthäischen „wir haben vergeben“ sein soll. Schließlich fehlen bei Lukas die dritte und siebte Bitte des Matthäus. Warum, weiß kein Mensch zu sagen. Wir können nur feststellen, dass das NT für das Vaterunser eine Kurzform (Lk) und eine Langform (Mt) bietet. Unseres Erachtens ist die nächstliegende Erklärung die, dass die Jünger schon während der Wanderschaft mit Jesus beide Formen benützt haben, dass sie dazu die geistliche Freiheit hatten und dass evtl. schon Jesus selbst beide Formen benutzte. Die Abweichungen aber innerhalb des Wortbestandes der beiden Parallelfassungen sind für die Praxis der Christusnachfolge ohne Gewicht. Karl Bornhäuser ging sogar so weit zu sagen, es schrumpfe „die Bedeutung der Verschiedenheiten zwischen Matthäus und Lukas fast zur Belanglosigkeit zusammen“. Der Lobpreis „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“ hat ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Er steht in einer großen Gruppe von Handschriften, aber nicht bei denen, die wir normalerweise als Textgrundlage betrachten: nämlich beim Sinaiticus und Vaticanus. Allgemein nimmt man deshalb an, dass diese Doxologie erst später ins Evangelium eingefügt wurde, vielleicht über eine Randglosse. Auffallenderweise wird aber die Mt-Fassung schon in der sog. Didache (Zwölf-Apostel-Lehre), die aus der Zeit um 100 n.Chr. stammt, zusammen mit dem (etwas kürzeren) Lobpreis überliefert. Die historische Gemengelage ist so schwierig zu beurteilen, dass zum Beispiel Adolf Schlatter auf ein abschließendes Urteil verzichtete und sich mit der Aussage begnügte, es sei „nicht sicher, ob er [= der Lobpreis] von Anfang an im Evangelium stand“.215 Leider verzichten manche Bibelübersetzungen sogar auf einen Vermerk an der betreffenden Stelle. Mit hinlänglicher Gewissheit lässt sich sagen: 1) Der Lobpreis ist älter als das NT. Denn er geht in seinem Grundbestand auf Davids Dankgebet in 1Chr 29,11–13 zurück. Aus dessen LXX-Text stammen die Worte καὶ ἡ δύναμις καὶ ἡ δόξα [kai hē dynamis kai hē doxa] (und die Kraft und die Herrlichkeit) sowie sachlich auch die Aussage dein ist das Reich. Mit dem Verweis auf die Ewigkeit schloss man zur Zeit Jesu die Lobsprüche im Tempel. 2) Dass dieser Lobpreis zugleich ganz dem NT entspricht, bezeugen Offb 1,6; 4,9.11; 5,12.13; 7,12; 11,15; 12,10; 19,1. Unser Lobpreis enthält also nichts „Falsches“, sondern Wahres und Echtes. 3) Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus oder seine Jüngerschaft das Vaterunser ohne eine Schluss-Doxologie gesprochen haben. Darunter kann sehr gut auch unsere Doxologie aus 1Chron 29,11–13 gewesen sein. Allerdings müssen wir mit wechselnden Lobsprüchen rechnen. Ein solcher Wechsel der Doxologien könnte sogar der Grund dafür gewesen sein, dass die Urfassung des Matthäus eben keine bestimmte Doxologie aufgenommen hat, sondern dies der Liturgie der Gemeinden überließ. In einer solchen Liturgie hat aber allem Anschein nach seit den ältesten Zeiten unser Denn dein ist das Reich usw. gestanden. Inhaltlich besagt dieser Lobpreis, dass das Reich = die Herrschaft, die Kraft und alle himmlisch-göttliche Herrlichkeit nur dem dreieinigen Gott (vgl. Mt 28,19) zukommen. Weil der Vater im Himmel ein solcher Allherrscher und der einzig wahre, lebendige Gott ist, können die Jünger voll Vertrauen zu ihm beten. Eine Wirkungsgeschichte des Vaterunsers zu schreiben, würde mehrere Bände fordern. Unter den zahllosen Beispielen erwähnen wir nur die Anleitung, die Martin Luther 1535 dazu gab. Unter dem Titel „Wie man beten soll, für Meister Peter den Barbier“ empfiehlt er das tägliche Vaterunser „ganz durch Wort für Wort“,221 so, „wie ich selbst zu beten pflege“. Er fügt hinzu: „denn ich sauge noch heutigen Tages an dem Pater noster wie ein Kind, trinke und esse davon wie ein alter Mensch, kann daran nicht satt werden“.223 Mag sein, dass ein Hauptmangel der heutigen Kirche in ihrer „superficiality“ (Oberflächlichkeit) besteht, gerade beim Beten des Vaterunsers. Schlimmer noch wäre es, wenn das Vaterunser außer Gebrauch käme. Der Abschnitt über das Gebet schließt mit den Versen 14 und 15: Denn wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Übertretungen auch nicht vergeben. Ihr Inhalt entspricht der fünften Vaterunser-Bitte und braucht deshalb nur kurz erklärt zu werden. Auffällig ist zunächst der Begriff Übertretungen (παραπτώματα [paraptōmata]). Das zugrunde liegende Verb παραπίπτειν [parapiptein] bedeutet ursprünglich „auf die Seite fallen“, in der LXX „sich schuldhaft verfehlen“, „sündigen“ (hebr. מעל [mʿl]). Das Substantiv bedeutet deshalb „Fehltritt“, „Sünde“.226 Eine „milde Bezeichnung“ ist παραπτώμα [paraptōma] gerade nicht. Dabei lässt Mt 6,14f keine Unterscheidung von Sünden gegen den Nächsten und Sünden gegen Gott zu. Auffälliger noch ist das doppelte ἀφῆτε [aphēte] in V. 14f. ἐὰν ἀφῆτε [ean aphēte] stellt einen Konditionalsatz dar, wobei der Konjunktiv Aorist futurischen Sinn hat. Hier steht also nicht mehr die Vergangenheitsform wie in V. 12 (ἀφήκαμεν [aphēkamen])! Offensichtlich will aber die Sequenz V. 14–15 keinen anderen Ablauf einführen, als er in V. 12 zum Ausdruck kam. Das heißt, Mt 6,14f bestätigt den präsentischen Charakter der Vergebungsbitte in Lk 11,4. Diese Beobachtung ist interessant, zeigt sie doch, dass man in V. 12 den chronologischen Ablauf (wir haben vergeben – vergib uns) nicht pressen darf. Festgehalten ist in V. 14f dagegen die Reziprozität: Gottes Vergebung geschieht nur dort, wo wir selbst vergeben. Die Tatsache, dass gerade die Vergebungsbitte in der Bergpredigt erneut aufgenommen wird, zeigt, welches Gewicht sie für Jesus und Matthäus hatte. Jesus kam auch in Mk 11,25 darauf zurück. Kol 3,13 bezeugt ihr Gewicht für die apostolische Unterweisung. Wir erinnern uns ferner, dass Jesus auf Sir 28,1ff zurückgreifen konnte und dass es in der rabbinischen Literatur durchaus Parallelen gibt (z.B. b Schab 151b, b Meg 28a). In der frühchristlichen Literatur vgl. man Clem 13,2; Polykarp ad Phil 6,2. Matthäus 6,5–15 IV Zusammenfassung 1. Das Vaterunser und auch Jesu Kommentar in Mt 6,14–15 werden weithin als echte Jesusworte anerkannt. Es gibt keinen einleuchtenden Grund, sie Jesus abzusprechen. 2. Die Frage, was das Neue daran ist, sollte man mit Vorsicht stellen. Denn wie wir bei der Auslegung gesehen haben, wollte Jesus seine Jünger in die lebendige Gebetstradition des AT und des alttestamentlichen Judentums hineinstellen. Neu ist jedoch, dass Jesus die messianische Zeit und die Zeit des Neuen Bundes angebrochen sieht. Von daher erfolgt eine Konzentration auf Gott als den Vater, die Jüngerschaft als seine Kinder und eine starke eschatologische Orientierung. Gleichzeitig lassen sich viele Parallelen zu den Rabbinen, zu Qumran und zu den Weisheitsschriften wie Sirach aufweisen. 3. Das Vaterunser hat einen Doppelcharakter: Es ist sowohl ein Gemeinschaftsgebet der Jüngerschaft und der Kirche als auch ein Gebet für jeden einzelnen Gläubigen. Dadurch, dass es in den ersten drei Bitten, den Du-Bitten, die Ziele Gottes in den Mittelpunkt stellt, befreit es von der Gefühlsgefangenschaft und von der Ichsucht, die uns christliche Gläubige als ständige Laster begleiten. 4. Jede der beiden Fassungen, die in Mt 6,9–13 und die in Lk 11,2–4, hat ihre geschichtliche Berechtigung. Offenbar sind sie in verschiedenen Situationen entstanden, was ihre inhaltliche Übereinstimmung nur umso wertvoller macht. Eine Erklärung wie die von Robert Gundry, dass das matthäische Vaterunser durch die Bitte von Lk 11,1f veranlasst worden sei, schießt über das Ziel hinaus. Denn woher will er das wissen? Mt 6,9–13 könnte man sich zwar so entstanden denken, aber eben rein abstrakt, und etwas Positives wissen wir nicht. 5. Unstrittig bleibt dagegen die zentrale Bedeutung der Vergebung. Es ist eine ernste Frage an die Christen, weshalb sie sich so viel mit der Endzeit, mit der Rolle Israels oder mit dem Los der ungläubig Verstorbenen beschäftigen, wenn sie so viel untereinander streiten und es sogar Mann und Frau schwerfällt, einander zu vergeben. Matthäus 6,16–18 4. Fasten, 6,16–18 Vers 16 ist ganz ähnlich aufgebaut wie V. 2 und 5: Ὅταν δὲ νηστεύητε, μὴ γίνεσθε ὡς οἱ ὑποκριταὶ σκυθρωποί [Hotan de nēsteuēte, mē ginesthe hōs hoi hypokritai skythrōpoi]. Wieder setzt Jesus voraus, dass seine Jünger fasten (Wenn ihr fastet). Zwar unterbleibt ihr Fasten in der Zeit seines irdischen Wirkens („solange der Bräutigam bei ihnen ist“, Mt 9,14ff), danach aber wird es wieder aufgenommen (Apg 13,2f; 14,23). Von allen drei Äußerungen der Frömmigkeit, die Jesus in Mt 6,1–18 anspricht, ist uns Heutigen das Fasten die fremdeste. Vielleicht kann man das Fasten am ehesten beschreiben als eine konzentrierte Zuwendung zu Gott. Im AT begegnet es uns vor allem in zwei Bereichen: bei der Vorbereitung auf den Offenbarungsempfang und bei der Buße bzw. besonderen Gebetsanliegen (vgl. Ex 34,28; Dtn 9,9; Dan 9,3; 10,3; Jona 3,7ff). Es ist eng mit dem Gebet verbunden. Fasten besteht in der Enthaltung von Speisen und manchmal auch von Getränken (Dtn 9,9). Es dauerte in der Regel einen Tag, vom Morgen bis zum Abend. Ein dreitägiges Fasten wie Est 4,16 bildete die Ausnahme. Dabei machte schon den Propheten ein oberflächliches oder rein äußerliches Fasten zu schaffen (Jes 58,1ff; Jer 14,12; Sach 7,5ff). Nun hat aber im Judentum seit dem Abschluss des AT das Fasten an Häufigkeit und Bedeutung zugenommen.238 Wie ernst es die Pharisäer schon in frühen Zeiten damit nahmen, geht aus Ps Sal 3,8; Lk 18,12; Did 8,1 hervor. Private Fasttage bei den Pharisäern waren Montag und Donnerstag. Aber auch die Jünger des Johannes fasteten (Mt 9,14). Auf diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Jesus in der Bergpredigt auch das Thema Fasten aufgreift. Seine erste Äußerung ist erstaunlicherweise eine Warnung: Wenn ihr fastet, dann macht kein wehleidiges Gesicht wie die Heuchler (μὴ γίνεσθε ὡς οἱ ὑποκριταὶ σκυθρωποί [mē ginesthe hōs hoi hypokritai skythrōpoi]). Das griech. Wort σκυθρωπός [skythrōpos] gibt ein relativ breites Spektrum hebräischer Begriffe und Bedeutungen wieder: „schlecht aussehend“, „verdrießlich“, „finster“, „traurig“, „niedergeschlagen“. Für Mt 6,16 empfahl Werner Bieder die Übersetzung „traurig“. Wir ziehen die Übersetzung „ein wehleidiges Gesicht machen“ vor, weil es sich um ein geschauspielertes Auftreten handelt. Jesu Warnung ist umso erstaunlicher, als im AT das Fasten öfter mit echter Trauer einhergeht (1Kön 21,27; Neh 9,1; Est 4,3; Dan 9,3; Jona 3,5ff). Jesus aber verwirft die traurige Gebärde als solche und fragt nicht danach, ob sie echt oder unecht ist. Allerdings lehnt er sich dabei eng an Jes 58,5 an. Den Grund des Anstoßes benennt er mit den Worten: Denn sie entstellen ihre Gesichter, damit sie als Fastende vor den Leuten glänzend herauskommen (φανῶσιν [phanōsin]). ἀφανίζουσιν [aphanizousin] muss hier so viel bedeuten wie „entstellen“, „ihr normales Aussehen verändern“, wohl kaum „ihre Gesichter verhüllen“ oder „sich durch Unterlassen der Säuberung unkenntlich machen“.243 Damit sie glänzend herauskommen oder „damit sie sich darstellen“ setzt wieder das hohe Ansehen voraus, das die Praxis des Fastens im damaligen Judentum genoss. Bei den Menschen, die sie auf diese Weise beeindrucken, ernten sie also einen hohen Lohn. Aber für das Himmelreich gilt: Sie haben ihren Lohn schon weg, also im Reich Gottes nichts mehr zu erwarten. Der letzte Satz von V. 16 ist uns schon in V. 2 und 5 begegnet. Siehe die Erklärung dort. Vers 17 überrascht uns erneut. Jesus setzt scheinbar ganz äußerlich an: Du aber [= im Gegensatz zu den Heuchlern], wenn du fastest, dann salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht. In Israel salbt man sein Haupt, wenn die Zeit der Trauer vorbei ist und es Grund zu Fest und Freude gibt (2Sam 12,20; 14,2; Prov 9,8). Damit ordnet Jesus an, dass das Fasten in seiner Gemeinde „als eine freudige und festliche Angelegenheit vor den anderen und vor dem Fastenden selbst „geschieht“. Ja, es kann damit vor den Menschen, auf die es hier nicht ankommt, völlig verborgen bleiben. Ähnliches gilt für Jesu Anweisung wasche dein Gesicht. Möglich, dass die Heuchler von damals „durch Nichtwaschen ihre Frömmigkeit zur Schau stellen“ wollten. Jedenfalls zeigte man auch durch Waschen an, dass die Zeit der Trauer vorbei war (2Sam 12,20). Worauf Jesus also beim Fasten Wert legt, ist die „Freude am Herrn“ (Neh 8,10), wodurch es den Menschen nicht mehr als trauriger Verzicht und als Opfer erscheint. Die frühe Kirche hat an dieser Linie festgehalten, wie die Fastenpredigt von Basilius dem Großen zeigt. Jetzt nennt uns Mt 6,18 die entscheidende geistliche Grundorientierung: damit du als Fastender nicht vor den Leuten in Erscheinung trittst (μὴ φανῇς [mē phanēs]), sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist. Beachten wir zunächst, dass die dreimalige Benutzung des Wortstammes φαίνω [phainō] in diesen kurzen Zeilen die Aussagen Jesu leichter memorierbar macht. Halten wir sodann fest, dass für die Gemeinde des Messias die geistliche Grundorientierung am Verhältnis zum Vater erfolgt. Es ist entscheidend, wie wir als Fastende vor unseren Vater treten. Fehlt die Gotteskindschaft, dann fehlt den Sätzen Jesu die Grundlage. Insofern stimmt Luthers Bemerkung: „Willst du recht fasten, so bedenke, daß du zuvor ein frommer Mann seiest.“ Mit Mt 6,18 schließt der kurze Abschnitt der Bergpredigt über das Fasten. Es scheint, dass Jesus keine exemplarischen Fälle genannt hat, in denen ein Fasten infrage kommt, und auch sonst keine Einzelheiten erwähnte. Auch die Seitenreferenten (Mk, Lk) geben solche Informationen nicht her. Dadurch entsteht für die Gemeinde Jesu eine große geistliche Freiheit in der Fastenpraxis. Zum letzten Satz von V. 18 vgl. V. 4 und 6 und die Erklärung dort. Matthäus 6,19–34 7. Reichtum und Sorgen, 6,19–34 Matthäus 6,19–34 II Struktur Jesus verlässt das Gebiet der Tora (5,21–48) und der Säulen der jüdischen Frömmigkeit (6,1–18). Er kommt zu einer umfassenden Lebensethik, die er unter zwei Bedrohungen sieht: Reichtum und Sorge. Es geht um die den Menschen zutiefst bewegende Daseinsvorsorge, und wir sind erstaunt, davon manches in der späteren Philosophie, zum Beispiel Martin Heidegger, wieder anzutreffen. Die Friedensbewegung, etwa bei Franz Alt, konnte das nie richtig in den Blick bekommen. Jesus bejaht die Daseinsvorsorge. Aber sie muss in einer Gemeinschaft und in der richtigen Richtung stattfinden: in der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater und nach oben ausgerichtet. Es bleibt bewegend, wie Jesus immer an den beiden Polen ansetzt: bei den Reichen (hier mit dem Mammon) und bei den Armen mit ihren Sorgen. Das kommt auch in Mt 13,7.22 zum Ausdruck. Hierin dokumentiert sich, dass Jesu Gemeinde von Anfang an Reiche und Arme umfasste (vgl. Jak 1,9ff; 2,1ff; 5,1ff). Dieser Sachverhalt hat die Kirche in allen Zeiten geprägt. Die Parole: „Kirche für die Armen“ / „Option für die Armen“ stammt aus der Ideologie, nicht aus der Bibel. Betrachtet man Mt 6,19–34 im Einzelnen, dann zeichnen sich vier Aussagegruppen ab: 1) Worte über den Schatz (V. 19–21), 2) Worte vom Licht des Leibes (V. 22–23), 3) Worte über die Herren (V. 24) und 4) Worte über das Sorgen (V. 25–34). Der ἐάν-Stil [ean] der Verse 1–18 ist vorüber. In V. 19–34 herrscht der Stil der prophetischen Analyse und Aufforderung, stark verbunden mit weisheitlichen Gedanken. Die Sprache Jesu ist umwerfend direkt und durch viele Wiederholungen geprägt. Matthäus 6,19–34 III Einzelexegese Wie in 5,17 eröffnet ein μή [mē] mit Imperativ die folgenden Sätze. Es ist der Ton prophetischer Warnung. Sammelt euch nicht Schätze auf Erden (V. 19): Das ergibt nur Sinn für die Reichen. Denn die Beifügung auf Erden zeigt, dass es sich um irdische Güter handelt und nicht um geistliche. Mit der Warnung vor einer solchen Schatz-Ansammlung (hebr. אוֹצָר [ʾōzār]) auf Erden steht Jesus in einer Reihe mit jüdischen Rabbinen, aber auch mit der biblischen Weisheit (Prov 23,4f; 30,8f; Sir 29,14ff). Lk 12,33f und Jak 5,2f zeigen, dass dieses Thema auch später aktuell blieb. Bemerkenswert ist, dass die Bergpredigt an keiner Stelle die reichen Gemeindeglieder verpflichtet, ihren Reichtum wegzugeben. Sie gibt ihnen nur die Richtung vor, in der sie ihre Schätze anlegen sollen. Die Begründung in V. 19 ist durchaus rational: Die Schätze auf Erden fallen Motte und Rost anheim und auch den Dieben. Was die Motte (σής [sēs]) bzw. deren Raupe verzehrt oder vernichtet, sind Textilien. Was der Rost frisst, sind Metalle. Demnach legte man seine Schätze in Textilien (Luxusgewändern, Feierkleidern) oder Metallen (Münzen, Barren, Gefäßen usw.) an. Vergleiche Jak 5,2f. Das griech. Wort βρῶσις [brōsis] bezeichnet aber möglicherweise auch den Wurm oder ein Insekt (vgl. Jes 51,8). Wenn Jak 5,2f eine treffende Interpretation von Mt 6,19 darstellt, muss man allerdings bei der Übersetzung Rost bleiben. Dass Diebe in allen Kulturen die Schätze bedrohen, ist klar. Jesus erwähnt speziell das διορύσσειν [dioryssein], wörtlich „durchgraben“, freier übersetzt „einbrechen“, weil sich damals die Diebe gelegentlich durch die aus Lehm errichteten Hausmauern hindurchgruben (vgl. Ez 12,5; Hiob 24,16). Im parallelen Satzbau schließt sich V. 20 an: Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost sie verzehren, und wo Diebe nicht nachgraben und stehlen. Noch im Griechischen ist Jesu Sprache eindrucksvoll. Sie ist sowohl schön als auch zweckmäßig, das heißt leicht memorierbar. Kommentatoren sprechen von „memorable aphorism“ und bestätigen ihr einen „poetical character“. Inhaltlich sticht zuerst hervor, dass Jesus geradezu dazu auffordert, Schätze zu sammeln. Schlatter hat das prägnant zum Ausdruck gebracht: „Gewiß sollen wir Schätze sammeln, weder müßig sein noch umsonst arbeiten ohne bleibenden Gewinn, der uns in der Zukunft zugute kommt.