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Das Morgenrot der Welterlösung  Erich Sauer

               Vorwort

 

  Die Heilsgeschichte steht und fällt, nein, sie steht mit der Autorität des

HErrn Jesu. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß Christus sich gerade zu den

umstrittensten Teilen des Alten Testamentes bekannt hat, so zu der buchstäb-

lichen Geschichtlichkeit von Adam und Eva (Matth. 19, 8; Joh. 8,44), der Tat-

sächlichkeit der Sintflut (Matth. 24, 37; 38), dem Wundererlebnis des Propheten

Jona (Matth. 12, 39; 40).') Am auffälligsten bekennt er sich zum Buche Daniel;

denn gerade aus diesem, vom Unglauben heute so sehr angefochtenen Buch nimmt

er die Hauptbezeichnung seiner eigenen Person („Menschensohn". Dan. 7,13; 14;

Matth. 26, 64), ja verbindet sich gerade mit diesem Buch durch den einzigen Eid-

schwur seines Lebens (Matth. 26, 63; 64; Dan. 7, 13; 14)!') Und was die Zukunft

betrifft, so erwartet er seine persönliche Wiederkunft in Herrlichkeit (Matth. 24,

27-31) und die buchstäbliche Aufrichtung des von den Propheten geweissagten

Gottesreiches (Matth. 19, 28; 25, 31ff.; Apg. 1, 6; 7). Dasselbe tun seine Apostel 3)

  3808mal bezeugt das Alte Testament, diese Bibel des HErrn Jesu (Joh. 5, 39;

10, 35): „So spricht der HErr!"” Für Christus, das personhaft lebendige „II ort-

(Joh. 1, 1; 14; Off. 19, 13), tvar schon ein Tüttel oder Jota des geschriebenen

Wortes mehr wert als alle Sternenwelten und Sonnensysteme des gesamten Uni-

versumst „Wahrlich, ich sage euch: Bis daß Himmel und Erde zergehen, wird

nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vorn Gesetz, bis daß es

alles geschehe" (Matth. 5, 18 vgl. 24. 35; Joh. 10, 35). Und Paulus, sein größter

Apostel, bekennt: „Ich glaube an all e s, was im Gesetz und in den Propheten

geschrieben steht" (Apg. 24, 14). Der Glaube an den Offenbarungscharakter der

Heiligen Schrift und ihre unzerstörbare Autorität ist darum keine geistlose Ver-

götterung des Buchstabens, keine kleingeistig unchristliche Buchstabenknechtschaft,

sondern hat die größten Geister der Heilsgeschichte, ja, Christus, den Sohn Got-

tes, selber auf seiner Seite. „Die Offenbarung steht, nein, sie geschieht für

uns in der Schrift; sie geschieht — es gibt kein Ausweichen — in den biblischen

Texten, in den Worten und Sätzen, in dem, was die Propheten und Apostel als

ihre Zeugen sagen wollten und gesagt haben" (Karl Barth).

 

  1) Vgl. auch Luk. 17, 32.

  2) Vgl. auch Matth. 24, 15.

  2) Z. B. Paulus: Röm. 5, 12-21; 1. Tim. 2,13; 14; 1. Thess. 4, 16; 17; Röm. 11,

23-26. Jakobus: Kap. 3, 9; 5, 7. Johannes: 1. Joh. 3, 12; Off. 20, 2-7.

  4) Nach Dr. Evans.

 

 

 

10               Vorwort

 

  So lösen wir die Frage der Heilsgeschichte von dem König der Heilsgeschichte

aus. Die ganze Offenbarung ist ein Kreis, und Jesus Christus ist der Mittelpunkt

dieses Kreises. E r ist die Sonne, und von i h m aus wird der ganze Kreis licht')

  Die Bibel aber ist, als die Urkunde dieser Heilsgeschichte, ein einheitliches

Ganzes, ein lebensvoller Organismus, ein planmäßiges, prophetisch-geschichtliches

System. Sie ist ,,ein kunstreiches Gebäude, zu welchem der Grundriß schon vor-

her entworfen ward", ein auf Christus hinzielendes, harmonisch abgestuftes Gan-

zes mit vollendetem Gleichmaß und Zusammenklang aller Teile. Das Thema vom

Reich Gottes aber und dem Rhythmus seiner stufenmäßig voranschreitenden Epo-

chen und Perioden ist die leitende Grundmelodie dieser gewaltigen, göttlichen

Gesamtsymphonie.")