“ Das Entscheidende ist, wo wir die Schätze sammeln (fünfmal erscheint in V. 19–21 das ὅπου [hopou], wo). Jesus will, dass wir sie im Himmel (ἐν οὐρανῷ [en ouranō]) sammeln, also bei Gott. Die Kommentare sprechen gelegentlich von einer „Kapitalanlage im Himmel“, die glaubende Gemeinde von einer „Himmelsbank“. Jesu Ausdrucksweise macht solche Veranschaulichungen möglich. Es geht aber, wie Zahn es zutreffend beschrieben hat, um „ein Gott wohlgefälliges Verhalten, welches bei Gott im Himmel unvergessen bleibt“.13 Paulinisch gesprochen: Es geht um das „Lob“ (ἔπαινος [epainos]), das uns der Herr im Endgericht zukommen lässt, weil wir ihn und seinen Willen gesucht haben (1Kor 4,5). Steht es aber so, dann sind die Schätze in V. 20 geistlicher Art. Dann wird man mit Fiedler auch die Schätze in V. 19 im Blick auf immaterielle Güter offenhalten müssen. Sie dürfen also nicht nur materiell verstanden werden, sondern schließen Ruhm und Ehre, Berufserfolg und den Genuss von Kunst und Kultur, das Erleben von Macht und Selbstverwirklichung und anderes mit ein. Steht es so, dann greift die These von Ulrich Luz, in 6,19–34 formuliere „Matthäus … seine Kritik am Besitz“, viel zu kurz. In Wirklichkeit geht es Jesus in diesen Versen um die Kritik an der Gottesferne und um die Einladung zum Gottesreich. Wie gut Jesus dabei an die Weisheit und die frühen jüdischen Lehrer anschließen konnte, zeigen Stellen wie Tob 4,9ff; Sir 29,10ff; Ps Sal 9,5; 4Esr 7,77. Wie stark seine Lehre die Apostel prägte, zeigen zum Beispiel Kol 3,1f; 1Tim 6,19; Jak 2,18; 5,2f. Die Worte über den Schatz schließen mit einer kurzen Sequenz: Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz (V. 21). Sie überrascht. Denn liegt nach dem Vorausgehenden nicht die Formulierung „wo dein Herz ist, da ist auch dein Schatz“ näher? Bestimmt sich die Entscheidung, wo wir unsere Schätze sammeln, nicht nach der Richtung unseres Herzens? Zweifellos. Doch gerade dann gibt der Zielpunkt unseres Schätzesammelns Auskunft über unser Herz. Und offenbar will Jesus unser Herz gerade so offenbar machen, dass er uns Klarheit gewinnen lässt über den Ort, an dem wir unsere Schätze sammeln. Obwohl Jesus sich immer wieder auf das Herz als das innerste Entscheidungsorgan des Menschen konzentrierte (vgl. Mt 5,8.28; 6,21; 15,18f), blieb ihm jeder verweichlichte Herzenskult fremd. Gegenüber einer zum Radikalismus neigenden Exegese mussten besonnene Ausleger immer wieder darauf hinweisen, dass in Mt 6,19–21 nicht der Reichtum an sich verurteilt wird. So sagt R.V.G. Tasker mit Recht, die Jünger sollten es zu ihrem Ziel machen, ihren materiellen Reichtum weise und großzügig einzusetzen („they should make it their aim to use their material wealth wisely and generously“), und R.T. France bemerkt: „It is not so much the disciple’s wealth that Jesus is concerned with as his loyalty.“17 Solange wir als Gemeinde Jesu auf Erden leben, sind wir auch auf reiche Gemeindeglieder angewiesen (Lk 8,3; 10,38; Joh 19,38ff; Apg 4,34ff; 5,4; 16,14ff; 1Tim 6,17ff; Jak 1,10; 4,13ff). Die Verse 22 und 23 enthalten Worte vom Licht des Leibes, nämlich vom Auge. Manches davon scheint uns schwer verständlich. Ungewöhnlicherweise beginnt Jesus mit einer Definition: Die Leuchte des Leibes ist das Auge (V. 22). Leuchte, λύχνος [lychnos], ist die täglich im Gebrauch befindliche Lampe, normalerweise also die Öllampe. Das Auge macht unsere Umgebung hell und wahrnehmbar. Insofern ist das Bild Jesu rasch verständlich. Die „Lampe“ des Auges erleuchtet uns aber nicht nur nach innen, sondern sie scheint auch nach außen, sodass Menschen von ihrer Helligkeit oder ihrer Düsterheit angerührt werden. Strahlende, fröhliche, gütige Augen sind eine Wohltat. Von dieser Beobachtung ausgehend sind die jüdischen Redewendungen vom guten, fröhlichen, gütigen oder einfältigen Auge einerseits (vgl. Prov 22,9; Sir 35,10ff; Eph 1,18) und vom bösen Auge andererseits (vgl. Ps 18,28; Prov 6,17; 21,4; Jes 2,11; Mt 20,15) zustande gekommen. Man vgl. auch Ps 32,8: „Ich will dich mit meinen Augen leiten“, und Ps 145,15: „Aller Augen warten auf dich.“ Dabei ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Auge kein Entscheidungsorgan ist, sondern Helligkeit und Finsternis dieser „Lampe“ vom Herzen gesteuert werden (Prov 6,17f; 21,4). Wenn nun dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib erleuchtet sein (V. 22): Es bleibt möglich, mit Karl Bornhäuser und anderen das einfältige Auge (ὁ ὀφθαλμὸς ἁπλοῦς [ho ophthalmos haplous]) auf das gütige Geben zu beziehen. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe: 1) Die Verbindung von ἁπλοῦς/ἁπλότης [haplous/haplotēs] mit dem gütigen, opferbereiten Geben auch an anderen Stellen (Röm 12,8; 2Kor 8,2; 9,11.13; Jak 1,5), 2) die Verbindung mit dem Thema Schätze/Reichtum. Bornhäuser möchte deshalb in Mt 6,22 ἁπλοῦς [haplous] (hebr. תֹּב, תָּם, יָשָׁר, יֹשֶׁר, כֵּן [tob, tām, jāschār, joschär, ken]) mit „gut“ übersetzen.23 Als Sinn ergibt sich für ihn: „geht mit strahlendem Auge, d.h. – als fröhliche Geber aus einem Herzen voll Güte heraus“. Es irritiert allerdings, dass das Stichwort geben/mitteilen im ganzen Abschnitt Mt 6,22–34 nicht auftaucht. Auch die Parallele Lk 11,34–36 enthält es nicht. Bauernfeind wählt deshalb einen andern Zugang. Er meint, in Mt 6,22 sei nur von leiblichen Zuständen die Rede, und übersetzt ἁπλοῦς [haplous] mit „gesund“. Es geht dann also darum, dass unser Auge gesund wird, damit es das Licht = Jesus und sein Evangelium wahrnehmen kann.26 Joachim Jeremias deutet das Bildwort vom Auge in ähnlicher Weise. Er übersetzt: „Ist dein Auge heil, so ist dein ganzer Körper hell, ist dein Auge krank, so ist dein ganzer Körper finster.“28 Nach diesem Verständnis bedeutet Mt 6,22f „eine Warnung … vor innerer Blindheit“, ebenso wie Lk 11,34ff. Ein Vorteil dieser Deutung liegt darin, dass sie sowohl auf die Matthäus-Stelle wie auf die Lukas-Stelle angewandt werden kann. Problematisch wird dann jedoch der Zusammenhang mit anderen Aussagen in Mt 6,19–34 und nicht zuletzt der Wechsel im Duktus: Mt 6,19–34 hat ansonsten eine ermutigende, tröstende und korrigierende Ausrichtung, während Mt 6,22f in der Deutung von Jeremias eine äußerste Schärfe gewinnt: „Ihr seid verstockt!“ Eingedenk dessen, dass wir nicht wissen, ob Lk 11,34–36 und Mt 6,22f wirklich bei derselben Gelegenheit gesprochen wurden und die Adressaten bei Matthäus und Lukas doch verschieden sind, sollten wir uns auf das Verständnis des Bildwortes bei Matthäus konzentrieren. Angesichts der umfassenden Aussagen des ganzen Abschnitts empfiehlt sich in Mt 6,22 eine Spezialisierung auf „die verschiedene Weise, dem Bedürftigen zu geben“ nicht. Viel näher liegt eine Interpretation in Anknüpfung an Sir 35,10, wo wir aufgefordert werden: „Mit rechtschaffenem Auge ehre den Herrn!“ So wie unser Schätzesammeln bei Gott erfolgen soll (V. 19–21), so soll unser Auge einfältig, ganz und gar auf Gott ausgerichtet sein, um sein Licht für unsere ganze Person zu empfangen: dann wird dein ganzer Leib erleuchtet sein. Nahe an dieser Aussage stehen übrigens johanneische Stellen (Joh 11,10; 12,35). Ist aber das Gegenteil der Fall, nämlich dein Auge böse (ὁ ὀφθαλμός σου πονηρός [ho ophthalmos sou ponēros]), dann dringt kein göttliches Licht mehr in uns ein. Dann wird dein ganzer Leib finster sein (V. 23). Hier schließen wir uns also an die Deutung von Bauernfeind und Michaelis an. Zum bösen Auge vgl. Mt 5,29; 18,9; 20,15; Mk 7,22; 2Petr 2,14; 1Joh 2,16. Ähnlich wie in V. 21 schließt Jesus die Worte vom Licht mit einer zugespitzten Sequenz: Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß ist dann die Finsternis? Die Begrifflichkeit wechselt von der Lampe (λύχνος [lychnos]) zum Licht (φῶς [phōs]) – ein Hinweis darauf, dass wir mit der obigen Deutung richtig lagen. Nicht ganz eindeutig ist die Wendung ἐν σοί [en soi]. Heißt es „an dir“? Dann wäre das Auge als Lichtquelle gemeint. Oder heißt es „in dir“? Dann wäre das innere Licht gemeint, also der Zustand, den das Auge im Menschen hervorbringt. Lk 11,34ff spricht für Letzteres. Ein böses Auge jedenfalls kann im Menschen nur Finsternis erzeugen, also Abwendung von Gott. Die Bestimmung des Auges ist es aber, im Menschen Licht zu erzeugen, ins Geistliche übertragen: Liebe zu Gott und Verbindung mit ihm. Zweifellos geht Jesus in Mt 6,23 vom Leiblichen (Lampe) zum Geistlichen (inneres Licht) über. Wir brauchen das gute, das einfältige Auge, um Licht zu sein (Mt 5,14) und im Licht zu wandeln (Joh 12,36; Eph 5,8). Besitzen wir es nicht, wird aus der Lichtvermittlung eine Finsternisvermittlung: wie groß ist dann die Finsternis! Diese Worte sind eine Einladung und kein drohender Gerichtsruf: „Ihr seid verstockt!“ Es folgen die Worte über die Herren (V. 24): Niemand kann zwei Herren dienen. Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Da Jesus am Ende vom Mammon spricht, beziehen die Ausleger den Vers sofort auf Gott und das Geld. Es könnte jedoch auch eine geplante Überraschung vorliegen, wenn Jesus am Anfang formuliert: Niemand kann zwei Herren dienen (δυσὶ κυρίοις δουλεύειν [dysi kyriois douleuein]). Ist das nicht im politischen Bereich eine Aussage der Zeloten? Doch Jesus befindet sich seit V. 19 beim Thema „Reichtum“ und so ist kein Zweifel, dass seine Worte dem irdischen Besitz und nicht dem Kaiser in Rom gelten. Ökonomisch betrachtet stimmt die Aussage Niemand kann zwei Herren dienen zunächst nicht. Denn sowohl in der jüdischen als auch in der römischantiken Welt kam es öfter vor, dass ein Sklave oder eine Sklavin zwei Herren hatte, zum Beispiel zwei Geschäftsteilhaber oder zwei Brüder. Apg 16,16 ist ein solches Beispiel. Es konnte sogar vorkommen, dass ein Sklave von einem der beiden freigelassen wurde, vom andern aber nicht. In einem solchen Falle war er zur Hälfte ein Freier und zur Hälfte ein Sklave. Was ein Sklave in solchen Fällen aber nicht kann, ist, wie August Tholuck mit Recht schrieb, zwei „Willensrichtungen“ uneingeschränkt nebeneinander aufrechtzuerhalten, nämlich beide Herren gleich zu lieben und ihnen gleich loyal zu dienen. Dabei sollte man δουλεύειν [douleuein] nicht auf die Ergebenheit eines Sklaven verengen. Hinter δουλεύειν [douleuein] steckt vielmehr das hebr. Wortfeld עָבַד [ʿābad], עֶבֶד [ʿäbäd], was durchaus eine Ehrenstellung bezeichnen kann. So wird das δουλεύειν [douleuein] gerade Gott gegenüber anwendbar. Jesus erklärt sich sofort deutlicher: Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen anhangen und den anderen verachten. Die erste Alternative ist stärker auf die Praxis des Handelns bezogen. Gemäß semitischem Sprachgebrauch bestimmt sich dabei lieben (ἀγαπᾶν [agapan]) und hassen (μισεῖν [misein]) nicht von der reinen Emotionalität her, sondern drückt ein praktisches „bevorzugen“ und „benachteiligen“ aus (vgl. Gen 29,30.33; Dtn 21,15–17). Die zweite Alternative hingegen – anhangen40 oder verachten – ist mehr auf die innere Haltung bezogen. Es ist nicht zu übersehen, dass Jesus hier auch die galiläische Lebenserfahrung zum Ausdruck bringt. Wie in V. 19ff und V. 22f schließt Jesus mit einer kurzen Sentenz: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Sofort ist klar, dass Jesus jedes Nebeneinander von zwei Orientierungen oder Willensrichtungen ausschalten will. Denn der Wille, zu Geld und Vermögen zu kommen, „wird … praktisch zur Versklavung unter dasselbe“.43 Gottes Kraft oder Mammons Sklave, lautet die unausweichliche Alternative, deren Wucht Jesus im eigenen Leben erfahren hat (vgl. Mt 19,16ff). Jakobus hat vermutlich in Jak 4,4 die genialste Auslegung von Mt 6,24 gegeben: „Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.“ Jesu Stellungnahme ist hier unerbittlich, gerade weil er keine Kasuistik entfaltet und auch nicht der Welt enthoben jedes Eigentum verteufelt. Was er will, ist, dass die Jünger dem Glaubensbekenntnis Israels entsprechend mit ganzer Liebe an Gott hängen (Dtn 6,4f; Mt 22,36ff). Damit ist zugleich gesagt, dass er wie immer seit 5,1ff zu den Jüngern spricht und nicht allgemein zur Menschheit. Der Begriff μαμωνᾶς [mamōnas] hat den Auslegern viel Mühe verursacht. Seine Herkunft ist unsicher. Am ehesten scheint eine Ableitung vom hebr. אמן[ʾmn] („Hinterlegtes“, „Geld“) infrage zu kommen oder auch von einem kanaanäischen Lehnwort mit der Bedeutung „Nahrung“, „Verpflegung“, „Vorrat“.47 Nach einer Notiz Augustins soll man noch zu seiner Zeit im punischen Dialekt von „mammon“ gesprochen haben. Jedenfalls handelt es sich um ein semitisches Wort, das im AT noch nicht vorkommt und das allgemein Besitz, Vermögen, Habe und Geld bezeichnet. Anfangs ethisch neutral, wird der Mammon im Judentum bald im negativen Sinn gebraucht. In diesem negativen Sinn hat es Jesus aufgegriffen, um vor der inneren Hingabe an den Mammon zu warnen, vgl. seine Redewendung vom „ungerechten Mammon“ in Lk 16,9.11. Bisher hat Jesus die Gefahr des Reichtums (vgl. Mt 13,22; 19,23ff) angesprochen. In V. 25–34 geht er nun auf den Gegenpol ein: die Sorge, die auch gerade bei den Armen zu Hause ist. Dabei darf man nicht den Fehler machen, vorwiegend an soziologische Gruppen – „die Reichen“, „die Armen“ –zu denken. Nein, die Gefahr, den Mammon zu verehren, droht auch den Armen. Und Sorgen bewegen auch die Reichen. Jesus hat also überall in 6,19–34 den ganzen Menschen im Blick, der als Gotteskind im Vertrauen leben soll. Darum sage ich euch beginnt V. 25. Diese Einleitung schafft nicht nur eine redaktionelle Verklammerung mit dem Vorausgehenden, sondern bedeutet auch eine inhaltliche Weiterführung der Verse 19–24. Jesus sieht also im Mammonsstreben nicht nur den Ausdruck des Willens zur Macht oder Anerkennung, sondern auch die tiefe Sorge des gottfernen Menschen um seine Existenz. Zweitens gilt es mit Luz die Ich-Form zu beachten. Das λέγω ὑμῖν [legō hymin] (ich sage euch) ist wie in 5,18ff; 6,2.5.16 der Ausdruck der messianischen Autorität Jesu. Es bestätigt sich erneut, dass „Jesus … als Messias die Zeit einer neuen Thora inauguriert“, wie es August Strobel formuliert. Sorgt nicht für euer Leben (V. 25) ist die Überschrift und die Grundlinie für das Folgende. Sicher ist ψυχή [psychē], נֶפֶשׁ [näphäsch], hier Leben und nicht „Seele“. Sorgt nicht (μὴ μεριμνᾶτε [mē merimnate]), „macht euch nicht solche Sorgen“, greift das allgemeine „menschliche Dasein als ein von der Sorge bewegtes“56 auf. Diese Worte gehen also alle Jünger, ja sogar alle Menschen, an. Dass es berechtigte Sorgen gibt, zeigen neutestamentliche Stellen wie 1Kor 12,25; Phil 2,20 und die alttestamentliche Weisheit (z.B. Sir 18,20; 22,2). Aber berechtigte Sorgen sind es, weil vom Menschen ein planendes, verantwortungsvolles Verhalten verlangt wird. Jak 4,13ff ist dafür ein gutes Beispiel, vor allem aber Lk 16,1ff, ein Beispiel, das Jesus selbst verwendet hat. Die Sorgen, die er in Mt 6,25ff anspricht, gehören jedoch in eine andere Kategorie. Sie betreffen das Urvertrauen des Kindes zu seinem himmlischen Vater. Um es paradox zu formulieren: Nur wer die Sorgen von Mt 6,25ff an Gott abgibt, kann für sich und andere richtig sorgen. Dass die Apostel hier Jesus gut verstanden haben, geht aus Phil 4,6 und 1Petr 5,7 hervor. Die folgenden Fragen deuten genau in diese Richtung: was ihr essen oder was ihr trinken sollt und … was ihr anziehen sollt. Essen, Trinken, Kleidung sind die täglichen Existenzsorgen und elementare Bedürfnisse des Menschen (vgl. Jes 22,13; 1Kor 15,32; Ps 127,2; 1Tim 6,6f). Beim anziehen konkretisiert Jesus die Sorge für euer Leben als Sorge für euren Leib. Der Leib ist hier wie in V. 22f die ganze Person, fast so viel wie die Persönlichkeit. Eduard Schweizer definiert den Leib von Mt 6,25 als „das eigentliche Ich“. So muss die Antwort auf die Fragen: Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?, selbstverständlich lauten: Ja, so ist es. Jesus folgt hier wieder einem rationalen Überzeugungsverfahren, gesättigt mit Lebenserfolg und Common Sense. Es erinnert an die Weisheit, ist aber von einem viel leidenschaftlicheren Werben um die Hörer geprägt, da es in allem immer auch um seine Person geht (ich sage euch). Bei den frühen Kirchenlehrern wurde Mt 6,25 vielfach, aber auch sehr vielfältig interpretiert. Manchmal diente es zur Aufdeckung der Schuld, der selbst die Heiligen verfallen. Manchmal diente es auch dem Ruf, die Seele von Irdischem unbefleckt zu halten, und bahnte damit einen Dualismus der Existenzweisen an, so wenn Johannes Damascenus schreibt: „Gott wollte, dass wir so leidenschaftslos seien … außerdem auch sorglos, daß wir nur eine Beschäftigung haben, jene der Engel: unaufhörlich und unablässig den Schöpfer zu preisen … und unsere Sorge auf ihn zu werfen.“63 Um das Sorgen im Sinne von V. 25 zu überwinden, richtet Jesus in V. 26 die Blicke der Jünger auf Gottes Schöpfungswunder: Schaut euch die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in die Scheunen. Und euer himmlischer Vater ernährt sie doch! Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? In ἐμβλέψατε [emblepsate] kommen zwei Aspekte zusammen: 1) das zielgerichtete Sehen, 2) das geistige Betrachten und Schauen. Beides versucht unsere Übersetzung Schaut euch an aufzunehmen. Statt dem Luther’schen Vögel unter dem Himmel heißt es in stehender Redewendung eigentlich „Vögel des Himmels“ (τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ [ta peteina tou ouranou]), also die Vögel, die im Luftraum fliegen, von Gott nach Gen 1,20ff geschaffen sind und unter seiner Fürsorge leben (vgl. Gen 2,19; Hiob 12,7; 38,41; Ps 104,13ff; 147,9; Dan 4,9.18 [LXX 4,12.21]; Mt 6,26; 8,20; Mk 4,32; Lk 8,5; Apg 10,12; 11,6). Jesus muss in seiner wunderschönen galiläischen Heimat eine tiefe Liebe zur Schöpfung gefasst haben, die ihn nun erzählen lässt: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in die Scheunen. Sie sind darin das Gegenteil des fleißigen galiläischen Bauern. Und jetzt das Wunder: Und euer himmlischer Vater ernährt sie doch! Es ist ein Gotteswunder, denn nur Gott kann so etwas tun. Es ist eine Wiederaufnahme der Weisheit Israels, die Gott den Vögeln „Futter bereitstellen“ und sogar die Vögel zu Gott rufen lässt (Hiob 12,7; 38,41; Ps 104,13ff; 147,9). Es ist drittens und hauptsächlich ein Ruf an die Jünger, als Gottes Kinder zu leben, zu beten (vgl. V. 11) und ihrem himmlischen Vater zu vertrauen. Mt 6,26 liegt vollkommen auf der Linie von Mt 6,11. Seid ihr (die Jünger) nicht viel mehr wert als sie (die Vögel unter dem Himmel)? Das griechische μᾶλλον διαφέρετε [mallon diapherete] stellt eine Häufung mehrerer Komparative und demnach eine Verstärkung des Komparativs dar. Trotz seiner Liebe zu den Geschöpfen erklärt also Jesus eindeutig, dass der Mensch viel mehr wert ist als ein Tier. Das ist keineswegs eine selbstverständliche Erklärung. Bei den Völkern Amerikas verkörpern die Tiere oft Mächte, die dem Menschen überlegen sind. Vielleicht steckt auch im „Jagdzauber“ der Höhlenmalereien des steinzeitlichen Europa eine ähnliche Anschauung. Die Menschen des Orients haben durch die Zusammensetzung ihrer Götzenbilder aus Menschen und Tieren zum Ausdruck gebracht, dass sie beide Götter sein können. Man denke vor allem an die Tiergestalten der ägyptischen Religion. Und auch im modernen nordatlantischen Raum gibt es eine Denkweise, die Menschen und Tiere als Wesen der „Mutter Erde“ gleichrangig behandeln will. Woher also hat Jesus sein viel mehr wert? Es stammt aus dem Schöpfungsbericht der Bibel Gen 1 und 2, auf den Jesus immer wieder zurückgegriffen hat (vgl. Mt 19,3ff). Nach diesem Schöpfungsbericht ist der Mensch Krone und Ziel der Schöpfung, das Ebenbild Gottes, das nur „wenig niedriger gemacht“ ist als Gott selbst (Ps 8,6). So kann die Antwort auf seine Frage nur ein Ja sein. Auf zweierlei ist noch hinzuweisen. Erstens zeigen die biblischen Weisheitsstellen in Hiob 12,7; 38,41; Ps 147,9, an die Jesus anknüpft, dass er die Welt wirklich nicht als eine Trauminsel betrachtet. Denn dort ist vom hungrigen Schreien der Vögel die Rede und ihrem „irrefliegen, weil sie nichts zu essen haben“. In Ps 104,27 und 145,15f lesen wir vom Warten darauf, dass Gott die Speise zur rechten Zeit gibt. Auch Vögel fallen tot zur Erde, weil sie verhungern oder sonst zu Tode kommen (Mt 10,29; Lk 12,6). Ohne Zweifel hat Jesus selbst gehungert (Mt 4,2; Joh 4,6.31). Das ist all den Kultur- und sonstigen Kritikern zu sagen, die Jesus als Sozialromantiker verstehen wollen. Es geht ihm, wie schon die Versuchungsgeschichte zeigte (Mt 4,2ff), um ein auch in Tiefe und Not festzuhaltendes Vertrauen auf Gott und nicht eine garantierte Tagesration an Essen und Trinken. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Jesus relativ oft die Vögel des Himmels als Anschauungsbeispiel wählte (vgl. Mt 6,26; 8,20; 10,29; 13,4.32). Aus solchen Überlieferungen muss auch das Anschauungsmaterial entstanden sein, das im halbhäretischen und häretischen Christentum Arabiens umlief und aus dem Mohammed wahrscheinlich die Geschichte schöpfte, die in der 5. Sure des Koran steht: dass nämlich der junge Jesus einen Vogel aus Ton gebildet habe, der dann ein wirklicher Vogel wurde (5,111). Von solchen Legenden ist der Jesus der Bibel weit entfernt. In Vers 27 setzt sich der lebhafte und doch sehr rationale Lehrstil Jesu fort: Wer von euch kann durch Sorgen seiner Lebensdauer auch nur eine einzige Zeitspanne hinzufügen? Wörtlich: „Wer von euch, der sorgt (μεριμνῶν [merimnōn]) …“ Das euch macht darauf aufmerksam, dass wir uns noch immer in einer Rede an die Jünger befinden (seit 5,1ff). Diskutiert werden die beiden Begriffe ἡλικία [hēlikia] und πῆχυς [pēchys]. Ersteres hat drei Bedeutungen: 1) Lebensalter, 2) Zeitalter, 3) Körpergröße. Infrage kommen für Mt 6,27 Nr. 1) und Nr. 3). Da nachher von einem πῆχυς [pēchys], „Elle“, die Rede ist, würde man zunächst an die Körpergröße denken. Aber der πῆχυς [pēchys] hat als Längenmaß ca. einen halben Meter (45–52cm). Ergibt es Sinn, zu sagen: „Ihr könnt eurer Körpergröße nicht einen einzigen halben Meter hinzufügen?“ Deshalb schlägt Johannes Schneider 1935 im ThWNT vor, ἡλικία [hēlikia] in Mt 6,27 und Lk 12,25 als Lebensdauer und πῆχυς [pēchys] als Zeitspanne aufzufassen. So übersetzt man heute gewöhnlicherweise,74 und auch wir folgen diesem Vorschlag. Wieder kann die Antwort auf Jesu Frage nur lauten: Keiner.76 Nicht eine einzige Sekunde leben wir länger, als Gott es bestimmt hat (vgl. Ps 36,10; 39,5; 90,3ff; Prov 9,9; Sir 11,14). Alles Sorgen ändert daran bis zum heutigen Tage nichts. Paul Gerhardt hat den Sachverhalt vollkommen treffend erfasst: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein“ (EG 361,2).77 Vers 28 stellt uns vor eine vierte Frage: Und was sorgt ihr euch um Kleidung? Sie aktiviert das in V. 25 Gesagte noch einmal. Erneut fordert Jesus dazu auf, die Schöpfungswunder zu betrachten. Dabei wechselt er von den Tieren zu den Pflanzen, von den Vögeln zu den Blumen: Betrachtet die Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie plagen sich nicht und spinnen auch nicht. καταμανθάνω [katamanthanō], griech. „das Intensivum zu μανθάνω“, steht in der LXX grundsätzlich für ראה [rʾh], „sehen“. Es bedeutet „genau untersuchen“, „erfassen“, „begreifen“, „beachten“. Dieses betrachten, wie wir übersetzten, enthält also die Elemente der genauen verstandesmäßigen Erfassung genauso wie die Elemente der Klarheit über die Konsequenzen. Für die Lilien auf dem Feld81 gilt immer noch der Satz: „eine genaue Bestimmung muss offen bleiben“. Michael Zohary schreibt in seinem Abschnitt über Feldblumen, mit den Lilien von Mt 6,28; Lk 12,27 seien einfach „schöne wilde Blumen“ gemeint. Bei der „Weißen Lilie“, Lilium candidum, notiert er die häufige Verwendung als Schmuckmotiv in vielen antiken Zivilisationen, jeweils als „Symbol der Schönheit“. Auszuscheiden sind seines Erachtens die Meerstrandnarzisse und die Tazette.85 F.N. Hepper erwägt ebenfalls verschiedene Möglichkeiten, wobei er Mt 6,28 mit der Kronenanemone, der Kronenmargarite oder dem weißen Gänseblümchen verbinden könnte. Das Jerusalemer Bibellexikon schlägt beispielsweise Anemone, Narzisse, wilde Tulpe und Krokus vor. Wir begnügen uns wie Michael Zohary damit, an die „Schönheit Hunderter von Blumen“88 im Frühling des Israellandes zu denken. All diese wunderbaren Geschöpfe in den Tälern und Bergen Israels plagen sich nicht und spinnen auch nicht. Sie wachsen einfach. In Mk 4,28 hat Jesus einen ganz ähnlichen Gedanken geäußert. Vielleicht nimmt er hier mit sich plagen / „sich abmühen“ und spinnen Anschauungsbilder aus dem Bereich der Frau, so wie er in V. 26 seine Anschauungsbilder aus dem Bereich des Mannes („säen“, „ernten“, „in Scheunen sammeln“) genommen hatte. Jedenfalls steht im Hintergrund wieder die Erfahrungswelt des AT, das den Menschen ebenfalls mit einer Blume oder dem Gras auf dem Felde vergleichen kann (Ps 90,5ff; 102,12; 103,15; Jes 40,6ff). In V. 29 wiederholt Jesus zunächst sein Ich sage euch (λέγω ὑμῖν [legō hymin]) aus V. 25. Es bleibt in all diesen Versen unübersehbar, dass hier nicht ein Rabbi oder Weisheitslehrer spricht, der seine Meinung zu den Meinungen anderer hinzufügt, sondern der Messias und Gottessohn mit seiner einmaligen Autorität. Nun aber, in V. 29, geht er von den Schöpfungswundern zu geschichtlichen Erscheinungen über. Sowohl die Schöpfung als auch die Geschichte dienen ihm als Gleichnis: Ich sage euch aber: Nicht einmal Salomo in all seiner Pracht kleidete sich wie eine von diesen [= den Lilien auf dem Felde]. Salomo, neutestamentlich und griechisch Solomon = der Friedevolle (1Chron 22,9), wird schon im AT außerordentlich gewürdigt: als Dichter, Schriftsteller, Weiser und Friedenskönig Israels. Vergleiche besonders 1Kön 5,12–14; 10,14ff; Hld 3,11. Dabei wird immer wieder seine Pracht und sein Reichtum hervorgehoben. Im antiken Judentum verstärken sich diese Züge noch, ja die „Lebenshaltung Salomos erscheint sprichwörtlich“.95 Einer der Zeugen ist hier Josephus. Ihm zufolge rühmt die Königin von Saba seine εὐδαιμονία [eudaimonia] (Glückseligkeit, Pracht), und nach des Josephus eigenem Schlussurteil übertraf Salomo alle anderen Könige an Pracht und Reichtum. Jesus hat mehrfach Salomo als bewundertes Beispiel aus der Geschichte Israels erwähnt (Mt 6,29; 12,42). Seinen Hörern war es wohl vertraut. Sie konnten bei den Lilien auf dem Feld auch an die purpurne Anemone (Anemone coronaria) denken, die Dalman einst vorschlug und die „an einen Königsmantel“ erinnert. Summa: Jede einzelne dieser Feldblumen übertrifft Salomos Pracht, weil sie Gott unnachahmlich schön gemacht hat. Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet – sollte er dann nicht viel mehr euch kleiden, ihr Kleingläubigen? (V. 30). Mit dieser fünften Frage setzt Jesus seine an das Denken gerichtete Werbung um Vertrauen zum himmlischen Vater fort. Erneut vollzieht er die Schlussfolgerung vom Kleineren (Pflanzen) zum Größeren (Gotteskinder). Einer atheistischen Naturbetrachtung wird das nicht einleuchten. Aber Jesus spricht zu Juden, die in der Offenbarung Gottes erzogen worden sind. Gott also ist es, der das Gras auf dem Feld (τὸν χόρτον τοῦ ἀγροῦ [ton chorton tou agrou]) so unübertrefflich in Schönheit kleidet. Bei Gras darf man nicht an die mitteleuropäischen Grasfluren denken. Es handelt sich vielmehr um „blühendes Unkraut“ bzw. um das, „was grün“ auf den Fluren steht102, im Gegensatz zu den Kulturgewächsen (vgl. Mk 6,39). Dieses Gras dient öfter zum Vergleich mit der Menschenwelt, vor allem im Hinblick auf seine kurze Lebensdauer und seine Vergänglichkeit (vgl. Hiob 14,2; Ps 90,5; 102,12; 103,15; Jes 40,6; 1Petr 1,24f). Auch den Rabbinen war diese Redeweise vertraut (Schab III, 1). Daran konnte Jesus gut anknüpfen. Er weist darauf hin, dass das Gras … heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird. Im waldarmen Israelland heizte man unter anderem auch mit den Stängeln des verdorrten Grases. Wenn Gott dem rasch vergänglichen Gras so viel Ehre und Zuwendung schenkt – sollte er dann nicht viel mehr euch kleiden, ihr Kleingläubigen? W.D. Davies hat recht: In Mt 6,25–34 „Christ demands final loyalty.“ Und: Ein solch uneingeschränktes, kindliches Vertrauen lohnt sich. Wie sehr alles auf dieses Vertrauen zuläuft, zeigt das letzte Wort von V. 30: Kleingläubige (ὀλιγόπιστοι [oligopistoi]). Es wird uns bei Matthäus öfter begegnen (8,26; 14,31; 16,8; 17,20). ὀλιγόπιστος [oligopistos] ist deutlich von ὀλιγόψυχος [oligopsychos] („kleinseelig“, „kleinmütig“, 1Thess 5,14) zu unterscheiden. „Kleinen Glauben“ tadelt Jesus an solchen, die aufgrund ihrer Erziehung und Gotteserfahrung schon mehr Vertrauen zu Gott haben sollten, als sie tatsächlich haben. Bei den Rabbinen finden sich ganz ähnliche Aussagen (Sota IX, 12; b Sot 48b). Man hat überlegt, weshalb Jesus so früh vom Kleinglauben seiner Jünger sprach. Ist hier in Mt 6,30 nicht etwas eingetragen bzw. in eine frühere Sammlung aufgenommen worden, was in Wirklichkeit auf ein späteres konkretes Ereignis zurückgeht? Das hat jedenfalls Bornhäuser angenommen. Doch erübrigt sich eine solche Annahme, wenn man sieht, dass 1) bereits die Propheten den Glaubensmangel in Israel beklagt haben (Jes 28,16; Jer 5,1ff), und 2) Jesus seine Jünger auf die Zukunft vorbereiten will, in der es eben den Kleinglauben zu überwinden gilt. Interessant ist, dass Augustinus das Präsens er kleidet betont auf die „gegenwärtige Tätigkeit“ Gottes, also die creatio continua, bezogen hat. In V. 31 zieht Jesus selbst die Konsequenz (οὖν [oun], also!) aus dem zuvor Gesagten: Ihr sollt also nicht sorgen und sagen (μεριμνήσητε λέγοντες [merimnēsēte legontes]): Was sollen wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Womit sollen wir uns kleiden? Dieser Vers hilft noch einmal zum richtigen Verständnis des Abschnitts Mt 6,25ff. Erstens wäre es eine Engführung, das Sorgen (μεριμνᾶν [merimnan]) mit Bornhäuser und Jeremias nur als „sich abmühen“ zu verstehen, nicht aber als „sich sorgende Gedanken machen“, und daraus ein „Verbot der Arbeit“ abzuleiten. Nein: Das Sorgen von Mt 6,25ff ist tatsächlich das sorgende Herz und damit gerade auch das „sich sorgende Gedanken machen“. Ein entsprechendes „sich mühen“ kann durchaus folgen – aber es ist eben nur die Folge der Sorge in Herz und Gedanken. Zweitens bedeutet es erneut eine Engführung, wenn Bornhäuser diese Worte nur an die „Apostel“ gerichtet sein lässt und meint, Jesus wolle sie um ihrer apostolischen Aufgabe willen von aller Arbeit freistellen. Wir haben kein Recht, den Hörerkreis, der sich bisher allgemein aus den Jüngern112 und weiteren Zuhörern zusammensetzte (Mt 5,1f; Lk 6,17), plötzlich auf die Apostel einzugrenzen. Drittens räumt Mt 6,31 mit dem Missverständnis auf, Jesus wolle seinen Anhängern in V. 25–34 die Arbeit verbieten. Schon der Vorwurf von Karl Kautsky, Jesus spreche von der Arbeit „in der wegwerfendsten Weise“, war skurril. Auch die Verteidigung der Arbeit gegen den Vorwurf, Jesus mache uns „leichtsinnig und träge“, mutet uns seltsam an.114 Es geht doch, wie W.D. Davies richtig betont, in Mt 6,25–34 im Kern nicht um das Thema „Arbeit“, sondern um das Thema Vertrauen und Kindschaft. Wie alle Gleichnisse, so sind auch diese Meschalim Jesu vom springenden Punkt her zu verstehen. Jesus hat selbst gearbeitet. Die Jünger, soweit sie ortsansässig waren, arbeiteten weiter, Jesus verstand auch den Dienst für Gott als „Arbeit“ (Mt 9,38; 10,10; 20,1f) und maß jeder Arbeit ihren Wert bei: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Lk 10,7). Wie sollte jemand, der das ganze Gesetz verwirklichte (Mt 5,17–20), nun plötzlich gegen die Zehn Gebote Stellung beziehen, in denen es heißt: „Sechs Tage sollst du arbeiten“ (Ex 20,9)? Stattdessen lehrt uns Jesus, weder im Erfolg noch im Misserfolg unseres Lebens das Vertrauen auf den himmlischen Vater und seine Allmacht aufzugeben. Denn auf all das [= Essen, Trinken, Kleidung] sind die Heiden aus (V. 32). ἐπιζητεῖν [epizētein] bedeutet „das Streben, die Einstellung von Wunsch und Wille des Menschen“. Eine erstaunliche, nahe Parallele zu Mt 6,32, auf die Theißen-Merz aufmerksam machen, findet sich im Aristeasbrief (wohl zu Anfang des 1. Jh. v.Chr. entstanden121). Dort schreibt der jüdische Verfasser, die Juden würden von den Ägyptern „Gottesmenschen“ genannt, während die Nichtjuden = Heiden „Menschen der Speise und des Tranks und der Kleidung“ seien, „denn all ihr Streben ist darauf gerichtet“ (Aristeas 140f). Wo keine Hoffnung auf das Reich Gottes und das ewige Leben besteht, beherrschen noch heute Essen, Trinken und Kleidung die Gedanken. In der zweiten Hälfte von V. 32 wiederholt Jesus das in V. 8 Gesagte teilweise wörtlich. Siehe die Erklärung dort. Man beachte die erneute Bezugnahme auf den Vater und auf das, was man braucht, also wirklich nötig hat. Jedenfalls dürfen die Jünger nicht leben wie die Heiden – ein Standpunkt, den Jesus mit den Rabbinen teilt. Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit! (V. 33) – das ist der Zielpunkt, auf den der ganze Abschnitt zuläuft. Es ist die Orientierung an der Gottesgemeinschaft und am Ewigen, die jedem Gläubigen und der ganzen Kirche aufgegeben ist. ζητέω [zēteō] ist mehr als „das weltanschauliche Suchen und Fragen des Menschen“, so gewiss es das einschließt. Denn das hebr. דרשׁ [drsch], auf das es zurückgeht, drückt ein zielgerichtetes „zu erreichen suchen“, eben ein trachten aus. Erstrebt werden soll die Teilnahme am sichtbaren kommenden Gottesreich. Zu Reich Gottes vgl. die Erklärung bei Mt 3,2. Jesus fügt hinzu: und seiner Gerechtigkeit (καὶ τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ [kai tēn dikaosynēn autou]). Gottlob Schrenk versteht hier Gerechtigkeit als „Einklang mit dem göttlichen Willen“. Dem ist zuzustimmen. Da aber vor und nach V. 33 immer wieder vom kindlichen Vertrauen auf den himmlischen Vater die Rede ist, darf diese Gerechtigkeit nicht nur als Gehorsam aufgefasst werden. Sie bedeutet zugleich ein umfassendes Verhältnis der Gottesgemeinschaft im Sinne der alttestamentlichen צְדָקָה [zᵉdāqāh]. Die zweite Aussage von V. 33 lautet: dann wird euch das alles zusätzlich gegeben (καὶ ταῦτα πάντα προστεθήσεται ὑμῖν [kai tauta panta prostethēsetai hymin]). Wörtlich heißt es: „es wird hinzugefügt werden“ (Fut. Pass.). Das alles muss sich wie in V. 32 auf Essen, Trinken und Kleidung beziehen. Der, der dies hinzufügt, ist Gott (Passivum divinum). Die Sicht Jesu ist, aus dem Gesichtskreis des nordatlantischen Materialismus heraus betrachtet, mehr als erstaunlich. Bei Jesus sind die materiellen Grundwerte nur „Zutaten“ zur geistlichen Lebensführung. Ihre Notwendigkeit wird keineswegs bestritten, vgl. die Brotbitte im Vaterunser (Mt 6,11). Aber um wie viel notwendiger sind dann die geistlichen Güter, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! Ein Satz wie: „Der Mensch ist, was er isst“ wäre Jesus nie über die Lippen gekommen. Man vgl. seinen Standpunkt in der Versuchung (Mt 4,4). Jesus lehrt auch an dieser Stelle in Übereinstimmung mit dem AT (Ps 37,4; 1Kön 3,13f). Die Apostel greifen seine Wegweisung auf (Röm 14,17). Zugleich muss man klar sagen, dass Mt 6,33 keine Automatik oder Garantie bedeutet, dass jeder einzelne Gläubige ununterbrochen Essen, Trinken und Kleidung von Gott erhält. Jesus selbst sieht Leiden und Kreuz vor sich. Für seine Jünger erwartet er Verfolgung und sogar das Blutmartyrium (Mt 5,11f; 10,17ff.28ff; Joh 15,18ff). Märtyrer sind verhungert und verdurstet. Paulus spricht von Hunger und Blöße, die uns bedrohen (Röm 8,35). Was uns Gott an Essen usw. hinzufügt, das entscheidet er in seiner Liebe, die uns das schenkt, was wir unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit und der geistlichen Bewahrung unserer Seele brauchen (vgl. V. 8.32). Es kann unser Auftrag sein, gerade durch Leiden ein Zeugnis des Glaubens zu geben (Mt 10,18; Apg 4,33; 1Tim 6,12f; Hebr 11,39; Offb 1,9; 6,9). Der abschließende V. 34 findet sich nur bei Mt: So (οὖν [oun]) sorgt nun nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Auch dieser Vers ist wie V. 24 im Deutschen sprichwörtlich geworden. Trotz seiner Kürze enthält er eine dreifache Botschaft. Die erste Botschaft hält uns in der Gegenwart fest. Das morgen mit seinen verhüllten Geheimnissen und seiner Einladung, „utopisch“ zu denken und zu hoffen, nimmt uns schnell gefangen. Wir sollen uns aber im Hier und Heute mit unserem Glauben bewähren. So sehr die Bibel an das Ziel des Lebens und der Geschichte zu denken lehrt (Ps 39,5ff; 73,23ff; 90,1ff), so stark betont sie andererseits das Heute, in dem unsere Entscheidungen fallen (Dtn 11,26; 30,15; Jos 24,15; Ps 95,7; Mt 6,11; Lk 4,21; 19,5f; Hebr 3,13). Wir verlassen diese beiden Brennpunkte der Ellipse, wenn wir unseren Sorgen erlauben, sich auf das morgen zu konzentrieren. Das geistgeleitete Planen für das morgen, ja für die nächsten Jahre ist dadurch nicht ausgeschlossen (Lk 13,6ff; Jak 4,13ff). Aber es soll uns nicht für die Gegenwart entwurzeln. Die zweite Botschaft ist eine Verheißung: der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Mit anderen Worten: Er hält genug für euch bereit. Nicht, weil Tage eine Art Macht wären oder ein gnädiges Schicksal waltet, sondern weil Gott auch den morgigen Tag regiert, für uns auch morgen im Gebet zugänglich bleibt und als Vater für uns sorgt. Aber eben für das Seine – für das, was morgen nötig ist. Hier wird Mt 6,11 (die vierte Vaterunser-Bitte) wieder aufgenommen, aber auch die Wüstenerfahrung mit dem Manna (Ex 16,19). Die dritte Botschaft ist ein Trost: Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat (ἀρκετὸν τῇ ἡμέρᾳ ἡ κακία αὐτῆς [arketon tē hēmera hē kakia autēs]). Dieses Wort Jesu überrascht. Aber es liegt ganz in der Linie der alttestamentlichen Bibel, die sich nicht scheut, von „bösen Tagen“ zu sprechen (Ps 27,5; Prov 7,14; 12,1) und auch von der bösen Plage und den Übeln unseres Lebens (Gen 47,9; Hiob 2,10). Das hebr. רַע [raʿ], das wohl hinter dem griech. κακία [kakia] steht, weist zwei Bedeutungsdimensionen auf: 1) böse, schlecht im ethischen Sinn, 2) Übel, Unglück im existentiellen Sinn. Von da aus lässt sich ἡ κακία αὐτῆς [hē kakia autēs] zweifach verstehen: 1) vom Bösen, das jeden Tag aktiv ist, 2) vom Übel oder von der Plage, die uns täglich begegnet. Im Kontext der Sorgen von Mt 6,25ff liegt die zweite Bedeutung näher, also Übel oder Plage. Zu genug, „es reicht“, vgl. G. Kittel und Bauer-Aland136. Demzufolge sagt Jesus: Wahrhaftig, jeder Tag hat seine eigene Plage und Plackerei. Er wird damit seinen galiläischen Landsleuten und Hörern aus dem Herzen gesprochen haben. Aber die Erfahrung des „modernen Menschen“ ist dieselbe! Wie gut tut es, dass der Messias und der dreieinige Gott das weiß, es am eigenen Leib erfahren hat (Phil 2,6f; Hebr 2,9f; 5,7ff). Es ist genug (griech. nur ein Wort: ἀρκετόν [arketon]) heißt: Vermehre die Plage jedes einzelnen Tages nicht dadurch, dass du dir auch noch die Sorgen des morgigen Tages auflädst! Matthäus 6,19–34 IV Zusammenfassung Einige Gedanken aus dem Abschnitt Mt 6,19–34 seien nochmals hervorgehoben: 1) In Mt 6,19–34 spricht Jesus zwei große Gefährdungen an, die unsere Hingabe an Gott hemmen oder verhindern: den Reichtum und die Sorgen. 