  Wir aber haben uns „schauend und lauschend niederzubeugen, um die Har-

monie des Gegebenen und Seienden zu erfassen". Das ist heilsgeschichtliche

Schriftauslegung. Erst sie wird dem Wesen der Bibel gerecht. Sie liest die Hei-

lige Schrift „äonenmäßig", d. h. nach Zeitaltern, Haushaltungen, Abstufungen,

Gliederungen. In ihr steht der menschliche Geist auf allerhöchster, prophetischer

Warte. Hier weitet sich sein Blick zu weiten- und zeitalter-umspannender Schau.

;Hier sieht er hinaus über den engen Kreis seiner Persönlichkeit, hinaus über die

Grenzen des Volkstums und der Kultur, ja hinaus über alle Schranken der Gegen-

wart und Zeit. Hier faßt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen,

überblickt das Werdende und Seiende zugleich, ja tut Lichtblicke hinein in das

Herz des Allerhöchsten, in die Tiefen der Gottheit selbst.

  In diesem Sinne wollen wir nun an unsere Aufgabe herantreten: den Versuch

einer umrißartigen Schilderung der durch die Jahrtausende hindurch wandernden

"Pilgerreise" der göttlichen Heilsentfaltung von der Weltschöpfung an bis zu

Christus, dem Welterlöser.

  Auf Vollständigkeit ist es nirgends im Folgenden abgesehen. Auch eine Aus-

einandersetzung zwischen dem biblischen und dem modern-philosophischen Welt-

bild konnte naturgemäß nicht in Frage kommen, ebensowenig eine Auseinander-

 setzung zwischen der positiven und der liberal-kritischen Einstellung zur Bibel

 überhaupt. Das Buch ist keine Glaubensverteidigung, sondern eine Heilsgeschichte.

 Ein Zuweitfassen seiner Aufgabe hätte den Rahmen des Ganzen gesprengt. Wohl

 

  5) Wer aber insonderheit in bezug auf die ersten Kapitel der Bibel, die da-

 nielischen Weissagungen, die Bedeutung des Kreuzes, die leibliche Auferstehung

 und die persönliche Wiederkunft Christi eine durch Unglauben oder Halbglauben

 gebrochene Stellung zur Schrift einnimmt, dem wird A n f an g, Mitte und

 Ende des göttlichen Erlösungsplanes unklar sein, und der wundersame Gottes-

 tempel der Heilsgeschichte wird ihm ein verschlossener Bau bleiben.

  5) In der evangelischen Kirche betonten dies vor allem Männer wie Coccejus,

 Bengel, Oetinger, Hahn, Rooß, Collenbusch, Crusius, Hasenkamp, Menken, Blum-

 hardt, Franz Delitzsch, Thomasius, Frank, Krafft, M. Baumgarten und namentlich

 v. Hofmann, Beck, Auberlen. Besonders das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert

 der Geschichte, wurde auch das Jahrhundert der heilsgeschichtlichen Theologie.

 Vgl. G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, Gütersloh

 1923; G. Weth, Die Heilsgeschichte, München 1931.

 

                    Vorwort             

 

11

 

   aber handelt es sich darum, mit der Geschichtseinheit der Bibel vollen Ernst zu

   machen und den biblischen Geschichtsplan und die Menschheitsentwicklung so an-

   zuschauen, wie sie sich in ihrer harmonischen Mannigfaltigkeit, ihrer kosmischen

   Weltweite und ihrer etappenmäßigen Ordnung, von Gott aus gesehen, darstellen,

   wenn die Bibel recht hat.

     Was das Äußere der vorliegenden Arbeit betrifft, so ist angestrebt: Allge-

   meinverständlichkeit des Ausdrucks sowie Einteilung des Ganzen in viele kleine

   Abschnitte. Besonders für solche, die das Folgende zu Vorbereitungen für die

   Wortverkündigung bzw. zu persönlichem Schrift st u d i u m benutzen wollen,

   sind die zahlreichen Bibelstellen (über 1600) berechnet. Vielfach sind sie zugleich

   eine Erweiterung des Gedankengangs. Die Bibelstellen sind, wo nicht anders

   vermerkt, nach der Luther- oder Menge-Bibel wiedergegeben.

     Der großen Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit des hier Vorliegenden

   bin ich mir sehr bewußt. Doch befehle ich die Arbeit dein HErrn und seiner

   Gnade. Mein Gebet zu ihm ist, daß er sie gebrauchen möge zum Dienst an seinen

   Heiligen. Ihm selbst aber, „dem Könige der Zeitalter, dem unverweslichen, un-

   sichtbaren, alleinigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!

   Amen" (1. Tim. 1, 17).

     Bibelschule Wiedenest, im August 1937

                                Erich Sauer

 

 

so.