2) Es geht dabei weder um eine Kritik des Matthäus am Besitz noch um den Wert der Arbeit oder Ähnliches,141 sondern im Sinne des israelitischen Glaubensbekenntnisses (Dtn 6,4f; Mt 22,34ff) um unsere völlige Liebe zu Gott und unser ganzes Vertrauen. 3) Deshalb ist hier betont vom Vater im Himmel die Rede und nicht vom Schöpfer oder Allmächtigen. 4) Deshalb können wir Mt 6,19–34 auch keine sicheren Aufschlüsse über die soziologische Zusammensetzung der Jüngerschaft entnehmen, sondern höchstens indirekte und sehr allgemeine Andeutungen. 5) Die Bemerkung Schniewinds, dass Mt 6,25–34 seine stärkste Kraft „in Zeiten der Verfolgung und Not“ entfaltet, besteht zu Recht. In „Zeiten der Sicherheit und Sattheit“143 neigt die Kirche entweder zu extremistisch-unrealistischen Auslegungen oder der Auskunft, man könne dies unmöglich erfüllen. 6) Dass aber „die völlige Sorglosigkeit … das Kennzeichen der Jesus-Jünger“ sei, bedeutet, an Mt 6,25ff vorbeizuinterpretieren. Dagegen spricht schon V. 34. Dagegen spricht erst recht die Notwendigkeit, Mt 6,19–34 permanent einzuschärfen (vgl. Phil 4,6; 1Petr 5,7). Nein, Jesus will, dass unser Vertrauen zum Vater immer wieder das heidnische Trachten und Sorgen überwindet und wir im ständigen Angewiesensein auf Gott seine Fürsorge immer wieder neu erfahren. 7) Es besteht heute ein verstärktes Einverständnis darüber, dass Mt 6,19–34 zumindest in den wesentlichen Inhalten auf Jesus selbst zurückgeht. Wenn z.B. Luz Mt 6,34 für sekundär erklärt, ist dies eine Ausnahme. Matthäus 7,1–20 8. Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1–20 Matthäus 7,1–20 II Struktur Der Abschnitt Mt 7,1–20 wird zusammengehalten durch eine Kette von sechs Imperativen, vier im Präsens (7,1.7.12.15), zwei im Aorist (7,6.13). Diese imperativische Struktur ist strenger als im vorausgehenden Abschnitt 6,19–34 und zugleich deutlich abgesetzt vom Schlussteil der Bergpredigt in Mt 7,21–27. Allerdings weist Mt 7,1–20 im Verhältnis zu seinem Umfang eine große Vielfalt von Themen auf. Es sind sechs, jeweils durch einen Imperativ eingeleitet (V. 12 weicht etwas ab): 1) Worte vom Richten (7,1–5), 2) von der Entweihung des Heiligen (7,6), 3) vom Gebet (7,7–11), 4) vom Handeln anderen Menschen gegenüber (7,12), 5) von den zwei Wegen (7,13–14) und 6) Worte der Warnung vor den falschen Propheten (7,15–20). Der Redestil in diesen sechs Aussagegruppen wechselt. Eher apodiktische Sätze (z.B. V. 1–2) wechseln mit eher argumentativen (z.B. V. 9–11) oder sich kreisförmig erweiternden (z.B. V. 15–20). Es gibt ferner Sätze, die stark auf die Jüngergemeinschaft bezogen sind (z.B. V. 3–5 oder 15–20), und solche, die jeden einzelnen Gläubigen für sich ansprechen (z.B. 7–11.12.13–14). Manchmal ergibt sich zum Mindesten formal eine Nähe zur qumranischen Gemeinschaftsregel (1QS). Der anschauliche Inhalt von Mt 7,1–20 hat dafür gesorgt, dass relativ vieles in den deutschen Sprichwortschatz eingegangen ist: so das „messen mit dem Maß“, der „Splitter im Auge“ und die „Splitterrichter“, das „Perlen vor die Säue werfen“, „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, das Kommen in „Schafskleidern“ und als „reißender Wolf“. Insgesamt hat man den Eindruck, dass hier eine Sammlung von Jesusworten aus der Frühzeit Jesu vorliegt. Sie sind alle erkennbar an den „messianischen“ Imperativen, bezogen auf die neue Gemeinschaft der Jesusjünger, sodass wir von Regeln für das Leben in der Nachfolge sprechen können. Matthäus 7,1–5 1. Worte vom Richten, 7,1–5 Richtet nicht (Μὴ κρίνετε [Mē krinete]) ist eine Weisung, die eine Differenzierung voraussetzt. Das macht schon der Vergleich mit Lk 6,37 deutlich. Denn dort ist richten mit dem „Verurteilen“ eines Unschuldigen (καταδικάζω [katadikazō]) und mit dem „Freigeben“ eines Schuldners (ἀπολύω [apolyō]) zusammengestellt. Auch die Kommentierungen in Jak 4,11f; 5,9 zeigen, dass in Mt 7,1 ein negatives Verhalten gemeint sein muss, das an üble Nachrede und Unterdrückung grenzt. Vergleiche noch Röm 2,1; 14,4; 1Kor 4,5; 5,12. Vor-Urteil und Vor-Verurteilung wären die deutschen Begriffe, die in das Umfeld des Richtens von Mt 7,1 gehören. Es kann also keine Rede davon sein, dass Mt 7,1 die Beurteilung und Prüfung religiöser, theologischer oder geistlicher Äußerungen verbieten würde oder dass damit die Gemeindezucht aufgehoben wäre (vgl. 1Kor 5,1ff; 6,5; 1Joh 4,1ff; Offb 2,2). Mt 18,15ff, die sog. Gemeindeordnung des Mt, setzt ein solches richten geradezu voraus. Was Jesus in Mt 7,1 untersagt, ist ein überhebliches, unbarmherziges Richten, das sich nicht mehr bewusst ist, „daß Gottes Urteil auch den Urteilenden trifft“ (vgl. Röm 2,1). Verstoßen wir gegen diese Weisung Jesu, dann trifft uns in der Tat Gottes Gericht. Dann werden wir gerichtet. Offensichtlich ist in Mt 7,1 in erster Linie an die Jüngerschaft (Gemeinde) Jesu und die Verhältnisse innerhalb dieser Gemeinschaft gedacht. Ulrich Luz erörtert die Frage, ob hier auch „das staatliche Gerichtswesen … angetastet“ werde. Diese Frage liegt jedoch völlig außerhalb der Berglehre Jesu. Schon durch Mt 5,1ff; Lk 6,17ff ist die Berglehre als Jüngerlehre gekennzeichnet, als Wegweisung für das Gottesreich und nicht für die Weltreiche. Mt 22,15ff; Joh 19,11 und Röm 13,1ff stellen völlig klar, dass der Staat die Aufgabe der Rechtsprechung hat und in der irdischen Welt behalten muss. In V. 2 ist erneut das ihr zu beachten. Es geht dezidiert um die Jüngerschaft: Denn mit welchem Gericht (κρίματι [krimati]) ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß (μέτρῳ [metrō]) ihr messt, wird euch gemessen werden. Jesus spricht hier das Talionsprinzip aus, wonach sich die Strafe genau nach der Schuld bemisst, uns bekannt als „Auge um Auge“, „Zahn um Zahn“ (Ex 21,23ff). κρίμα [krima] ist „Urteil“ und „Verurteilung“. Auch Jakobus sagt, dass ein unbarmherziges Gericht (κρίσις [krisis]) über den ergeht, „der nicht Barmherzigkeit getan hat“ (Jak 2,13). Maß, μέτρον [metron], bedeutet hier die Menge, die in einem Gefäß gefasst wird. Wir würden sagen: Es ist der „Maßstab, den wir gebrauchen“. Man kann einem Menschen ein hohes oder geringes Maß an Schuld oder Fehlern zurechnen. Wer nach sorgfältigem Überlegen und barmherzigem Abwägen das geringere Maß in Anschlag bringt, dem wird Gott selbst ein geringeres Maß an Strafe zu-messen. Mk 4,34 und Lk 6,38 zeigen, dass Jesus dieses Bildwort vom Maß mehrfach verwendet hat. Es ist auch den Rabbinen wohlbekannt, vgl. Sota I,7: „Mit dem Maße, mit welchem der Mensch misst, misst man [= Gott] ihm.“ Das Denn (γάρ [gar]) in V. 2 hat die beiden ersten Verse fest miteinander verbunden. Die Verbindung von V. 1f zum Folgenden über das δέ [de] von V. 3 ist wesentlich schwächer. Deshalb kann man mit J. Jeremias zu dem Schluss kommen, dass das Bildwort vom Splitter und Balken (Mk 7,3–5) ursprünglich ein selbstständiges Bildwort war. Jedoch haben wir es jetzt im Zusammenhang von V. 1–5 auszulegen, das heißt als konkreten Fall des Richtens. Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem Auge bemerkst du nicht? (V. 3): Was, griech. τί [ti], kann ein „Warum?“ ausdrücken oder auch den erstaunten Ausruf „Wie (kann das geschehen)!“14 Jedenfalls setzt Jesus ohne Weiteres voraus, dass wir den Splitter im Auge des Bruders sehr gut entdecken. Das bestätigt auch die moderne Lebenserfahrung in Politik, Gesellschaft und Kirche. Der Splitter (τὸ κάρφος [to karphos]) bezeichnet im übertragenen Sinn etwas „ganz Geringfügiges“. Wenn hier vom Bruder die Rede ist, dann ist klar, dass dieses Beispiel die Verhältnisse innerhalb des Jüngerkreises betrifft. Wie kritisch sich selbst die Apostel im Auge hatten, bezeugen Stellen wie Mt 20,24ff, Joh 21,20ff oder Apg 15,36ff. Der Balken, ἡ δοκός [hē dokos], ist natürlich hyperbolisch gemeint. Er verstärkt die Anschaulichkeit und den Gegensatz. Wie viel Grund hat einer, der einen Balken in seinem Auge trägt, den andern wegen seines Splitters zu kritisieren und zu korrigieren? Aber so ichverliebt sind wir Menschen – sogar noch als Jünger! –, dass wir den Balken im eigenen Auge gar nicht bemerken. Die Du-Form der Anrede in V. 3 intensiviert die Frage Jesu. Übrigens sind Splitter und Balken beide vom selben Material, nämlich vom Holz des Zimmermanns. Wird dadurch angedeutet, dass beide unter derselben Sünde leiden, der Kritisierte wie der Kritisierende? So sagt es jedenfalls Röm 2,1. Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass! Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen – und siehe, der Balken ist in deinem Auge (V. 4): Zunächst hört sich dies an wie eine wohlmeinende, brüderliche Hilfe. Es kann sogar subjektiv so gemeint sein. Aber objektiv existiert ein schreiender Widerspruch zwischen der viel größeren Not des Helfenwollenden und der weitaus kleineren des angeblich so Hilfebedürftigen. πῶς ἐρεῖς [pōs ereis] heißt wohl nicht „wie wirst du sagen“, sondern deliberativ als ein Futur des Zweifels: wie kannst du sagen? Wieder geht es um den Bruder, also die Gemeinschaft der Christen. Derjenige, der sagt: Lass! Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, hat noch gar nicht begriffen, dass in seinem eigenen Auge ein Balken steckt. Wie ist das möglich? Auf mehrfache Weise. Es gibt beispielsweise ein Helfer-Syndrom, das die eigene Person ausspart. Es gibt – heute sehr häufig – einen Mangel an Selbstwahrnehmung, der sogar ganz Offensichtliches übersieht. Und es gibt eine Resistenz gegenüber der Predigt, die die eigene Umkehr und Änderung verhindert. In der Regel sind solche Menschen schlechte Helfer für andere. Wie wollen sie dem Bruder oder der Schwester behilflich sein, wenn ihnen an derselben Stelle – beide Male ist es Holz! – noch viel Schlimmeres fehlt, wenn sie von noch schwererer Sünde belastet sind? Besonders tragisch ist es, wenn Theologen, Prediger oder Seelsorger unter Mt 7,4 fallen. Hart, aber heilsam ist es, was Jesus in V. 5 sagt: Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst! Fast erstaunt notiert Fiedler, dass sich die Bezeichnung Heuchler (ὑποκριτής [hypokritēs]) in Mt 7,5 auf „Gemeindeglieder“ bezieht. Das ist übrigens auch in Mt 24,51 der Fall. Die Heuchelei besteht in dem Widerspruch zwischen dem äußeren Anschein und dem inneren Sein.21 Aber in Mt 7,5 kann der Heuchler selbst seiner Heuchelei ein Ende machen, und zwar so, dass er zuerst den Balken aus seinem Auge zieht. Die Erkenntnis, die er dazu braucht, bekommt er durch Jesu Verkündigung, die Hilfe durch das Gebet zu Gott und durch die Brüder/Schwestern. Jedenfalls gilt Schlatters Satz: „Es ist Heuchelei, das Böse an den anderen zu bekämpfen und nicht an sich selbst.“ Verfährt man aber nach der ersten Hälfte von V. 5, dann – und erst dann (τότε [tote])! – gilt auch die zweite Hälfte: sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst! „Jesus will uns nicht verbieten, einander behilflich zu sein, unser Böses zu lassen.“ διαβλέψεις [diablepseis], sieh zu oder „du kannst zusehen“, enthält keine Erfolgsgarantie. Wo es um geistliche Dinge geht, darf man nicht drängen. Es bleibt ein Geheimnis zwischen Gott und jedem einzelnen Menschen, in das wir nicht eindringen können. Nur „Wer meint, er müsse der Richter der anderen sein, macht sich auch zu ihrem Bekehrer.“25 Die frühe Christenheit blieb sich dessen bewusst und ging mit Irrenden in großer Geduld um (Mt 18,12ff.15ff; Jak 5,19f; Jud 22f). Matthäus 7,6 2. Worte von der Entweihung des Heiligen, 7,6 Joachim Jeremias sah in den Worten von den Hunden und Schweinen ein Doppel-Bildwort. Das Thomasevangelium unterstützt ihn dabei (93). Aber auch 2Petr 2,22 bezeugt die enge Zusammengehörigkeit von Hunden und Schweinen. Beide sind unreine Tiere (Offb 22,15; Lev 11,7). Beide können zur Darstellung teuflischer Gottes- und Messiasfeinde dienen (Ps 22,17; Mk 5,9ff). Gebt das Heilige nicht den Hunden: Der Hund (κύων [kyōn]) gilt als „das verachtetste, frechste und elendeste Geschöpf“, wie Otto Michel in Aufnahme der Beschreibung von Strack-Billerbeck sagt. Im AT vgl. 1Sam 17,43; 28,15; 2Sam 9,8; 16,9; 1Kön 21,19; 22,38; Ps 22,17.21; Prov 26,11. Dtn 23,19 verbietet es, „Hundegeld“ (wahrscheinlich von männlichen Prostituierten) in den Tempel zu bringen. Es könnte sein, dass Jesus hier in Anlehnung an Dtn 23,19 formuliert. Doch was ist in Mt 7,6 das Heilige (τὸ ἅγιον [to hagion])? Man muss es wohl als die Botschaft Jesu verstehen. Sie soll, so ist der Sinn von Mt 7,6, den Menschen, die starrsinnig gottlos bleiben wollen, nicht aufgedrängt werden. Sie ist für die bestimmt, die sich wie die Hörer der Bergpredigt einladen lassen, aber nicht für die, die ihre Unreinheit zur fraglosen Lebenskultur gemacht haben. Es erstaunt, ein solches Wort bei Jesus zu finden. Aber es hat seiner Predigt nie an Klarheit gemangelt. Es gibt tatsächlich ein Böses, das sich nie bekehrt (Offb 16,9.11.21). An ihm sollen sich die Jünger nicht abarbeiten. Am Schluss des Verses legt Jesus die Gefahr dar, die damit verbunden ist. Seelsorgerlich empfiehlt sich allerdings eine langmütige Geduld (vgl. 1Kor 13,4ff), da wir oft nicht wissen, ob Mt 7,6 in einem konkreten Fall zutrifft. Deshalb ist es nicht gut, wenn in der Theologie auf Mt 15,26; 10,11–14 o.Ä. als Parallelstellen verwiesen wird. Dagegen ist Prov 9,7 eine echte Parallele zu Mt 7,6. Ferner zeigen Phil 3,2; Offb 22,15; Did 9,5 und Ign Eph 7,1 ebenso wie das Thomasevangelium (93) und das Basilidesevangelium das Weiterwirken von Mt 7,6. Und werft eure Perlen nicht vor die Säue:Im Parallelismus membrorum wird die Aussage von vorher (das Heilige nicht den Hunden) wiederholt. Jedoch wird sie jetzt zugleich begreifbar. Perlen galten sowohl im Orient wie im Okzident als große Kostbarkeit, nicht zuletzt bei den Rabbinen. Jesus hat die Perle dann zum Bildwort für das Heil gemacht (Mt 13,45f). Die Perlen sind also hier in Mt 7,6 ein Bildwort für die Heilsbotschaft, die die Glaubenden der Welt zu bringen haben. Aber den Säuen (ὁ χοῖρος [ho choiros] = Ferkel, Schwein) sollen sie sie nicht vorwerfen. Wieder empfiehlt sich die seelsorgerliche Langmut, von der wir oben sprachen. Aber nun nennt Jesus einen bestimmten Grund für seine Warnung: damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertrampeln und kehrtmachen und euch zerreißen. Zwar bleibt er am Bild von den Säuen orientiert – αὐτούς [autous] bezieht sich auf die Perlen, mit den Füßen zertrampeln ist typisch für die Schweine –, aber er will doch vor beiden warnen, vor den Hunden und vor den Säuen. Beide können aggressiv werden, beide zu einer Gefahr für den Menschen. In καταπατέω [katapateō] steckt das Moment der Verachtung und der Wille zur Vernichtung, deshalb wählten wir die Übersetzung zertrampeln. Diejenigen, die Jesus drastisch mit den Bildworten Hunde und Säue bezeichnet, haben den unbedingten Willen, in ihrer Unreinheit und ihrer Feindschaft gegen Gott und seinen Messias zu verharren. Deshalb suchen sie das Evangelium mit allen Mitteln zu zerstampfen und zu vernichten. Deshalb greifen sie auch die Jünger selbst an und möchten sie am liebsten mit ihren Zähnen zerreißen. Vor dieser lebensbedrohenden Gefahr warnt Jesus. Es ist insofern „ein Schutzwort Jesu“.39 Matthäus 7,7–11 3. Worte vom Gebet, 7,7–11 Gerade in diesem Abschnitt begegnen wir der ungewöhnlichen Gabe Jesu, geistliche Sachverhalte zu formulieren. Unser Sprichwortschatz hat davon reichlich profitiert. Vers 7 beginnt mit einer Trias: Bittet – Sucht – Klopft an. Vers 11 macht endgültig klar, wo dies alles geschieht: beim Vater im Himmel. Bittet, so wird euch gegeben (V. 7): Das Passiv ist ein Passivum divinum. Also Gott wird geben. καί [kai] hat konsekutive Bedeutung: so = „und dann“. Bis heute fasziniert diese Erhörungsgewissheit Jesu. Sie geht durch alle Evangelien (Mt 18,19; 21,22; Mk 11,24; Lk 11,9; Joh 14,13; vgl. Jak 1,5f). Ein Vater im Himmel (V. 11), der seine Kinder überhört, existiert für Jesus nicht. Allerdings kann die liebende Antwort des Vaters in dreierlei Richtung erfolgen: Als ein Ja, von uns teilweise „über Bitten und Verstehen“ erlebt (Joh 12,28; Eph 3,20) – als ein Erhören, das aber anders geschieht, als wir erwartet haben (Mk 2,5) – als ein Nein (Mt 26,39ff; 2Kor 12,8f), das aber nicht weniger liebevoll ist als ein Ja. Die Erhörungsgewissheit reicht bis ins AT zurück (Ps 50,15; 65,3; 91,15; 138,3; Jer 29,12). Das Verb αἰτέω [aiteō], das Jesus in Mt 7,7 benutzt, hat er nach Gustav Stählin „nie vom eigenen“ Beten gebraucht. Es bedeutet bitten, aber auch „verlangen“, und zwar in erster Linie zugunsten des Bittenden selbst. Eine Grenze, oder irgendwelche „Qualitätsmerkmale“, hat Jesus weder in Mt 7,7 noch in Lk 11,9 genannt. In ihrem Bitten vor Gott haben seine Kinder vollkommene Freiheit. Das Kleinste ist ebenso erlaubt wie das Größte. Sucht, so werdet ihr finden: hier ist die Anlehnung an das AT offensichtlich. Vergleiche Prov 8,17 LXX: οἱ δὲ ἐμὲ ζητοῦντες εὑρήσουσιν [hoi de eme zētountes heurēsousin], und Am 5,4 LXX: Ἐκζητήσατέ με καὶ ζήσεσθε [Ekzētēsate me kai zēsesthe], sowie Prov 2,4–5 LXX: ἐὰν ζητήσῃς …, τότε … εὑρήσεις [ean zētēsēs …, tote … heurēseis]. ζητέω [zēteō] drückt ein zielbewusstes Gottsuchen aus, also das Gegenteil des Zweifels von Jak 1,6, und zugleich das Zuwartenkönnen, wenn es nicht gleich klappt. Dahinter steht das hebr. בקשׁ [bqsch]. Mit dem finden (εὑρίσκειν [heuriskein]) kommt die Suche an ihr Ziel, wobei Überraschung mitschwingen kann. Wieder erstaunt es, mit welcher Gewissheit Jesus dieses Finden verspricht. Klopft an, so wird euch aufgetan: Angeklopft wird an eine Tür. Auch die Rabbinen sprechen davon, dass jemand „an die Pforten der Barmherzigkeit geklopft hat, und sie ihm geöffnet wurden“.45 Jesus fordert also seine Jünger auf, an Gottes Tür zu klopfen. Sie wird mit Bestimmtheit „geöffnet werden“, aufgetan. Mit Recht lehnt Georg Bertram die Auffassung Bultmanns ab, wonach sich hier „der volkstümliche Gottesglaube“ äußere. Vielmehr erwecke die Zusage Jesu in Mt 7,7 / Lk 11,9 erst „das Vertrauen, auf dem alles Bitten beruht“. Es liegt nahe, hier an die Praxis der orientalischen Bettler zu denken. Auf der Straße betteln und bitten sie. Haben sie keinen Erfolg, dann gehen sie dem Betreffenden nach und suchen ihn zu erreichen. Nützt auch dies nichts, dann verfolgen sie den Angebettelten bis nach Hause und klopfen dort an seine Tür. Ihre Zähigkeit führt leicht auf den Gedanken, auch beim Gebet von Mt 7,7 sei die Zähigkeit empfohlen: Ihr dürft „wissen, daß Euer Anhalten am Gebet die Hände Eures himmlischen Vaters öffnet!“ Aber so sicher es auch ist, dass Jesus eine solche „Zähigkeit“ wollte (vgl. Lk 18,1ff), so zweifelhaft ist doch, ob dies auch der Skopus von Mt 7,7ff ist. Es ist ebenso gut möglich, dass Jesus hier einfach verschiedene Aussagen des AT in einem anschaulichen Bild zusammenfassen will. Allerdings setzt er ein ernsthaftes, dringliches Gebet voraus (suchen, „anklopfen“, vgl. 2Kor 12,8). Mt 7,7 wiederholt sich wortwörtlich in Lk 11,9. Die Einprägsamkeit der Sprache hat hier eine gemeinsame Überlieferung ohne Abweichungen geschaffen. Lukas ordnet dieses Wort jedoch nicht in seine Feldrede ein. Immerhin gehört es auch nach Lukas in die Frühzeit Jesu. Wichtig ist, dass Jakobus in 1,5 aus unserem Wort Mt 7,7 zitiert, wohl auch in 1,6f und 4,3. Überhaupt stellt der Jakobusbrief so etwas wie den ältesten Kommentar zur Bergpredigt dar. Vers 8, „der wie ein Sprichwort klingt“, bestätigt die Aussage von V. 7: Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan. Mit dem Stichwort jeder wird die Erhörungsgewissheit verstärkt. Jesus macht also zum wiederholten Male „Mut zum Gebet“ (vgl. Mt 6,5ff; 6,25ff). Die Gefahr liegt nahe, dass Mt 7,8 als Automatismus oder auf der Welle eines „Gebets-Enthusiasmus“ missverstanden wird. Damit würde Gott aber auf die Rolle eines Automaten oder Befehlsempfängers herabgewürdigt. Jeder aufrichtig Betende folgt dem Grundsatz Jesu: „Nicht wie ich will, sondern wie du (Vater) willst“ (Mt 26,39). Das Gebet ist also ein Gespräch mit Gott oder besser, wie der alte Konfirmanden-Katechismus sagt, „ein Reden des Herzens mit Gott“. In diesem Gespräch werden wir auch korrigiert und wachsen in unserer Gotteserkenntnis. Verloren geht kein Gebet. Die Verse 9–11 dienen der Veranschaulichung des in V. 7–8 Gesagten. Sie tragen einen zugleich dialogischen und rationalen Charakter, der uns an manche prophetische Passagen des AT erinnert (vgl. Jes 40,12ff.18ff; Ez 18,1ff; Mal 1,6ff; 2,10ff; 3,6ff.13ff). Das erste Oder in V. 9 will die Aussagen von V. 7–8 weiterführen. Die Frage wer ist unter euch Menschen (genauer: „wer von euch ist ein Mensch“) kennen wir schon aus Mt 6,27. Die Antwort heißt: niemand. Den sein Sohn um Brot bittet, der ihm einen Stein (über-)gäbe? Sohn und Vater stehen im AT im engsten Verhältnis zueinander56 (vgl. Dtn 1,31; Prov 3,12; Mal 1,6; 3,17; 2Sam 7,14; Jes 9,5). Brot ist wie in Mt 6,11 das Grundnahrungsmittel. Einem Sohn die Bitte ums Brot abzuschlagen, ist unvorstellbar. Erst recht ist es unvorstellbar, dass der Vater dem Sohn einen Stein als Symbol der Härte (Ez 3,9) gibt. „Der Stein“, so sagt J. Jeremias, „ist Sinnbild des Toten und Ungenießbaren“. Vers 10 bringt ein paralleles Bildwort: Oder, wenn er ihn um Fisch bittet, der ihm eine Schlange gäbe? Brot und Fisch gehören zur Grundnahrung der Juden“ – bis heute (vgl. Joh 21,9ff; Mt 14,13ff; 15,32ff). Die Bitten des Sohnes betreffen also nur das Notwendigste. Brot und Fisch liegen für die Bergpredigt besonders nahe, weil der See Genezareth sehr fischreich ist und in Galiläa hervorragender Weizen (Weizen von Chorazin!)60 wächst. Außerdem sind unter den Hörern viele Fischer (Mt 4,18ff). Essbar bei Fischen war nach Lev 11,9 „alles, was Flossen und Schuppen hat“. Warum stellt Jesus dem Fisch die Schlange gegenüber? Weil nach Am 9,3 auch Schlangen im Wasser lebten (Seeschlangen)? Oder weil er an den unreinen Barbut (Clarias macracanthus) denkt, der nach J. Jeremias „fast das Aussehen einer Schlange hat“? Unseres Erachtens schwingt noch etwas anderes mit. In der Versuchung Jesu Mt 4,1ff gehört das Brot auf die Seite Gottes, der Stein zum Teufel. Gleichzeitig heißt der Teufel beim Täufer und bei Jesus auch Schlange (Mt 3,7; 23,33; vgl. Offb 12,9; 20,2). Die „guten Gaben“ Gottes sind Brot und Fisch (vgl. V. 11), die schlechten Gaben des Teufels, der Schlange par excellence, sind Stein und Schlange. Auch wenn man mit allegorischen Deutungen vorsichtig sein muss, kann man solche Bezüge nicht einfach übersehen. Unseres Erachtens ist auch der Einfluss der Versuchungsgeschichte auf die Lehre Jesu größer, als gemeinhin angenommen wird.63 Vers 11 bringt den bekannten Schluss a minore ad maius (vom Geringeren aufs Größere): Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! Im nun setzt Jesus voraus, dass kein normaler menschlicher Vater dem Sohn einen Stein oder eine Schlange gibt (V. 9f). Nun hat fast den Sinn von „also“. In ihr (betontes ὑμεῖς [hymeis]) fasst Jesus seine Jünger mit allen Menschen zusammen, weil ja zuvor die Vater-Sohn-Beispiele alle Menschen betrafen. Es ergibt also keinen Sinn, alternativ zu überlegen, ob Jesus die Jünger oder allgemein die Menschen meint. Umso interessanter ist Jesu Urteil. Er sagt: ihr, die ihr böse seid (ὑμεῖς πονηροὶ ὄντες [hymeis ponēroi ontes]), wobei der Sinn ist: „ihr, obwohl ihr böse seid“. Alle Menschen, auch die Jünger, sind also von Grund auf böse = Sünder. Das kommt mit Jesu sonstiger Lehre überein, z.B. Mt 19,17: „Gut ist nur einer“, nämlich Gott (vgl. Mt 15,19). Wie kann der sündige Mensch gut werden? Diese Frage wird uns durch das ganze Evangelium begleiten. Aber auch der sündige Mensch kann manchmal Gutes tun. Er kann, wie Jesus sagt, seinen Kindern gute Gaben geben. Davon unberührt bleibt, dass „jede gute Gabe“ von Gott kommt (Jak 1,17). Was Gott ermöglicht, gibt der menschliche Vater an den Sohn weiter: Brot und Fisch. Mt 7,11 warnt uns davor, den Nichtchristen oder Atheisten jede Fähigkeit zum Guten abzusprechen. Doch erst recht gilt: um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! Das um wie viel mehr – Schluss a minore ad maius – ist uns seit Mt 6,26.30 wohlvertraut. Dreierlei fällt hier auf. Erstens wiederholt τοῖς αἰτοῦσιν [tois aitousin] das αἰτεῖτε [aiteite] von V. 7. Zweitens bleibt Jesus bei der Bezeichnung Vater im Himmel, die sich jetzt schon seit 5,16 durch die ganze Bergpredigt hindurchzieht. Jesus betont also wieder und wieder, dass seine Jünger als Gottes Kinder leben sollen. Die Gotteskindschaft äußert sich aber vor allem im Gebet. Drittens gibt der Vater im Himmel auch an dieser Stelle nur, was gut ist, so wie er in 6,9ff und 6,25ff nur gibt, was „not“ ist. Anderes kann man von Gott nicht erwarten. Insofern stimmt Lk 11,13 seinem innersten Gehalt nach mit Mt 7,11 überein, wenn es dort heißt: „Er wird den Heiligen Geist geben.“ Es ist sehr gut möglich, dass Jesus bei seinen Erläuterungen zur Bergpredigt, die in jedem Fall erfolgt sind (vgl. Mt 7,28; 13,10ff.36ff), den Heiligen Geist als gute Gabe erwähnt hat und Lukas diese Erläuterung in 11,13 aufnahm. Fazit: Jesus fordert seine Jünger intensiv zum Gebet auf und stärkt das Vertrauen auf den himmlischen Vater, der uns mit Gutem beschenken will. Paulus (Phil 4,6) und Jakobus (1,5ff.17; 4,2f) setzen diese Linie in gleicher Weise fort. Matthäus 7,12 4. Worte vom Handeln anderen Menschen gegenüber, 7,12 Mt 7,12 ist bekannt als „goldene Regel“, eine Art Generalregel für das Handeln der Jünger. Sie erinnert an Lev 19,18, ebenfalls eine Art Generalregel im AT, die Jesus oft ausgelegt hat (Mt 5,43; 19,19; 22,39; Lk 10,27). Auch Lukas hat die „Goldene Regel“ in seiner Feldrede, und zwar an prominenter Position (Lk 6,31). Alttestamentliche Vorformen sind Tob 4,15: ὃ μισεῖς, μηδενὶ ποιήσῃς [ho miseis, mēdeni poiēsēs] („was du hasst, das tue niemand an“, LXX) und Sir 31,15: „Erkenne, daß dein Nächster ist, wie du, und alles, was du haßt, bedenke.“ Unser Sprichwort „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ ist nach Tob 4,15 gebildet. Aber während Tob 4,15 und Sir 31,15 auf das Unterlassen des Bösen zielen, zielt die Goldene Regel auf das positive Tun: Alles nun, von dem ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch! Das konsekutive nun (vgl. V. 11) nimmt darauf Bezug, dass schon in V. 11 vom Tun des Guten die Rede war. Der Gedankengang ist folgender: Wie euer Vater im Himmel Gutes tut, so tut auch ihr als seine Kinder Gutes. Und zwar allen Leuten (οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi])! Paulus scheint in Gal 6,10 aus Mt 7,12 zu zitieren. Die Brücke zwischen der messianischen Gemeinde und ihrer Umwelt sieht Jesus im Tun des Guten. Jeder Gedanke an ein messianisches Reich mit dem Schwert oder dem „Harnisch“ Davids (so die Münsteraner Täufer) war ihm ein Gräuel. Der Maßstab für das Tun des Guten ist derselbe wie bei der Nächstenliebe in Lev 19,18: ὡς σεαυτόν [hōs seauton] = „wie dich selbst“, „was ihr wollt für euch selbst“. Erstaunlich ist der Schlusssatz von Mt 7,12, der bei Lukas fehlt: Denn das (dieses) ist das Gesetz und die Propheten. Das Gesetz und die Propheten ist wie in Mt 5,17 die ganze Heilige Schrift Israels (vgl. 11,13). In Mt 22,39f sagt Jesus, dass Gottesliebe und Nächstenliebe gemeinsam das Gesetz und die Propheten erfüllen. Nach Röm 13,10 und Gal 5,14 ist „die Liebe des Gesetzes Erfüllung“. Und wieder stimmen Paulus und Jakobus zusammen, denn für Jakobus ist Lev 19,18 „das königliche Gesetz“ (Jak 2,8). Offensichtlich beruht diese apostolische Lehrtradition auf Mt 7,12 und Mt 5,43; 19,19; 22,39f; Lk 10,27. Dass man Gesetz und Propheten in Kurzform zusammenfasste, charakterisiert auch die „Sprüche der Väter“ im Talmud. Zwischen Jesus und Hillel existieren hier manche Berührungen. So konnte Hillel sagen: „Sei die Menschen liebend und sie der Tora zuführend“ (P. Abot I, 12). Man muss jedoch beachten, dass Jesus – und auch die frühen jüdischen Lehrer – das Gesetz und die Propheten niemals als „Prinzipien“ auffassten, wie es die „moderne“ Theologie gerne tut. Trotz der Konzentration auf Kerngebote suchten sie überall den konkreten Willen Gottes und hielten auch die kleinsten Gebote (Mt 23,23). Die Worte das ist das Gesetz und die Propheten darf man also nicht so lesen, als ob da stünde: „Nur das steht im Gesetz und in den Propheten, alles andere könnt ihr weglassen.“ Im Übrigen hat Calvin zum Gebot der Nächstenliebe und damit auch zu Mt 7,12 eine interessante Anmerkung gemacht, auf die Karl Barth hinweist: Ubi ergo cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas. Dass die Goldene Regel vielfältig weiterwirkte, zeigen 1Clem 13,2; Did 1,2 und die Kirchenväter. Matthäus 7,13–14 5. Worte von den zwei Wegen, 7,13–14 Eine Reihe von Autoren zählt Mt 7,13f schon zu den Schlussmahnungen der Bergpredigt. Wir dagegen haben uns unter II. entschieden, Mt 7,1–20 zusammenzufassen und den Schlussteil erst ab V. 21 beginnen zu lassen. Für die Auslegung haben diese Einteilungen aber nicht allzu viel Gewicht. Das Bild vom Tor und vom Weg in V. 13f führt uns gegenüber V. 9ff und 12 in eine neue Anschauungswelt. Dabei handelt es sich in Mt 7,13f um ein einheitliches Gleichnis. Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die durch es hineingehen (V. 13): Wie in V. 1.6.7 und 15 steht der Imperativ vornean. Es ist ein Imperativ, der zugleich eine Mahnung und eine Einladung darstellt. In Lk 13,24, wo evtl. eine andere Situation vorliegt, steht dafür ἀγωνίζεσθε [agōnizesthe] = „kämpft darum“, „ringt danach“, hineinzukommen. Jedenfalls ist der scharfe Imp. Aor. εἰσέλθατε [eiselthate] „momentan“ und nicht auf ein fortdauerndes Bemühen, sondern wie der Ruf zur Umkehr auf ein grundsätzliches Handeln in der Lebensgeschichte abgestellt. Jesus redet von einem Eingang durch das enge Tor (διὰ τῆς στενῆς πύλης [dia tēs stenēs pylēs]). Er hat das Bild vom Tor oder von der Tür überhaupt sehr geliebt (vgl. Mt 16,18; 19,24; 24,33; 25,10; Lk 13,25; Joh 10,1ff). Ihm mussten von seinem Zimmermannsberuf her solche Bilder wie die vom Holz (Mt 7,2–5), vom Hausbau (Mt 7,24–27) oder vom Tor/Tür (Mt 7,13f) besonders naheliegen. Das Tor befindet sich am Ende des Weges und kennzeichnet bildhaft den Eingang ins Reich Gottes bzw. ins ewige Leben (Mt 5,20; 7,21; 19,17.24; 23,13; 25,21.23). Aber Jesus bezeichnet dieses Tor als eng. Es ist kein Tor für Massen oder Wagen, sondern für zielstrebige Fußgänger. Im Übrigen ist der Eingang durch ein Tor schon deshalb keine Selbstverständlichkeit, weil Tore verschlossen werden konnten (vgl. Offb 21,25; 22,14). Unmittelbar daneben steht ein zweites Bild: Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die durch es hineingehen. Erneut sorgt ein Hysteron-Proteron dafür, dass das Tor zwar vor dem Weg erwähnt wird, aber doch erst am Ende des Weges zu denken ist. ἡ πύλη [hē pylē] (das Tor) ist so gut bezeugt, dass man es nicht streichen darf. πλατεῖα [plateia] kann mit weit oder breit übersetzt werden, εὐρύχωρος [eurychōros] heißt breit, geräumig. Auch Massen, auch unförmige Ladungen können diesen zweiten Weg benutzen. Aber dieser zweite Weg führt zur Verdammnis. Im griech. Wort ἀπάγουσα [apagousa] treffen verschiedene Bedeutungen zusammen: „führt weg“, führt hin, „führt ab“ (einen Verhafteten oder Verurteilten), „verführt“. Die Verdammnis (ἀπώλεια [apōleia]) ist die Strafe der im Endgericht Verurteilten. Jesus rechnet also mit einem doppelten Ausgang des Lebens: mit dem ewigen Leben oder der ewigen Verdammnis. Erschreckend ist es, dass er sagt: viele sind es, die durch es hineingehen. Die griechischen Schlusswörter in V. 13, διʼ αὐτῆς [di’ autēs], kann man sowohl auf das Tor als auch auf den Weg beziehen. Da aber im ersten Satz von V. 13 das hineingehen mit dem Tor verbunden ist, liegt es aufgrund der Parallelstruktur nahe, auch im zweiten Satz das hineingehen auf das Tor zu beziehen. Deshalb übersetzten wir durch es (= das Tor). Jedenfalls sieht Jesus die Mehrheit in Israel, ja die Mehrheit der Menschheit, auf dem breiten Weg. Die Frage stellt sich: Könnten denn wirklich alle Menschen, wenn sie nur wollten, durch das enge Tor zum ewigen Leben eingehen? Jesus antwortet: Ja. Denn jeder kann Gottes Einladung annehmen (Mt 11,28ff; Joh 6,37; vgl. 1,12; 7,37). Jesus sprach sein Geht hinein! nicht zu einer speziell ausgewählten Gruppe, nicht zu einem ausgesonderten Teil Israels, nicht zu einer Elite. Er sprach es viel mehr zu allen, die dort im Bergland hörten, und zu allen späteren Hörern des Evangeliums (vgl. Lk 10,16). Was unsere Entscheidung für oder gegen Gott betrifft, sah er die menschliche Entscheidung frei, und nicht etwa einer Prädestination unterworfen (Mt 23,2.37; vgl. Sir 15,11ff; P. Abot III, 19). Allerdings ist der Weg zum ewigen Leben kein Spazierweg, sondern einer, der einen entsprechenden Willensentschluss, eine ernsthafte Umkehr zu Gott und ein wirkliches Ringen (ἀγωνίζεσθε [agōnizesthe] Lk 13,24!) voraussetzt. Jeremias spricht hier mit Recht von „Opfer“ und „Passionsweg“. Das darf uns jedoch nicht vergessen lassen, dass wir als Jesu Jünger glücklich gepriesen werden (Mt 5,3ff) und in einer unbeschreiblichen Freude leben (Mt 13,44; Joh 15,11; 16,22ff). Das Bild von den zwei Wegen, das Jesus hier aufnimmt, ist uralt und hat Israel in seiner ganzen Geschichte begleitet: Bei Mose (Dtn 30,15ff), bei den Propheten (Jer 21,8; Ez 18,1ff; 33,1ff), in den Psalmen (Ps 1,6 u.ö.) und in der Weisheitsliteratur (Prov 4,18f; 15,19; 21,10; Sir 33,1ff). Es setzt sich fort in der frühjüdischen Literatur99 und bei den Rabbinen. Besonders eindrücklich ist in b Ber 28b der Bericht vom Sterben des berühmten R. Jochanan ben Zakkaj (1. Jh. n.Chr.), der seinen Schülern sagt: „vor mir sind zwei Wege, einer zum Paradies, und einer zum Fegefeuer.“100 Das Bild war also den Hörern Jesu so gut bekannt, dass er es nicht näher erläutern musste. Gerade seine Aussage, dass viele auf dem Weg zur Verdammnis sind, musste sie erschüttern und aufs Äußerste herausfordern. Das Bild von den zwei Wegen hat auch bei den Apostolischen Vätern stark nachgewirkt, wie vor allem Didache 1–6 und Barnabasbrief zeigen (Barn 18–20). Weitere Spuren führen zu den Kirchenvätern, bei denen Leo der Große feststellt, dass wir ohne „Christus selbst als Führer“ den Weg und das Tor zum Leben nicht finden können.103 Denn eng ist das Tor und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden (V. 14): Am Anfang dieses Verses ist der Text nicht sicher. Er kann ὅτι [hoti] oder τί [ti] lauten, beides ist in den Handschriften gut bezeugt. Obwohl Nestle-Aland dem τί [ti] = „wie!