 

          Vorwort zur 2. Auflage

 Dankbaren Herzens sende ich hiermit diese 2. Auflage hinaus. Die freund-

iche Aufnahme, die das Buch in den Kreisen der Gläubigen hin und her gefunden

iat, ist mir eine große Freude gewesen. Schon während des Druckes der 1. Auflage

nußte die Zahl von 3000 auf 5000 erhöht werden. Auch dies zeigt von neuem,

vie die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Alten Testaments bei vielen

reute mit im Brennpunkt ihres Interesses steht. Möge der HErr das Buch auch

Luf seinem zweiten Gang gebrauchen, von der Christusbotschaft und Christus-

ierrlichkeit dieser „Bibel des HErrn Jesu" zu zeugen. Denn „das Alte Testament

;chmeckt nicht, wenn Christus darin nicht erkannt wird" (Augustinus); aber wenn

.7.r in diesem seinem eigenen Wort geschaut wird (1. Petr. 1,11), ist es voller Le-

)endigkeit und Kraft. Denn es bleibt nun einmal bei der Wahrheit des Wortes

inseres großen deutschen Reformators: „Das Alte Testament ist die Quelle des

Neuen, und das Neue ist das Licht des Alten" (Luther).

 Bibelschule Wiedenest, im März 1938

                              Erich Sauer

 

 

 

          Vorwort zur 4. Auflage

 In einer Zeit gewaltigster, weltgeschichtlicher Erschütterungen sende ich diese

Auflage hinaus. Mitten in Zusammenbrüchen des Menschlichen und Dämoni-

chen steht Gottes Wort — auch die Botschaft des Alten Testaments — fest wie

:in Fels in der Brandung. Es bewährt auch in der Gegenwart seine ZeitgemäiSheit

ind Ewigkeitskraft. Alle Feindschaft der Welt gegen die alttestamentliche Gottes-

-ffenbarung jedoch erweist ihre Ohnmacht. „Wahrlich, ich sage euch: Bis daß

iimmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein

['üttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe" (Matth. 5,18).

 Im Wesentlichen ist der Text derselbe geblieben wie in den vorigen Aul-

agen. Nur an wenigen Stellen sind Textverbesserungen-vorgenommen worden.

.:inige Anhänge wurden gekürzt bzw. ausgelassen, weil die darin behandelten Fra-

en in dem inzwischen herausgekommenen Buch des Verfassers „Vom Adel des

vlenschen. Gedanken über Zweck und Ziel der Menschenschöpfung" (Gütersloh

947) eine genauere Bearbeitung erfahren haben.

 Der Herr wolle das Buch auch weiterhin segnen. Von der Herrlichkeit seines

Nortes, der Zielstrebigkeit seiner Geschichtsführungen, dem inneren Sinn seiner

chon von Anfang an auf Christus hin angelegten, alttestamentlichen Gottesoffen-

›arung zu zeugen — das ist die Aufgabe der hier vorliegenden Arbeit.

 Bibelschule Wiedenest, im Juli 1947

                               Erich Sauer

 

                       

 

Inhalt und Aufbau

Vorwort .                                                               Sei te

Inhalt und Aufbau .                                                       13

Einleitung     .  .                                                       1 5

Erster Teil: Die Grundlagen der biblischen Offenbarungsgeschichte

         1. Kapitel: Die vorweltliche Ewigkeit .                          17

         2. Kapitel: Die Weltschöpfung . .                                24

         3. Kapitel: Der Ursprung des Bösen                               34

Zweiter Teil: Die Uroffenbarung

         1. Kapitel: Die paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit    41

         2. Kapitel: Sünde und Gnade .                                    54

         3. Kapitel: Das Frührot des Heils                                61

         4. Kapitel: Zwei Menschheitswege .                               71

         5. Kapitel: Naturbund und Weltgeschichte (Der Bund Gottes

                    mit Noah) ..                                          79

         6. Kapitel: Das heilsgeschichtliche Rassenprogramm

                    (Der Segen Noahs) . .                                 84

         7. Kapitel: Das babylonische Menschheitsgericht .                91

Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung

     A. Das Verheißungsfundament des Evangeliums

         I. Kapitel: Der Heilsumfang des Alten Testaments . . . .        100

         2. Kapitel: Die überragende Herrlichkeit des Abrahamsbundes     108

     B. Das Geheimnis des Volkes Israel

         3. Kapital: Israels Berufung und Dienstauftrag .                122

         4. Kapitel: Israels Abfall und Krisenweg                        127

     C. Warum gab Gott das mosaische Gesetz?

         5. Kapitel: Der Sinn des Gesetzes .                          .  136

 