“ den Vorzug geben, scheint uns von der handschriftlichen Bezeugung und vom Parallelismus her das ὅτι [hoti] = denn ein leichtes Plus zu haben. Auf jeden Fall aber muss man ἡ πύλη [hē pylē] (das Tor) festhalten. Dem weiten Tor und dem breiten Weg von V. 13 stellt Jesus jetzt das enge Tor und den schmalen Weg gegenüber. Das griech. Wort für schmal, τεθλιμμένη [tethlimmenē], hat immer wieder Reflexionen ausgelöst. Eigentlich bezeichnet es einen Weg, der schmal wird, der eingeengt wird, der bedrängt wird. Es scheint, als wolle Jesus damit ausdrücken, dass dieser Weg durch äußere Mächte gefährdet wird. Sie versuchen, den Weg immer noch schwieriger zu machen, den darauf Gehenden den Atem zu nehmen. Das Substantiv zu θλίβω [thlibō] ist die θλῖψις [thlipsis], das übliche neutestamentliche Wort für Drangsal, Not und Verfolgung. Mit Recht sieht man deshalb im schmalen Weg die Verfolgung angeknüpft. Wieder erstaunt es, wie ehrlich Jesus die Karten auf den Tisch legte und wie früh er seine Jünger schon auf die kommende Verfolgung vorbereitete (Mt 5,10ff). Aber mag auch die Trübsal noch so schwer und der Weg noch so beschwerlich sein – es bleibt dabei, dass es ein Weg ist, der zum (ewigen) Leben führt (vgl. Apg 14,22). Was sind dann im Vergleich dazu alle diese Beschwernisse (2Kor 4,17; Offb 7,14ff)? Noch einmal rüttelt Jesus die Hörer auf: und wenige sind es, die ihn finden. Das Stichwort wenige taucht in solchen Zusammenhängen öfter auf (Mt 7,14; 9,37; 22,14; Lk 13,23; 1Petr 3,20; Offb 3,4). Offenbar ging Jesus in seiner Verkündigung davon aus, dass nur eine Minderheit in Israel ihm folgen werde (Lk 13,23f) und dass keineswegs alle Menschen das Evangelium wünschen. Ihn finden (εὑρίσκοντες αὐτήν [heuriskontes autēn]) bezieht sich hier auf den Weg (ἡ ὁδός [hē hodos]). Man muss an dieser Stelle aber vorsichtig bleiben mit Spekulationen. Es greift zu weit, wenn man sagt, Jesus habe von vornherein nur eine Minderheitenkirche gewollt. Er wirbt vielmehr um ganz Israel (Mt 10,5ff; Lk 10,1ff) und will, dass durch das Evangelium jeder Mensch gerettet wird (Mt 28,18ff; Mk 16,15f; Apg 1,8). Und man fällt ins andere Extrem, wenn man die christliche Botschaft die ganze Welt verändern sieht und am Ende eine Auflösung der Kirche als „Salz“ der Welt annimmt. Stattdessen sieht Jesus in prophetischer Nüchternheit voraus, dass nicht jeder Eingeladene das Heil annimmt und gar nicht alle Eingeladenen ins Reich Gottes kommen werden (Mt 22,11ff). In die Perspektive dieser prophetischen Voraussicht gehört auch Mt 7,14: und wenige sind es, die ihn finden. Am Schluss der Verse 13 und 14 erinnern wir uns noch einmal an das Wort Leos des Großen: Ohne „Christus selbst als Führer“ werden wir weder den schmalen Weg finden noch durch das „enge Tor“ zum Leben eingehen. Matthäus 7,15–20 6. Worte der Warnung vor den falschen Propheten, 7,15–20 Manche versuchen, Mt 7,15ff als organische Fortsetzung von Mt 7,13f zu verstehen, etwa unter dem Motto: „falsche Weisung“, die auf den Weg zur Verdammnis führt. Möglicherweise hat Jesus bzw. Matthäus an einen solchen Anschluss gedacht. Aber die verschiedene Anordnung der Stoffe bei Lukas (13,23f und 6,43ff) spricht dagegen, sodass es ratsamer ist, Mt 7,15–20 als Spruchgruppe für sich auszulegen. Nehmt euch in Acht (Προσέχετε [Prosechete]) vor den falschen Propheten (ἀπὸ τῶν ψευδοπροφητῶν [apo tōn pseudoprophētōn]), V. 15: Der Imperativ Präsens hat durative und iterative Bedeutung. Die Jünger sollen sich also fortwährend und immer wieder in Acht nehmen. Die Geschichte der Falschpropheten (ψευδοπροφῆται [pseudoprophētai]) in Israel beginnt schon in der Mosezeit, in der selbst Mirjam und Aaron zu falschen Propheten wurden (Num 12,2ff; vgl. Dtn 13,2f; 18,20ff). Über längere Strecken besaßen die falschen Propheten sogar die Mehrheit (1Kön 22,5ff; Jer 19,14ff; 23,9ff; Ez 13,1ff; 22,23ff; Mi 3,5ff). In der Zeit Jesu traten häufig Propheten verschiedener Couleur auf. Zwar endete die allgemein anerkannte Prophetie Josephus zufolge mit der Epoche des Artaxerxes (Artahsasta, 464–424 v.Chr., Esr 4,7; 7,1; Neh 2,1). Das stimmt mit der hebräischen und protestantischen Bibel, aber auch mit den Rabbinen114 überein, die Maleachi als letzten Schriftpropheten (ca. 480–450 v.Chr.) betrachten. Anschließend sprechen frühjüdische Quellen von einer prophetenlosen Zeit (1Makk 4,46; 9,27; 14,41). Aber etwa zeitgleich mit dem Täufer, Jesus und den Aposteln stoßen wir auf relativ viele Zeugnisse prophetischer Bewegungen. Dazu gehören der Täufer (Mt 14,5; 21,28ff) und Jesus selbst (Mt 16,14; Lk 7,16). Dazu gehört die Erwartung, dass berühmte Propheten wiederkommen sollen (Mt 16,14; 17,10ff). Dazu gehören Simeon und Hanna (Lk 2,25ff.36). Dazu gehören bekannte essenische Propheten wie Judas ca. 100 v.Chr. oder Menachem118 ca. 50 v.Chr., der dem jungen Herodes seinen Aufstieg voraussagte. Ja, es gab ganze Gruppen von Propheten unter den Essenern wie auch unter den Pharisäern.120 Josephus erwähnt weitere Beispiele. Unter anderem berichtet er von zelotischen Falschpropheten in den letzten Tagen Jerusalems. Besonders hervorzuheben ist Jesus, der Sohn des Ananias, der im Jahre 62 n.Chr. den Untergang Jerusalems verkündigte.122 Dass Jesus unter diesen Umständen und angesichts der ganzen Geschichte Israels auf Propheten und speziell auf falsche Propheten zu sprechen kommt, ist begreiflich. Erst recht legt die endzeitliche Erwartung es nahe, vor falschen Propheten zu warnen (vgl. neben Mt 7,15ff noch Mt 24,4ff.11.23ff; Lk 6,26; 2Thess 2,1ff; 2Petr 2,1ff; 1Joh 4,1ff; Offb 13,11ff; 16,13ff; 19,20; 20,10). Jesus sieht also sein Werk von allem Anfang an durch „falsche Propheten“ gefährdet. Er beschreibt sie so: die in Schafskleidern zu euch kommen, aber inwendig sind sie reißende Wölfe (V. 15). Der Bildvorrat Jesu, abgeleitet aus dem AT, ist unerschöpflich. Die Schafe sind ein uraltes Bild für Israel (Num 27,17; 1Kön 22,17; Ps 77,21; 80,2; 100,3; Jes 53,6). Jesus hat es auf seine Gemeinde übertragen (Mt 10,16; Joh 10,3ff; 21,16). Die falschen Propheten wenden alle Mittel an, um als echte Schafe = Jünger Jesu zu erscheinen. Noch der große Falschprophet des antichristlichen Reiches tritt auf „wie ein Lamm“ (Offb 13,11). Zu den angewandten Mitteln gehören Schriftbezug (Mt 4,6), Schriftauslegung (Kol 2,16ff), das Vollbringen von Wundern (Mt 24,24; Offb 13,13f), hochgeistige Denksysteme (Kol 2,8), strenge und asketische Regeln neben einer ausschweifenden Liberalität (1Tim 4,1ff; 2Petr 2,2) sowie eine Erkenntnis, die in die tiefsten Tiefen gehen und sogar das Geheimnis des Satans entschlüsseln will (Offb 2,24). Aber auch ihre mitreißenden Predigten und Theoriebildungen enden in der Irrlehre. Inwendig aber sind sie reißende Wölfe: Auch dieses Bild ist alt (vgl. Gen 49,27). Nach G. Bornkamm „wird der Wolf seit ältester Zeit an ungezählten Stellen der antiken Literatur erwähnt“, er gilt „als furchtbares Raubtier“. Im AT vgl. Jer 5,6; Ez 22,27; Hab 1,8; Zeph 3,3. Reißend oder „räuberisch“ (ἅρπαγες [harpages]) sind die Wölfe. Ihr Ziel ist es, zu töten. Darin stimmt der Wolf mit dem Teufel überein (Joh 8,44). Ein weiteres Resultat seines Einbrechens in die Herde ist es, dass sie zerstreut wird (Joh 10,12). Geistlich werden Gemeindeglieder getötet oder zerstreut, wenn die falschen Propheten in der Gemeinde akzeptiert werden, und es ist eher zu schwach, was Ambrosius über sie sagt: Sie „schwächen die Seele und untergraben den Geist“. Die wahren, mit Jesus verbundenen Jünger brauchen jedoch keine Angst zu haben. Denn sie stehen unter der Verheißung Jesu: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen (ἁρπάσει [harpasei])“, Joh 10,28. Doch wie kann sich die Gemeinde Jesu vor den falschen Propheten in Acht nehmen? Dieses Problem hat die Kirche ständig begleitet. Nach Davies-Allison wurde es „never really solved by the early Christianity“.131 Aber ist das richtig? Die Überwindung der gnostischen Irrlehren, die Vermeidung eines Rückfalls in ein legalistisches Judentum oder die Ausscheidung des Montanismus und nicht zuletzt die christologischen Grundsatzentscheidungen der Konzilien beweisen etwas anderes: dass es nämlich der Kirche im Großen und Ganzen gelungen ist, die falschen Propheten zu erkennen und abzuweisen. Über die Mittel, die dafür die Verkündigung Jesu bereitstellt, siehe beim nächsten Vers. Eine Beobachtung von Davies-Allison verdient es, festgehalten zu werden: Die Worte Jesu in Mt 7,15 sind durchaus ein positives Zeugnis dafür, dass es in seiner Gemeinde auch echte Propheten gibt. Vergleiche dazu Mt 10,41; 23,34; Apg 13,1; 1Kor 12,28; Did 10ff. Jedoch gehen Davies-Allison darin fehl, dass sie meinen, Matthäus attackiere in Mt 7,15 einen ihm und seiner Gemeinde „bekannten Opponenten“ („against a known opponent“). Der lässt sich nun einfach nicht entdecken, wie sie selbst zugeben.134 So bleibt es dabei, dass in Mt 7,15 „a standard … warning“ ausgesprochen ist. Gerade Mt 7,15 hat in der folgenden Geschichte der Christenheit und der Kirche eine starke Wirkung entfaltet. Schon in Apg 20,29 sind die „grausamen Wölfe“ offensichtlich eine Erinnerung an Mt 7,15. In der Didache erscheinen die Stichworte ψευδοπροφῆται [pseudoprophētai], πρόβατα [probata] und λύκοι [lykoi] nebeneinander (16,3), sodass man daraus schließen kann, dass die Didache hier das Matthäusevangelium benutzte. Ignatius Ad Phil 2,2 führt unser Bild fort. Justinus Martyr zitiert gar in Apol I, 16,12 wörtlich aus Mt 7,15: ἔσωθεν δὲ ὄντες λύκοι ἅρπαγες [esōthen de ontes lykoi harpages], ebenso in Dial 35,3. Schließlich zitiert auch Irenäus in seiner Vorrede „Gegen die Häresien“ aus Mt 7,15. An ihren Früchten (ἀπὸ τῶν καρπῶν αὐτῶν [apo tōn karpōn autōn]) werdet ihr sie erkennen (V. 16): Mit diesem Satz nennt Jesus das entscheidende Instrumentarium, das die Falschprophetie von der echten Prophetie unterscheiden hilft. Falschpropheten erzeugen Falschpropheten. Natürlich haben sie Früchte, das heißt Ergebnisse ihres Lebens und Wirkens. Aber diese Ergebnisse entsprechen nicht dem Willen Gottes, auch wenn sie von außen betrachtet glänzend, hochgeschätzt und sehr religiös sind (vgl. Mi 6,8; Röm 12,2). Der Begriff Früchte setzt voraus, dass man den Menschen mit einem Baum oder einer Pflanze vergleichen kann (Ri 9,7ff; Ps 1,3ff; Jes 5,1ff; 11,1). Sowohl der Täufer als auch Jesus haben sich dieses Bildes bedient (Mt 3,8ff; Mt 7,16ff; 12,33; 15,13; 20,1ff; 21,18ff.37ff; Lk 6,43f; 13,6ff; Joh 15,1ff), auch die Apostel (Röm 11,17ff; Jak 3,12). Für erkennen steht in Mt 7,16 ἐπιγινώσκω [epiginōskō], „intensiv erkennen“, „genau“ oder „durch und durch erkennen“. Ein solches genaues Erkennen setzt eine ebenso genaue Prüfung voraus. Außerdem sollte man das Futur ihr werdet erkennen beachten. Das heißt, dass Jesus keine bereits in seiner Gegenwart gegebene Falschprophetie angreift, sondern ganz allgemein für die Zukunft vorbereitet. Es überrascht, für wie sicher er dieses Erkennungszeichen hält: Liest man etwa Trauben von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Vielleicht hat er hier ein Sprichwort aufgegriffen, das evtl. in verschiedenen Variationen umlief. Ein Sprichwort in verschiedenen Variationen würde auch leicht verständlich machen, weshalb in Lk 6,44 bei gleichem Grundgedanken Änderungen in den Details auftreten, nämlich „Feigen von den Dornen“ bzw. „Trauben vom Dornbusch“. Auch Davies-Allison erwägen, ob die Varianten einschließlich Jak 3,12 nicht auf „mündliche Tradition“ zurückgehen. Freilich ziehen sie die Antwort vor, dass die matthäische und die lukanische Q-Vorlage hier eben „nicht identisch“ („not identical“) waren.143 Aber das Spekulieren mit lauter hypothetischen Q-Vorlagen, die nie ein Mensch gesehen hat, zeigt nur, auf welch tönernen Füßen die gesamte Q-Hypothese steht. Jedenfalls kann man Jesus zufolge am Lebenswandel erkennen, ob jemand ein echter oder falscher Prophet ist. Allerdings braucht man dafür Zeit. Denn noch nicht an den Blättern, sondern erst an den Früchten, die wachsen müssen, wird man erkennbar. Falschprophetie lässt sich also nicht schon auf Anhieb erkennen. Davies-Allison nennen dies alles „a commonplace“ („einen Gemeinplatz“). Für Israels Weisheit trifft dieses Urteil jedenfalls zu (Sir 27,6), und unsere Sprache hat Mt 7,15 ja in ihren Sprichwortschatz übernommen. Doch ist damit das Problem „Wie erkennt man im konkreten Fall die Falschprophetie?“ noch nicht gelöst. Biblisch gilt zunächst Dtn 13,2ff: Wer vom lebendigen, wahren Gott abspenstig macht, ist ein falscher Prophet. Das Kriterium dafür ist die Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift. Ferner gilt das Kriterium von Dtn 18,21f: Wenn das Prophezeite nicht eintrifft, hat ein falscher Prophet gesprochen. Mt 24,23ff; Röm 16,17; 2Tim 3,5; Offb 2,20ff sind Anwendungsfälle dieser beiden Kriterien. Unerlässlich ist in beiden Fällen ein sorgfältiges Prüfen (Röm 12,2; Eph 5,10; 1Thess 5,21; 1Joh 4,1; Offb 2,2). Und zwar nicht durch selbsternannte Richter, sondern durch Beauftragte der Gemeinde (Offb 2,2). Die Confessio Augustana (1530) sah darin das Amt der Bischöfe: Sie sollten „Lehr urteilen und die Lehre, so dem Evangelio entgegen, verwerfen!“ („reiicere doctrinam ab evangelio dissentientem“). Gerhard Friedrich verweist auf die Didache, der zufolge eine „Übereinstimmung von Lehre u[nd] Leben“ beim Propheten gegeben sein muss (Did 11,8: ἐὰν ἔχῃ τοὺς τρόπους κυρίου [ean echē tous tropous kyriou]). Wer nicht uneigennützig ist, wer einen gedeckten Tisch für sich selbst erbittet, ist ein Lügenprophet (Did 11,9.12; 16,3). Ein Prüfen in diesem Sinne ist etwas anderes als das Richten von Mt 7,1–5. Gegen Davies-Allison besteht also keine „tension with 7,1–5“. Vergleiche unsere Erklärung oben zu Mt 7,1–5. Trauben und Feigen sind edle und erwünschte Früchte im AT (vgl. Ri 9,7ff; Ps 105,33; Hld 2,13; Jer 5,17; Hos 9,10; Joel 2,22). Jesus verneint also schon in Mt 7,15, dass Falschpropheten eine edle Frucht bringen können. Sie sind Dornen und Disteln, vgl. Ez 2,6. Die Verse 17–20 sind nichts anderes als eine Epexegese, also eine verdichtete Erklärung von V. 16. So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der schlechte Baum bringt böse Früchte (V. 17): Lk 6,43 sagt mit nur wenig veränderten Worten dasselbe. Man sollte solche Wortunterschiede nicht überbetonen. ἀγαθός [agathos] und πονηρός [ponēros] in Mt 7,17 sind ethische Grundbegriffe für gut und böse – aber gemessen am Willen Gottes, wie er in der Heiligen Schrift ausgedrückt ist (Mi 6,8; Mt 5,17ff; Röm 12,2; Jak 3,17f). σαπρός [sapros] meint „faulig“, „morsch“, „unbrauchbar“ oder eben „schlecht“. Auf Menschen angewandt formulieren Davies-Allison: „Man ist, was man tut“ (709). Vergleiche Mt 12,33. In V. 18 kommt es besonders auf das Wort kann an: Ein guter Baum kann nicht böse Früchte bringen und ein schlechter Baum nicht gute Früchte bringen. Im Griechischen steht οὐ δύναται [ou dynatai] betont voran. Nahe verwandt ist Mt 23,33, wo aber gerade das δύναται [dynatai] fehlt. Dieselben Grundgedanken sind auch in Joh 15,5ff, 1Joh 3,9 und natürlich Lk 6,43 zu finden. Auf längere Sicht – so die Erklärung Jesu – wird der falsche Prophet sich durch seine gottwidrige Lebensweise verraten.154 Vers 19 enthält ein Gerichtswort über die falschen Propheten und überhaupt alle Gottlosen: Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen. Abgesehen von der Partikel οὖν [oun] ist der Wortlaut genau derselbe wie bei der Täuferpredigt in Mt 3,10. Vergleiche die Erklärung dort. ἐκκόπτεται [ekkoptetai] muss nach der Analogie von Mt 3,10 als ein heraushauen einschließlich der Wurzel verstanden werden. Im übertragenen Sinne bedeutet dies ein Gericht, das die gesamte Existenz umfasst. Das Feuer ist das Gerichtsfeuer, in das die Verurteilten kommen (vgl. Jes 66,24; Mk 9,48). Wie der falsche Prophet ins ewige Feuer kommt, macht Offb 19,20 anschaulich. Die Kommentare vertreten zum Teil die These, Matthäus habe in 7,19 eine „Stelle aus der Täuferpredigt“ „repetiert“. Sie können sich eine solche Wiederholung nur aufgrund der Redaktionsarbeit des Evangelisten vorstellen. Diese Sichtweise ist eingeschränkt und dazu monoton. Viel einleuchtender ist die Annahme, dass Jesus selbst bewusst an die Täuferpredigt angeknüpft hat (s. Mt 4,17 im Verhältnis zu Mt 3,2). Vers 20 zieht noch einmal die Summe im Sinne einer bewussten Wiederholung: An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. Hier geschieht das, was Rainer Riesner in seinem Abschnitt über das Memorieren mit den Worten beschreibt: „daß Jesus die Essenz der Debatte in einem prägnanten Satz zusammenfaßte“. Vers 20 ist in der Tat bis auf die einleitenden Partikel ἄρα γε [ara ge] wörtlich mit V. 16a identisch. Bei ἄρα γε [ara ge] ist γε [ge] „zum unbedeutenden Anhängsel“ geworden, ἄρα [ara] hat konsekutive Funktion und bedeutet also, „folglich“. Jesus hat hier das Achten auf die Früchte eingeprägt und hat damit in der apostolischen Literatur zahlreiche Spuren hinterlassen (Röm 1,13; 6,21; 7,4; Gal 5,22; Eph 5,9; Phil 1,11.22; Hebr 12,11; 13,15; Jak 3,17f). Schlatter bemerkte zu Mt 7,16–20, es sei „unmöglich …, daß der Teufel fromm mache und die Lüge in die Wahrheit führe“. Matthäus 7,21–27 9. Schlussmahnungen, 7,21–27 Matthäus 7,21–27 II Struktur Wir erinnern uns, dass eine Reihe von Auslegern einerseits Mt 7,15–23 und andererseits Mt 7,24–27 als zusammengehörende Abschnitte behandelt. So fassen Davies-Allison die Verse 15–23 unter der Überschrift „False prophets“ und die Verse 24–27 unter der Überschrift „The two builders“ zusammen. Aber Luz sagt mit Recht: „V. 21 bringt einen Neueinsatz.“ In der Tat ändert sich jetzt der Stil. Die Reihe der Imperative, die die Verse 1–20 bestimmte, ist zu Ende. Die Terminologie, die infolge des Gebrauchs zahlreicher Bilder (Splitter/Balken; Hunde/Schweine; Vater/Sohn; Brot/Stein; Fisch/Schlange; Tor/Weg; Schafe/Wölfe; Dornen/Disteln/Bäume) die Verse 1–20 beherrscht hatte, ändert sich ebenfalls mit den Versen 21–23. Es rückt jetzt auch die Person Jesu in die Mitte: Zu ihm spricht man (zweimal μοι [moi], V. 21.22), um seinen Namen geht es (dreimal τῷ σῷ ὀνόματι [tō sō onomati], V. 22), seine Worte muss man halten (zweimal μου τοὺς λόγους τούτους [mou tous logous toutous]). Deshalb liegt es unseres Erachtens näher, in Mt 7,21–27 einen neuen, eigenständigen Abschnitt zu sehen. Er zerfällt in zwei Unterabschnitte. 1) eine scharfe Mahnung, den Willen Gottes zu tun (V. 21–23), 2) ein einheitliches Gleichnis, von J. Jeremias als Sintflutgleichnis bezeichnet (V. 24–27), das vom Bestehen im eschatologischen Gericht spricht. Eine Gemeinsamkeit aller sieben Verse beruht darin, dass sie von Vorgängen innerhalb des Jüngerkreises reden. Demzufolge hat Jesus von den ersten Tagen seines Wirkens an mit der Entstehung eines eigenen Jüngerkreises gerechnet, ja sogar mit der Entstehung eines messianischen Gottesvolkes. Ziel der Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu bleibt es, in das Reich Gottes zu kommen. Der Begriff Reich Gottes (βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn]), der uns zum letzten Mal in Mt 6,33 begegnete, gewinnt jetzt am Schluss der Bergpredigt erneut Gewicht (V. 21). Damit erhält auch die Eschatologie noch einmal einen hervorragenden Platz. Offen gibt sich Jesus als der endzeitliche Richter zu erkennen (V. 23). Es geht für die Jünger um die Frage, die schon in Mal 3,2 gestellt wurde und die in der Apokalypse noch einmal erscheint: „Wer wird den Tag seines Kommens [des Gerichts] ertragen können?“ (vgl. Offb 6,17). Man darf nicht alles in der Bergpredigt über den eschatologischen Leisten schlagen. Aber dass sie insgesamt doch stark eschatologisch orientiert ist, kommt gerade in den Schlussmahnungen 7,21–27 zum Ausdruck. Matthäus 7,21–27 III Einzelexegese Nicht jeder (Οὐ πᾶς [Ou pas], V. 21) eröffnet etwas hart eine neue Satzfolge: Wir befinden uns im Gebiet der Paränese, im Gebiet ernster Mahnungen, die mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht motiviert sind. Nicht jeder (Οὐ πᾶς [Ou pas]) ist nicht dasselbe wie οὐδείς [oudeis] = „keiner“. Denn es gibt genügend Jünger, die Herr, Herr zu Jesus sagen und gerade deshalb in das Reich Gottes kommen. Nicht jeder teilt, wie Schlatter und andere bemerken, „die Glaubenden in zwei Gruppen“. Aber Jesus will, dass seine Hörer gerade nicht zum Kreis der Verworfenen gehören, und mahnt deshalb mit strengen Worten. Die Verworfenen sagen zu Jesus Herr, Herr (κύριε κύριε [kyrie kyrie]). Das ist nach den Evangelien und nach den apostolischen Briefen (1Kor 12,3) korrekt. Man vgl. das marana tha = „Unser Herr, komm!“ nach 1Kor 16,22; vgl. Offb 22,20. Herr, griech. κύριος [kyrios], besitzt eine sehr große Bedeutungsbreite, angefangen von der Höflichkeitsanrede unter Menschen bis hin zu einer Anrede Gottes. Für den Gebrauch von Herr im NT wird dabei entscheidend, dass die griechische Bibel den alttestamentlichen Gottesnamen Jahwe „In der Regel“8 mit κύριος [kyrios] = Herr wiedergibt. So muss man stets fragen, ob nicht die Bezeichnung Herr für Christus auch dessen Gottheit aussagen soll. Für Mt 7,21 ist diese Frage zu bejahen. Denn 1) werden im Namen Jesu Dämonen ausgetrieben und Wunder getan, und 2) begegnet uns Jesus hier wie in Mt 25,31ff; 16,27f; 19,28 als Weltenrichter. Die Verdoppelung Herr, Herr „entspricht palästinischem Sprachgebrauch“. Aber trotz des korrekten Bekenntnisses werden nicht alle Jünger Jesu in das Reich Gottes kommen. Denn dorthin kommt nur ein Jünger, der den Willen Gottes tut. Jesus nennt Gott hier mein Vater im Himmel. Damit befinden wir uns auf einer anderen Ebene, als wenn bezüglich der Jünger von „eurem Vater im Himmel“ (Mt 5,16 usw.) die Rede ist. Mein Vater ist noch einmal etwas anderes als die inklusive Anrede „unser Vater“ (Mt 6,9). Mein Vater drückt ein einzigartiges, exklusives Verhältnis zwischen Jesus und dem Vater aus. Es spiegelt die Tatsache, dass Jesus der einzigartige „Sohn Gottes“ ist. Aber was heißt nun der den Willen Gottes tut? Jesus hat diese Wendung auch bei anderer Gelegenheit benutzt (vgl. Mt 12,50). In der Sache geht es darum schon in Mt 5,17–20, ja durch die ganze Bergpredigt hindurch (vgl. 6,10; 7,19). Tun steht in einem Gegensatz zu einem bloßen „Hören“ oder einem bloßen „Sagen“ bzw. „Bekennen“ (vgl. noch Mt 23,3f). Das Tun ist die Ausführung des Willens Gottes, wie er in der Heiligen Schrift offenbart ist, in der eigenen Lebenspraxis. Daran knüpfen sich zwei Beobachtungen. Die Erste betrifft das Weiterwirken von Mt 7,21 in der Geschichte. Derjenige, der unter den neutestamentlichen Verfassern hier Jesus am nächsten steht, ist doch wohl Jakobus (vgl. Jak 1,22.25; 2,14ff). Aber auch Paulus und Johannes haben Jesu Wort in Mt 7,21 aufgenommen und verarbeitet (Röm 2,13; 1Joh 2,17). Es zeigt sich, dass gerade Paulus und Jakobus (samt Johannes) an dieser Stelle völlig einig sind. Die zweite Beobachtung betrifft das Defizit, das in den lutherischen Kirchen durch die Distanz gegenüber dem Tun entstanden ist. In Theologie und Volksfrömmigkeit standen die „guten Werke“ immer wieder unter Verdacht, als wären sie Feinde des sola gratia. Verhängnisvoll war hier die Zurückweisung des Jakobus als „stroherne Epistel“ zusammen mit einer exegetischen Distanz zum Matthäusevangelium.13 Man muss hier deutlich sagen, dass es nicht genügt, die Kirche nur durch das Hören auf das Wort Gottes zu definieren. Kirche im Sinne Jesu ist vielmehr dort, wo man dieses Wort hört und zugleich ins praktische Leben umsetzt. Ausgezeichnet bleibt die Definition des Täufers Hans Schlaffer aus der Reformationszeit: „ein Nachfolger Christi, der ist ein Christ“. Lk 6,46–49 beweist, dass wir es auch geschichtlich mit dem Schluss jener ersten großen Jüngerunterweisung, der Bergpredigt, zu tun haben. Vers 22 schildert die Selbstverteidigung jener, die Herr, Herr sagen (vielleicht flehentliche Bitte?), aber den Willen Gottes nicht getan haben: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder getan? Es wiederholt sich die verdoppelte Anrede Herr, Herr. Sie soll eine intensive Beziehung zu Jesus zum Ausdruck bringen. Aber die Wirklichkeit steht ganz konträr zu den Worten. Die innere Beziehung zu Jesus kann gar nicht existieren (Ich habe euch niemals gekannt), weil der Wille Gottes nicht getan wurde. Dreimal betonen die Betreffenden, sie hätten in deinem Namen gehandelt. Das sieht aus wie ein Handeln wahrer Apostel (vgl. Apg 2,38; 3,6.16; 4,7ff; 1Kor 5,4f usw.). Aber wieder gilt: Der Wille Gottes wurde nicht getan. Von außen betrachtet sind ihre Taten extraordinär: 1) Wir haben in deinem Namen prophezeit (ἐπροφητεύσαμεν [eprophēteusamen]). Die Ausführungen des Paulus in 1Kor 14,1ff zeigen, dass jedes Mitglied der Gemeinde die Gabe des Prophezeiens (προφητεύειν [prophēteuein]) haben sollte. Im Kontext des NT17 ist deutlich, dass die Propheten in der Gemeinde Jesu ebenso wie die Lehrer, mit denen sie aufs Engste zusammengestellt sind (Apg 13,1; 1Kor 12,28f; Röm 12,6f; schon Mt 23,34), „Wortverkündiger“ sind. Es handelt sich um vollmächtige Verkündiger, deren Predigt auf das Wort Gottes gestützt ist. Es ist also nicht richtig, wenn Gerhard Friedrich schreibt, die Propheten würden reden, „ohne an die Schrift und Tradition gebunden zu sein.“19 Aber gerade dann, wenn man unter prophezeien die vollmächtige Predigt versteht, evtl. unter Einschluss von Zukunftsweissagungen (Apg 11,28; 21,10f), macht Mt 7,22 betroffen. Während viele – nicht „wenig“! – sich darauf berufen, im Namen Jesu gepredigt zu haben, schließt sie Jesus aus der Gemeinschaft der Erlösten aus. Mt 7,22 ist demnach kein Gerichtswort an einen dubiosen „Propheten“-Stand, sondern eine erschütternde Mahnung an die ganze Kirche: War das, was sie predigte, wirklich nach dem Willen Gottes? 2) Wir haben in deinem Namen Dämonen ausgetrieben. Sie versuchen es nicht nur wie die Jünger in Mt 17,16, sondern sie vollbrachten die Austreibung zunächst im Sinne von Mt 10,8; Mk 16,17. Man kann hier sogar an das gesamte heilende Wirken denken, von dem seit einiger Zeit in den Kirchen vermehrt die Rede ist. Zum Gelingen solcher Dämonenaustreibungen vgl. Mk 9,38; Lk 9,49. Sind sie irgendetwas schuldig geblieben am Auftrag Jesu? 3) Wir haben in deinem Namen viele Wunder getan (δυνάμεις πολλὰς ἐποιήσαμεν [dynameis pollas epoiēsamen]). Welche Kirche wäre heute nicht stolz darauf? δυνάμεις [dynameis] hat hier den Sinn von „Krafttaten“, „Wundertaten“. Paulus hat diese „Wundertaten“ in seine Liste der Geistesgaben aufgenommen (1Kor 12,10.28.29). Aber auch die falschen Christusse und Propheten der Endzeit können Wunder tun, nicht zuletzt der Antichrist und sein Prophet (Mt 24,24; 2Thess 2,9; Offb 13,2; 13,11ff). Wunder tun ist also kein Tatbestand, der eine eindeutige Zuordnung erlaubt. Wie zwielichtig „Prophetie“ und „Wunder“ schon in der Zeit des AT sein konnten, zeigen Stellen wie Jer 14,13f; 27,14f; Ez 13,1ff einerseits und Ex 7,11f.22; 8,3 andererseits (vgl. auch 1Kor 13,1f). Dass an jenem Tag im biblischen Kontext „am Tage des Gerichts“ bedeutet, beweisen z.B. Jes 2,11.17; Sach 14,6. Vers 23 bringt das abschließende Wort Jesu: Und dann werde ich ihnen unumwunden erklären: Ich habe euch niemals gekannt. Weicht von mir, ihr Übeltäter! Als Erstes klärt sich hier endgültig, dass Jesus der Weltenrichter ist, der Richter im Jüngsten Gericht. Denn seine Erklärung erfolgt in letztgültiger, göttlicher Hoheit. Mt 7,23 bestätigt also seine Aussage in Joh 5,24ff. Mt 25 wird sie noch einmal bestätigen, ebenso Offb 20,11ff. Man könnte darüber staunen, dass Jesus so früh schon über seine Rolle als Weltenrichter sprach. Aber da er von Anfang an als Messias auftrat, war damit auch die Stellung als Weltenrichter gegeben (vgl. Mt 16,27). Nicht nur seine Erklärung geschieht in göttlicher Hoheit, sondern auch der Vollzug seines Richterspruchs: Weicht von mir! Hier wird das Ich Jesu geradezu mit dem Reich Gottes und mit dem ewigen Leben in eins gesetzt. Ob καὶ τότε [kai tote] (Und dann) besagt, dass sich die Verworfenen schon in V. 22 gegen die erwartete Verurteilung verteidigt haben, ist nicht ganz sicher. Immerhin betrachtete Joachim Jeremias Mt 7,22 als „Einwand gegen das bereits ergangene Urteil“. Im Deutschen ist ὁμολογήσω [homologēsō] schwierig wiederzugeben. Wörtlich heißt es „ich werde zusagen“ oder „eine Aussage machen“ oder „bekennen“. Bauer-Aland schlagen für Mt 7,23 unumwunden erklären vor, Otto Michel sieht hier eine Proklamation vor Gericht gegeben,23 Zahn eine „unverhohlene Aussage“. Gemeint ist eine forensische, endgültige Aussage, die keinen Zweifel mehr lässt. Ob die Worte Ich habe euch niemals gekannt (οὐδέποτε ἔγνων ὑμᾶς [oudepote egnōn hymas]) auf eine synagogale Bannformel zurückgehen, ist strittig. Auszugehen ist jedoch vom hebr. ידע [jdʿ], das in der Regel mit γινώσκειν [ginōskein] wiedergegeben wird. ידע [jdʿ] ist mehr als ein technisches oder erkenntnismäßiges „kennen“. Es bedeutet vielmehr an zahlreichen Stellen die „praktische emotionale und volitive … Bekanntschaft“, ja ganz umfassend die Gemeinschaft (vgl. Ex 33,12; Ps 1,6; 36,11; Jes 1,3; 30,24; Mt 11,27). Die feierliche, forensische Aussage des Weltenrichters: Ich habe euch niemals gekannt, heißt also: „Ich habe niemals mit euch Gemeinschaft gehabt.“ Im äußeren Sinn handelt es sich wohl um bekennende Christen. Im Innenverhältnis aber handelt es sich um Menschen, die keine persönliche Gemeinschaft mit Jesus hatten. Denn wer nicht den Willen Gottes tut, kann keine Gemeinschaft mit Jesus haben (vgl. 1Joh 1,6; 2,3ff; 3,7ff; 4,5f). Klar wird jetzt auch vollends, was sich schon länger andeutete: dass auch die Christen ins Gericht kommen (vgl. Mt 5,13.20.25f.29f; 6,1ff.15; 7,2.19). Sie müssen vor dem Richterstuhl Christi erscheinen (2Kor 5,10). Die Entscheidung fällt an dem Tun, das ihr Glaube hervorgebracht hat. Dieses Tun wird verschieden bezeichnet: als „Frucht“ (Mt 7,16ff; Joh 15,5), als „tätiger Glaube“ (Gal 5,6), als „Werk des Glaubens“ (Jak 2,14ff), als „Gottes Werk“ (Joh 6,28f) oder einfach als „Werk“/„Werke“ (Offb 14,13). Eine Nachfolge in Gestalt eines reinen Denkens oder als konsequenzloses Glauben gibt es im NT nicht. Wo dieses Tun fehlt, da ergeht das schneidende, letztgültige Urteil Jesu: Weicht von mir, ihr Übeltäter! Von mir: das heißt vom dreieinigen lebendigen Gott und seinem ewigen Reich. Für Übeltäter steht wörtlich „Täter der Gesetzlosigkeit“ oder „die Gesetzlosigkeit Bewirkende“ (ἐργαζόμενοι τὴν ἀνομίαν [ergazomenoi tēn anomian]). In der griech. Formulierung ἐργάζεσθαι [ergazesthai] liegt so etwas wie Trauer und Zorn zugleich. Denn ἐργάζεσθαι [ergazesthai] ist ja das Verb zu ἔργον [ergon] = „Werk“. „Werke“ haben sie also vollbracht – und was für welche! Aber nicht die Werke, die Gott wohlgefallen. An dieser Stelle merkt man, welche Bedeutung Röm 12,2 mit seinem „prüfen“ (δοκιμάζειν [dokimazein]) hat. Ein Leben als Christ zu führen und dann im Gericht zu scheitern – welche Tragödie! Das Wort von Mt 7,23 ist endgültig, wie Johannes Chrysostomus sagt (vgl. Mt 25,41). Auf einen Punkt sei noch hingewiesen: Jesus hat das „Weicht von mir …“ bei dieser Gelegenheit nicht frei formuliert, sondern aus Ps 6,9 übernommen, das in der LXX-Fassung fast genauso lautet. In Mt 25,12.41 und wohl auch 13,41 hat er dann Ps 6,9 noch einmal benutzt. Don Carson hat aus dem Umstand, dass in Ps 6 ein Leidender spricht, die Folgerung gezogen, dass in der Sicht Jesu seine Messianität und sein Leidensweg zusammengehören. Nahe verwandt mit Mt 7,23 ist 2Tim 2,19. Auffallenderweise erhält die Berglehre bei Mt und Lk denselben Abschluss, nämlich in Gestalt der Bildworte über den Hausbau (Mt 7,24–27; Lk 6,47–49). Das kann als ein Hinweis darauf gelten, dass Jesus selbst das Lehren in der damaligen Zeit mit diesen Bildworten abgeschlossen hat. Jeder also (οὖν [oun]), der diese meine Worte hört und sie tut, gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute (V. 24): Das also zieht die Konsequenz aus den vorausgehenden Darlegungen. Diese meine Worte sind alle Worte Jesu im Kontext der Kapitel 5–7, das heißt von Mt 5,2 an (vgl. V. 28f). Das Wortpaar hören und tun entspricht dem Wortpaar „tun und lehren“ in Mt 5,19. Die Jünger sollen sich also am Vorbild Jesu ausrichten. Zugleich zeigen Lk 8,21 und Jak 1,22, dass Jesu Worte mit den Worten des Vaters auf derselben Stufe stehen. Es kann also trotz der bedenkenswerten Ausführungen von David Flusser keine Rede davon sein, dass Jesus in Mt 7,21ff „den Kult seiner Person“ abwehren wolle. Stattdessen wird die Kirche Jesu Christi erneut darauf hingewiesen, dass sie sich nicht nur über das hören der Worte Jesu definieren kann. Wer Hörer und Täter zugleich ist (vgl. Jak 1,22ff), der gleicht einem klugen Mann. Das Griechische spricht von einem ἀνὴρ φρόνιμος [anēr phronimos]. φρόνιμος [phronimos] heißt „verständig“, „klug“, „einsichtsvoll“. Wenn Georg Bertram den φρόνιμος [phronimos] mit den Worten beschreibt, es sei einer, „der die eschatologische Lage des Menschen erfaßt hat“, so ist das zu eng. Vermutlich steht hinter φρόνιμος [phronimos] die hebr. Wurzel שׂכל [śkl], obwohl das Verb in der LXX meist mit συνιέναι [synienai] oder νοεῖν [noein] wiedergegeben wird. Die Grundbedeutung von שׂכל [śkl] ist „einsichtig sein“, das gelegentlich an „vernünftig sein“ streift. „Am häufigsten erscheint die Wurzel śkl in den ‚Lehrbüchern‘ “ des AT (Prov, Ps, Hiob, auch Dan und Sir). Gemeint ist ein Mensch, der Gott anerkennt und seine Verhältnisse nach Gottes Willen ordnen will (Prov 1,3). Wendet Jesus ein Wort aus dem Denk- und Sprachhorizont von שׂכל [śkl], nämlich φρόνιμος [phronimos] = „einsichtig“, klug, auf seine Zeit an, dann drückt er damit aus, dass man ihn als Messias erkennt, sich ihm öffnet und ihm nach Gottes Willen folgt. Man denke auch an Aussagen wie Lk 19,41 „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ oder Lk 16,8 „Der Herr lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug (φρονίμως [phronimōs]) gehandelt hatte.“ In alledem stoßen wir auch wieder auf den stark rationalen, weisheitlichen Zug der Lehre Jesu (vgl. Ps 14,2; 90,12; 94,8). Jener kluge Mann baute sein Haus auf den Felsen. Fels ist aber auch eine Bezeichnung Gottes (Dtn 32,4ff; Ps 18,3; 31,3; 42,10; 62,8). Wir werden hier beides hören müssen: Baue auf eine zuverlässige Grundlage – baue auf Gott. Wenn später aus Petrus eine πέτρα [petra] wird (Mt 16,18), dann kann dies nur durch ein Wunder geschehen. Vermutlich sind diejenigen im Recht, die im Futur ὁμοιωθήσεται [homoiōthēsetai] einen Hinweis auf das Geschehen im Jüngsten Gericht sehen. Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus tobten, da fiel es nicht, denn es war auf den Fels gegründet (V. 25): Hier lehnt sich Jesus an Ez 13,10–15 an. Doch finden sich ähnliche Bilder auch in Hiob 1,19; Ps 32,6; Jes 28,15f; Sir 22,16 (19). Angesichts der weiten Verbreitung solcher Bilder, die ja aus dem Alltagsleben in Israel resultieren, ist es fraglich, ob die von Joachim Jeremias gebrauchte Bezeichnung „Sintflutgleichnis“ zutrifft. Klar ist allerdings der Sinn des Bildes: Es zeichnet das Hereinbrechen des göttlichen Gerichts. βροχή [brochē], neutestamentliches Hapaxlegomenon, bedeutet den Regen, spezifischer noch den „Platzregen“. Die Wasserfluten, οἱ ποταμοί [hoi potamoi], sind „die Gießbäche, … die bei schwerem Regen plötzl. alles mit sich fortreißen“. Joachim Jeremias denkt an den „vom Sturm45 begleitete(n) wolkenbruchartige(n) Herbstregen“, Karl Heinrich Rengstorf ganz allgemein an „die Herbst- und Winterregen“.47 Sie sind gefährlich und unberechenbar, und den durch die Schluchten und Rinnen „des Landes schießenden Wassermassen“ ist nur das sorgfältig gebaute Haus „gewachsen“. In Jesu Beispiel: Das auf den Fels gegründete Haus fiel nicht. Wieder nehmen wir wahr, dass die Rabbinen häufig eine ähnliche Bildsprache benutzten. Interessant ist im Zusammenhang damit Flussers Urteil: „Das Gleichnis vom Haus auf dem Felsen wird bei Matthäus (7,24–27) vorzüglich erzählt.“ Das Verhältnis dieser matthäischen Fassung zur lukanischen in Lk 6,47–49 wird in der Literatur häufig thematisiert. Dabei besteht Einigkeit über mindestens zwei Punkte: 1) „Matthäus gibt die palästinischen Verhältnisse … besser wieder als Lukas, der an ein Haus am Flußufer dachte“; 2) beide Fassungen stimmen im Wesentlichen, vor allem im Zielpunkt, überein.52 Vermutlich hat Rainer Riesner recht, wenn er schreibt, „daß wir es mit zwei voneinander unabhängigen Parallelüberlieferungen zu tun haben“. Der 26. Vers ist parallel zum 24. Vers gebaut: Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute. Der Kontrast liegt in tut einerseits und nicht tut andererseits, und nicht darin, ob „faith in Christ is whole-hearted“.55 Bauen in Mt 7,24–27 zwei Jünger, wie Jeremias meinte? Diese Annahme liegt nahe, aber Jesu Beispiel ist sehr allgemein gehalten, und so belässt man es am besten mit Schlatter57 bei „zwei Männern“. Die Kommentare sehen richtig, dass ein Unterschied zwischen den beiden Häusern lange nicht wahrgenommen wird und erst bei der Katastrophe ans Licht kommt. Dann aber gleicht (ὁμοιωθήσεται [homoiōthēsetai] als Futur!) der Zweite einem törichten Mann. Hinter töricht, im Griech. μωρός [mōros], steht wohl das hebr. נָבָל [nābāl]. Dieser hebr. Begriff charakterisiert nicht den „Mangel an Verstand“,60 sondern den Mangel an „rechte(r) Gotteserkenntnis“, ja mehr noch: den „Abfall von Gott“. Gerade so gebraucht es auch Jesus in Mt 5,22. Der törichte Mann gibt sich also wie ein echter Nachfolger Jesu, ist aber innerlich nicht mit Jesus verbunden und ungehorsam, weil er Jesu Worte nicht tut. Von daher bekommen die Mahnungen des Jakobus in Jak 1,22ff ihr Gewicht. Im Bild gesprochen: Der törichte Mann baute sein Haus auf den Sand, das heißt, auf das falsche Fundament. Falsch also ist das bloße Hören, mag man es auch mit Leidenschaft geübt haben. Der christologische Bezug ist durch die Wendung meine Worte gegeben. Zum Wort Jesu merkte Schlatter an: „Die einen werden an ihm zu Toren, die anderen zu Weisen.“ Das Geschick des Törichten wird weitgehend mit Worten aus dem 25. Vers erzählt: Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus stießen, da fiel es. Und sein Fall war schwer (V. 27). Es trifft wohl zu, dass stoßen an (προσκόπτειν [proskoptein]) in V. 27 eine Steigerung der Wucht gegenüber „toben gegen / sich losstürzen auf (προσπίπτειν [prospiptein])“ in V. 25 bedeutet. Aber das Haus in V. 27 fällt nicht, weil Regen/Wasserfluten/Stürme schlimmer wären als in V. 25, sondern weil es auf den Sand gebaut war. Unter den Regengüssen und im Toben der Wasserfluten und der Stürme wird der Sand weggespült. Das Haus verliert sein Fundament und fällt ein. Und sein Fall war schwer: Es ist eindrücklich, dass sowohl Matthäus als auch Lukas die Bergpredigt mit diesem Wort Jesu schließen lassen. Beiderseits bildet μεγάλη/μέγα [megalē/ mega], „groß“, schwer, in betonter Weise das letzte Wort. Mit den Einladungen in Gestalt der Seligpreisungen hatte Jesus begonnen (Mt 5,3–12 / Lk 6,20–23). Mit ernsten Gerichtsmahnungen schließt er. Damit ist von vornherein klar, dass seine Nachfolger kein leichtes Leben und kein „Erfolgschristentum“ erwartet. Das Glück des ewigen Lebens und der hohe Lebenseinsatz im Nachfolgeweg stehen von Anfang an fest. Augustinus fürchtete, dass die Christen angesichts dieser ernsten Mahnungen überhaupt den Mut zum geistlichen und gemeindlichen Bauen verlieren könnten. Einer solchen Mutlosigkeit trat er entschieden entgegen und schrieb in einem seiner Briefe: „Wenn man also auf diese Worte hört, so baut man.“ Ulrich Luz diskutiert darüber, ob man den Felsen von Mt 7,24 auch geistlich auf Christus und das Wort Gottes deuten könne. Seiner Meinung nach werde dadurch der Text „verfehlt“. Man wird jedoch die Freiheit zu solchen geistlichen Deutungen lassen müssen, auch wenn Mt 7,24–27 eine Parabel ist und keine Allegorie. Matthäus 7,28–29 10. Schlussnotiz des Matthäus, 7,28–29 Matthäus 7,28–29 II Struktur Der Evangelist schildert hier die hauptsächliche Reaktion der Hörer der Bergpredigt. Er tut dies in seinem knappen Stil mit kurzer Situationsangabe (V. 28a), der Angabe der Handelnden und der Reaktion selbst (V. 28b) und schließlich einer kurzen Begründung (V. 29). Solch kommentierende oder geschichtliche Notizen der Evangelisten finden sich in allen Evangelien. Sie helfen uns die Geschehnisse richtig einzuordnen. Die nächste Parallele zu Mt 7,28f ist Lk 7,1. Vom ἐκπλήσσεσθαι [ekplēssesthai] der Zeitzeugen Jesu ist aber öfter die Rede (vgl. Mt 13,54; 19,25; 22,33; Mk 1,22; 6,2; 7,37; 10,26; 11,18; Lk 4,32; 9,43; auch Joh 7,46; Apg 13,12). Matthäus 7,28–29 III Einzelexegese Und es geschah, als Jesus mit diesen Worten zu Ende gekommen war (ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους τούτους [hote etelesen ho Iēsous tous logous toutous]), V. 28: Das ist die Situationsangabe, die Matthäus dem Leser an die Hand geben will. Sie hat a) eine chronologische Bedeutung (ὅτε [hote]!): Zu einem bestimmten Zeitpunkt / in einem bestimmten Zeitrahmen schloss Jesus diese Unterweisung ab, und b) eine inhaltliche Bedeutung: Jesus ließ es damals mit diesen Worten bewenden und beabsichtigte nicht, mit ähnlichen Lehrvorträgen fortzufahren. Solche Einschritte, die typisch sind für Matthäus (vgl. 11,1; 13,53; 19,1; 26,1; aber auch Lk 7,1), markieren den Übergang zu anderen Wirkungsfeldern. … dass sich die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) entsetzte über seine Lehre: Auffallenderweise spricht Matthäus von der Menge oder „den Massen“ und nicht von den Jüngern. Das zeigt, dass er völlig mit Lukas d’accord ist, der ja auch in Lk 6,17 bemerkt, dass „eine große Menge des Volkes“ die Bergpredigt hörte. Für Matthäus ist dies ebenfalls von 5,1 und 7,28 her klar. Vielleicht dürfen wir in die Reaktion von Mt 7,28 sogar die Jünger mit einbeziehen. ἐκπλήσσεσθαι [ekplēssesthai] hat Matthäus gerne verwendet (vgl. wieder 7,28; 13,54; 19,25; 22,33). Es bedeutet „außer sich geraten“, „fassungslos sein“, in diesem Sinne auch sich entsetzen. Die Anwesenden konnten also das Geschehen nicht in ihre bisherige Erfahrung einordnen. Es schwingt sicher ein fascinosum und tremendum mit. Was die Menge außer Fassung brachte, war seine Lehre (ἡ διδαχὴ αὐτοῦ [hē didachē autou]), nicht etwa ein Wunder Jesu oder sein Auftreten oder seine Gestalt oder seine Rhetorik. Vers 29 gibt weiteren Aufschluss: Denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Auf zwei Aussagen kommt es hier an: 1) Wie in V. 28 ist es das lehren Jesu, das die Hörer fassungslos macht. Ebenso ist es in Mt 13,54; 22,33; Mk 1,22.27; 6,2; Lk 4,32; Joh 7,46. 2) Jesus erschien wie einer, der Vollmacht hat (ὡς ἐξουσίαν ἔχων [hōs exousian echōn]). Mit Recht kann man damit Mose vergleichen, der nach den Rabbinen in der Vollmacht Gottes spricht (b Chag 15a; b Sanh 99a; b Meg 31b). Es ist ja Gott selbst, der solche Vollmacht verleiht.6 Nur muss man dabei im Auge behalten, dass Jesu Vollmacht als die des Sohnes Gottes weit höher ist als die des Mose (vgl. Mt 1,18ff; 3,17; 4,1ff). Das aramäische Äquivalent ist רְשׁוּת [rᵉschūt]. Sehr schön definiert Werner Foerster ἐξουσία [exousia] als „die Macht, die ‚zu sagen hat‘ “, also Verfügungsrecht und Verfügungsmacht in einem. Jesu Lehre ist demnach die Lehre, die Gott selbst durch ihn erteilt.8 Und nicht wie ihre Schriftgelehrten (καὶ οὐχ ὡς οἱ γραμματεῖς αὐτῶν [kai ouch hōs hoi grammateis autōn]): Das ihre ist weder Polemik noch Herabsetzung, sondern traditionelle Zugehörigkeit. Ihre Schriftgelehrten, die sie seit Jahrhunderten gewohnt waren, lehrten im Namen ihrer rabbinischen Lehrer, das heißt in der Regel aufgrund der Lehre der vorausgehenden Traditionen und Generationen, aber „nicht mit unmittelbarer Autorität“.11 Typisch sind hier die Anweisungen in den „Sprüchen der Väter“: „Schaffe dir einen Lehrer!“ und „Mehr Schule (ישיבה), mehr Weisheit“. Man „empfängt“ die Tora jeweils von den Früheren. Jesus aber verdankt seine Lehre wie Mose und die Propheten unmittelbar dem Vater (Mt 13,54ff; Joh 7,14ff). Man wird das Staunen der Menge sowohl auf den Eindruck dieser Unmittelbarkeit als auch auf den Inhalt seiner Lehre beziehen müssen (vgl. Mk 1,27; Joh 7,46). Matthäus 7,28–29 IV Zusammenfassung Die Bergpredigt, genauer: Berglehre, gleicht einem Gebirgsmassiv mit immer neuen Gipfeln. Eine Totalansicht in allen Dimensionen ist beinahe nicht möglich. Wir heben hier nur noch einmal Weniges hervor: 1. Die Bergpredigt ist grundsätzlich eine Jüngerlehre. Auch die Menge, die dabei ist und dabei sein soll, „wird als potentielle Jüngerschaft angesprochen“. 2. Wir haben es mit Jesu Lehre aus seiner Frühzeit zu tun. Das wird auch durch Lukas bestätigt. Bei jeder Einheit oder bei jedem einzelnen Logion genau zu sagen, wann es gesprochen wurde, ist nicht mehr möglich. Doch sind die Zusammenhänge, die Matthäus in Mt 5–7 hergestellt hat, durchaus inhaltlich plausibel. 3. Die Hypothese, dass Matthäus und Lukas auf eine Quelle Q zurückgehen, ist eher unwahrscheinlich. Die penible Art, wie in manchen Kommentaren eine Wort-für-Wort-Bearbeitung einer Quelle, die nach externen Kriterien bisher unauffindbar war, vorgenommen wird, lädt nicht gerade dazu ein, eine solche Größe Q vorauszusetzen. Dagegen sind Logien-Sammlungen, die vor Abfassung der Evangelien liegen, wahrscheinlich. 4. Ebenso zweifelhaft ist es, ob das Vaterunser wirklich das kompositorische „Zentrum“ der Bergpredigt darstellt. Diese These ist verführerisch, steht aber in Spannung mit den Schlussmahnungen Mt 7,13–23 und der Schlussnotiz Mt 7,28–29. Viel eher bildet die Berglehre einen Leitfaden, dessen Anfang (Seligpreisungen) und Ende (Schlussmahnungen) besonders akzentuiert sind, um zum Tun des Willens Gottes aufzufordern und dadurch ins Reich Gottes zu kommen. 5. Von „Antithesen“ im Verhältnis zum AT sollte man nicht sprechen. Vielmehr entfaltet Jesus die Gottesoffenbarung des AT und deckt sie in ihrem Vollsinn auf. 6. Gibt es eine „Neuheit der Lehre Jesu“ oder nur Jüdisches in der Berglehre? Es ist richtig, dass man früher allzu schnell eine „Originalität“ der Lehre Jesu postulierte und die zahlreichen Parallelen in der rabbinischen Literatur gerne übersah.19 Heute liegt allerdings die Gefahr nahe, den zeitlichen Unterschied zwischen den Äußerungen Jesu und späteren rabbinischen Stimmen zu übersehen. Es bleibt der Tatbestand bestehen, dass eine solche kohärente Lehre mit einer solchen Prägnanz des Ausdrucks und einem solchen umfassenden Anspruch des Willens Gottes in der Geschichte Israels einmalig ist (vgl. Mk 1,22; Joh 7,46). 7. Schniewind hat wiederholt betont: „Die Bergrede ist von Anfang bis zu [sic!] Ende nichts anderes als das Wort des Messias.“ In der Tat ist die Person Jesu der Schlüssel zum richtigen Verständnis von Mt 5–7. Es geht Matthäus – eingerahmt durch das „Immanuel“ in 1,23 und das ἐγὼ μεθʼ ὑμῶν [egō meth’ hymōn] in 28,20 – mehr um den Bergprediger als um die Bergpredigt. Von daher ist sowohl die Aufnahme als auch die Korrektur jüdischer Lehrtradition in Mt 5–7 zu verstehen. Als Messias und Gottessohn besitzt Jesus die letztgültige Autorität in Auslegung und Anwendung der heiligen Schriften Israels. 8. Unausweichlich stellt sich für Hörer und Leser die Frage: Wer kann dies alles erfüllen? Die Mauer des Gesetzes wird gewissermaßen noch höher gezogen als bei den Schriftgelehrten und Pharisäern (5,20). Die Frage bleibt in Mt 5–7 noch offen. 9. Aus dem Zusammenhang des Evangeliums enthüllt sich jedoch, dass die Lösung der Frage nur in der Erlösung der sündigen Menschen durch das Kreuz Jesu gefunden werden kann. Sind die Evangelien tatsächlich Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung, dann sind wir bei der Bergpredigt folgerichtig schon auf dem Weg zum Kreuz. Die Bergpredigt wird dadurch nicht obsolet, sondern erfüllt zwei wesentliche Aufgaben: Sie deckt erstens auf, was uns vor Gott fehlt (vgl. Röm 3,9ff), und sie dient zweitens als Modell eines neuen Lebens in der Nachfolge Jesu. Matthäus 8,1–4 III Einzelexegese In V. 1 ist die Rede von dem Berg (τοῦ ὄρους [tou orous], mit Artikel). Das ist ein deutlicher Rückverweis auf „den Berg“ von Mt 5,1. Jesus kommt also von der Bergpredigt zurück. Der Berg muss in demselben allgemeinen Sinn verstanden werden wie in 5,1: also im Sinne von Bergland und einsamer Gegend. Es ist natürlich, dass er von dort herabstieg, nämlich zur tieferen Uferregion am See Genezareth. Markus 1,40ff und Lk 5,12 lassen beide einen Ort in der Nähe von Kapernaum vermuten, machen aber ebenso wenig wie Matthäus eine bestimmte Ortsangabe. In V. 1 hält Matthäus außerdem fest, dass Jesus eine große Menge folgte (ἠκολούθησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί [ēkolouthēsan autō ochloi polloi]). Das ist nach 7,29 die zweite ausdrückliche Bestätigung, dass neben dem engeren Jüngerkreis tatsächlich eine größere Volksmenge die Bergpredigt hörte. Nachfolgen ist hier im äußeren Sinn gebraucht: Sie zogen hinter ihm her. Fast unvermittelt setzt die Begegnung mit dem Aussätzigen ein: Und siehe, ein Aussätziger kam herbei, warf sich vor ihm nieder und sagte … (V. 2). Aussätzige (λεπροί [leproi]) sind Jesus mehrfach begegnet (Lk 17,12ff; Mt 11,5 par). Aussatz, griech. λέπρα [lepra], hebr. צָרַעַת [zāraʿat], wird in der sog. Aussatz-Tora Lev 13f ausführlich besprochen. In der genaueren medizinischen Bestimmung ist man vorsichtig geworden. Man spricht heute nur noch „von nicht näher spezifizierbaren Hautanomalien, die Diagnose und Unreinerklärung durch den Priester … erfordern und Quarantänemaßnahmen … nach sich ziehen“.7 Darin ist die klassische Lepra mit eingeschlossen. Außerdem spricht das AT von einem Aussatz an Kleidern und Häusern, wobei die sachliche „Problematik ungeklärt ist“.8 Die Folgen einer Aussatz-Diagnose waren für die Betroffenen verheerend. Das normale Leben blieb ihnen bis zur Feststellung einer Heilung verschlossen. Sie mussten anderen Menschen zurufen „Unrein, unrein!“ (Lev 13,45) und damit jeden warnen, in ihre Nähe zu kommen (vgl. Lk 17,12f). Tempel, Synagoge, Wohnhäuser, Dorfgemeinschaft, Festversammlungen – dies alles blieb ihnen verschlossen. Schon dass der Aussätzige herbeikam und sich vor Jesus niederwarf, war kühn. Er übertrat damit das Abstandsgebot (Lev 13,46). Aber warum kam er überhaupt? Der Ruf Jesu muss schon damals völlig ungewöhnlich gewesen sein. Mt 8,2 bestätigt, was Mt 4,23f sagte: Bereits vor der Zeit der Berglehre hat Jesus Heilungen vollbracht. Es bleibt ein Ruhmesblatt des Talmud, dass er die Wundertaten Jesu bestätigt, etwa an der bekannten Stelle b Schab 104b: „er brachte Zauberkünste aus Ägypten“. Hingegen hat die kritische christliche Theologie die Wunder weithin geleugnet. Nicht minder bemerkenswert ist, was der Aussätzige sagte: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Bis auf das Herr (κύριε [kyrie]), das bei Markus fehlt, stimmen hier Matthäus (8,2), Markus (1,40) und Lukas (5,12) wortwörtlich überein. Dabei kann offenbleiben, ob dem griech. κύριε [kyrie] ein aramäisches רַבִּי [rabbī] oder ein מָרִי [mārī] entspricht. Höflichkeitsanrede ist das κύριε [kyrie] jedenfalls nicht, sondern Anerkennungsanrede und Würdebezeichnung. Vor allem aber fordern die Worte wenn du willst, kannst du mich reinigen unsere Aufmerksamkeit. Sie schildern einen völlig anderen Vorgang, als wir ihn von jüdischen Wundergeschichten her erwarten würden. Nach b Ber 34b „erkrankte der Sohn R. Gamliels und er sandte zwei Schriftgelehrte zu R. Chanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen“. Zur selben Stunde wird der Sohn R. Gamliels gesund. Auf dieselbe Weise wird der Sohn von R. Jochanan ben Zakkaj geheilt. Das Entscheidende ist hier die Fürbitte von Chanina ben Dosa. Der Rabbi selbst heilt nicht. Ähnlich ist es bei den Propheten Elia (1Kön 17,17ff) und Elisa (2Kön 4,18ff; 5,1ff). Aber bei Jesus liegt die Sache völlig anders. Hier ist es er selbst, der heilt. Wenn du willst stellt völlig auf seinen Willen ab. Der Aussätzige sagt ja nicht: „Wenn Gott will.“ Bemerkenswert sind die Worte wenn du willst aber noch aus einem anderen Grund. Sie zeigen nämlich, dass der Aussätzige nicht einfach fordert, sondern es Jesus freilässt, ob er heilen will oder nicht. Seine Bitte berührt sich also mit der späteren Gethsemane-Bitte Jesu (Mt 26,39ff). Damit gibt der Aussätzige eine wichtige Regel zu erkennen, die für alle christlichen Gebete gilt. Auf die Bedeutung des du kannst (δύνασαι [dynasai]) haben wir schon hingewiesen. Die singuläre Heilungsmacht Jesu steht im NT außer Zweifel (vgl. Mt 9,33; 15,31). Zugleich spricht hier ein Glaube, der alle Bedenken überwindet. Eine entfernte Parallele zu Mose in Num 12,11ff ist für Mt 8,1ff anzunehmen. Aber gerade diese Mose-Parallele lässt noch einmal den gravierenden Unterschied erkennen: Mose selbst kann nicht heilen, nur Fürbitte tun, aber Jesus kann heilen. Für heilen steht hier reinigen (καθαρίζειν [katharizein]), das heißt von leiblicher und kultischer Unreinheit befreien. Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will, sei rein! (V. 3). In matthäischer Knappheit wird jede Gemütsbewegung Jesu ausgelassen (im Unterschied zu Mk 1,41). Jesus hat keinerlei Schema für seine Heilungen. Manchmal gebraucht er nur ein Wort (Mt 8,13), manchmal berührt er die Kranken oder ergreift ihre Hand (Mt 8,3.15), manchmal geht er schrittweise vor (Mt 13,33ff; Joh 9,6ff). Gerade das Fehlen jedes Usus oder Schematismus zeigt, dass er nicht mit Magie heilt und dass er völlig souverän ist. Das Ausstrecken der Hand ist relativ selten (vgl. Mt 14,31). Das Berühren eines Aussätzigen machte unrein (Lev 5,2ff; 14,33ff). Jesus hätte durch ein einziges Wort heilen können, ohne sich durch Berührung unrein zu machen. Warum also berührte er ihn? Matthäus gibt hier keine direkte Auskunft. Man kann jedoch vermuten, dass das Berühren mit der Hand die persönliche Zuwendung ausdrückt: Ja, ich als Sohn Gottes und Messias handle jetzt an dir. Vielleicht kommt noch eine zweite Bedeutung hinzu: Das Ausstrecken oder Ausrecken der Hand symbolisiert in der Exodusgeschichte (Ex 7–14) die göttliche Macht. So kann es auch hier in Mt 8,3 gemeint sein. Ich will, sei rein! ist ein königliches Wort. Es nimmt in genauer Parallele das Anliegen des Aussätzigen auf: wenn du willst – Ich will / mich reinigen – sei rein. Das θέλω [thelō] signalisiert die „Ausführung befreiender Gewalt“. Der Gottessohn kann in der Gewissheit der Verbindung mit dem Vater unmittelbar handeln. Die Worte θέλω, καθαρίσθητι [thelō, katharisthēti] sind bei Mt, Mk und Lk gleich. Mit Recht bezeichnen Davies-Allison und France die Heilungsberichte in Num 12,9ff; 2Kön 5,14; b Ber 34b als „contrast“, wobei Davies-Allison zu Mt 8,3 bemerken: „He does not say ‚God wills‘ “. Und sofort wurde er von seinem Aussatz (ἡ λέπρα [hē lepra]) gereinigt: Die sofortige Heilung bezeugen alle drei Synoptiker. Gegen Bultmann genügt es nicht, hier nur von Stileigentümlichkeiten der Wundergeschichten zu sprechen. Vielmehr erleben die Anwesenden (Mt 8,1; Lk 5,12) mit Staunen die Macht des Wortes Jesu. Nähere Einzelheiten erwähnt Matthäus nicht. Der 4. Vers macht den Auslegern besondere Beschwer: Und Jesus sagt zu ihm: Sieh zu, sage es niemand! Sondern geh hin, zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Wie soll der Geheilte seine Heilung verschweigen? Was ist mit der Menge von V. 1? Was heißt ihnen zum Zeugnis? Sieh zu, sage es niemand! bedeutet eine energische Aufforderung, vgl. das ἐμβριμησάμενος [embrimēsamenos]in Mk 1,43. Derartige Aufforderungen finden sich bei Jesus häufig (vgl. Mt 9,30; 12,16; Mk 1,34; 3,12; 5,43; 7,36; 8,30; 9,9; Lk 8,56). Bei der Erklärung kann man sich also nicht auf die Situation von Mt 8,1–4 beschränken. William Wrede hat 1901 in seinem Buch über Das Messiasgeheimnis in den Evangelien die These vertreten, für die Schweigegebote Jesu komme „ein geschichtliches Motiv“ überhaupt „nicht in Frage“. Alle diese Schweigegebote entsprängen nur der „theologischen … Auffassung“ des Markus und ihm folgend der übrigen Evangelisten. Mithilfe dieser theologischen, aber ganz und gar „nicht-geschichtlichen Auffassung“25 hätten sie die Brücke von ihrem Glaubensdogma der Messianität Jesu zu dem geschichtlichen, unmessianischen Leben Jesu geschlagen. Allein dann müsste die ganze Erzählung von der Heilung des Aussätzigen aus einer lediglich theologischen Idee stammen: und zwar bei drei Evangelisten gleichzeitig. Denn der Aussätzige setzt eine messianische Wunderkraft Jesu voraus! Eine andere Erklärung bietet Adolf Schlatter. Er sieht ein wesentliches Motiv Jesu darin, dass er unnötige Kämpfe, die „seine Arbeit … voreilig“ abbrechen konnten, vermeiden wollte: „Das war sein Los, daß er anderen nicht helfen konnte, ohne daß er sich mit jeder hilfreichen Tat dem Kreuze näherte.“ Aber Schlatter verrät schon durch seine eigene Wortwahl, dass eine solche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit praktisch nicht zu verwirklichen war. Das wird durch Mk 1,45 und Lk 5,15 explizit bestätigt. Ulrich Luz versteht das Schweigegebot im Sinne einer Konzentration: „Tu überhaupt nichts anderes, als mit deiner Opfergabe zum Priester zu gehen.“ Ein solches Verständnis ist nachvollziehbar. Aber noch näher liegt die Annahme, dass Jesus jede propagandistische Verkündigung unterbinden wollte, die seine Wundertaten in den Vordergrund rückte. Er wäre sonst der Versuchung der Sensation und der Show von Mt 4,5f erlegen (vgl. auch Apg 16,16ff). Sieht man die Dinge so, dann spielt es auch keine Rolle, ob die Menge von V. 1 noch dabei war oder nicht. Matthäus jedenfalls erwähnt sie in V. 4 nicht mehr, Markus und Lukas ebenso wenig. Klar ist die Anweisung geh hin, zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die Mose geboten hat. Damit erfüllen Jesus und der Geheilte die Gesetzesvorschriften von Lev 14,2ff. Jesus hält also, was er Mt 5,17–20 versprochen hat. Für ihn als Messias ist die Gesetzestreue wichtiger als ein Propagandaerfolg. Übrigens hat Jesus niemals ein negatives Wort über Mose gesagt. Doch was heißt ihnen zum Zeugnis (εἰς μαρτύριον αὐτοῖς [eis martyrion autois])? Ihnen kann man verschieden beziehen: a) auf alle Israeliten, die damals lebten, repräsentiert durch die Menge von V. 1; b) auf die Priester, die Jesus zu gewinnen hoffte. Jedenfalls ist das Zeugnis (μαρτύριον [martyrion]) gegen Strathmann kein „Belastungszeugnis“ oder anklagendes Zeugnis, sondern wie in Mt 10,18; 24,14 ein missionarisches Zeugnis. Am besten bezieht man das ihnen auf die Priester, unabhängig davon, ob Jesus schon damals ihre Feindschaft verspürte oder nicht. Er will auch sie, deren Position er soeben durch seine Anweisung stützte, für das Reich Gottes gewinnen. In der Tat meldet die Apostelgeschichte, dass nach seiner Auferstehung „viele Priester dem Glauben gehorsam wurden“ (Apg 6,7). Maier, G. (2015). Das Evangelium des Matthäus: Kapitel 1–14. (G. Maier, R. Riesner, H.-W. Neudorfer, & E. J. Schnabel, Hrsg.) (S. 237–443). Witten; Giessen: SCM R.Brockhaus; Brunnen Verlag. |