14                                Inhalt und Aufbau

                                                                                Seite

          6. Kapitel: Der Todesweg des Gesetzes        .                        141

          7. Kapitel: Der Lebensweg des Gesetzes       .                     .   147

      D. Das Gotteszeugnis der Prophetie

          8. Kapitel: Die prophetischen Namen                                .   159

          9. Kapitel: Die prophetische Botschaft   .                         .   167

         10. Kapitel: Die Messiasprophetie     ..                            .   176

      E. Die Heilszubereitung der Völkerwelt

          11. Kapitel: Die Zeiten der Nationen (Die vier Weltreiche

                      Daniels)                                                   187

          12. Kapitel: Die Fülle der Zeit                                        199

  Anhang

       1. Die Namen Gottes                                                       217

       II. Die Zuverlässigkeit der biblischen Urgeschichte        .              220

      III. Die geologischen Formationen (Ubersichtstabelle)                      222

      IV. Der Stufencharakter des Heilsplans                                    223

       V. Zeittafel zur alttestamentlichen Heilsgeschichte                      227

      VI. Die Könige Israels (Tabelle)                                         235

  Stichwörter-Verzeichnis .  .                                               .   236

  Literatur-Verzeichnis  .                                                   .   242

 

                

 

 Einleitung

          „Selig sind die Fragenden, die nicht über das Ewige, sondern

        nach dem Ewigen fragen." (H. v. Wolzogen)

   Weltschöpfung, Welterlösung, Weltvollendung — wie drei hoch-

ragende Rätselzeichen stehen diese Worte in der Geistesgeschichte der

Menschheit da. Noch nie ist ein Volk achtlos an ihnen vorübergegangen.

Gerade die Größten aller Zeiten waren bestrebt, sie zu deuten.

   Bunt, widerspruchsvoll, oft völlig ungreifbar waren seit alters die

Antworten. System auf System ist ersonnen, Weltbild auf Weltbild

gefolgt. Auf den Trümmern des einen baute der andere sein Geistes-

gebäude auf, und auch heute noch ringt die Menschheit um sie mit aller

Kraft ihrer Gedanken.

   Und doch ist die Antwort schon da! Gott selbst hat sie deutlich ge-

geben. Seine ewigen Gedanken sind keineswegs bloße „Ideen", die rein

über allem irdischen Weltverlauf schwebten, sondern schöpferische Taten,

die sich zugleich unmittelbar in alle Geschichte hinein stellen, sich tief

mit ihr verweben und „in, mit und unter" aller Geschichte sich wirksam

erweisen. „Die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Mensch-

heit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte — Gottes"

(Raabe).

   Aber die Antwort, die Gott gibt, ist er selbe r: Sein eigenes Sein

in der Person seines Sohnes. Als das ewige „Wort" ist der Sohn die

Zentralsonne aller Gottesoffenbarung im gesamten Universum.

       Aus Gott geht alles hervor; hier enthüllt sich der Urgrund der

    Vergangenheit, das Wesen der Weltschöpfung (Kol. 1, 16; Joh. 1, 3).

       Durch Gott wird alles vollbracht; dies deutet die Frage der

    Gegenwart, das Werden einer Welter/ösung (Röm. 11, 36).

       Zu Gott strebt alles zurück; hier zeigt sich das Ziel aller Zu-

    kunft, das Wesen aller Weltpollendung (1. Kor. 15, 28).

 

 

 

16     Die Bibel — der Schlüssel zum Weltgeschehen

 

  So ist Gott der HErr, geoffenbart in Christo, der Fels aller Zeiten,

der personhaft lebendige Urgrund alles Seins.

  Aber das ewige Wort offenbarte sich durch das gesprochene Wort,

und das gesprochene 'Wort ward zum geschriebenen, und das geschrie-

bene Wort wurde zur Bibel. So ist denn die Bibel der Schlüssel zum

Weltgeschehen, das Buch der Menschheit, d a s Buch der Geschichte.

  Von ihrem Verstehen hängt darum a 11 e s ab. Ohne sie sind

wir Tappende und Tastende in einem lichtleeren, verfinsterten Kerker.

Wem aber die Bibel aufgeht, dem geht die Sofie auf und mit ihr der

Himmel und all sein Glanz. Sein Pfad wird erhellt, sein Leben wird

licht; die Zeit wird verklärt, das Göttliche siegt, und immer mehr be-

greift er das große Wort:

 

            „Jetzt ist Ewigkeit."1)

 

 

 

  1) Letztes Wort Söderbloms.

 

 

 

 

ER S T E R TEIL

 

 

 

            Die Grundlagen

 

    der biblischen Offenbarungsgeschichte

 

       1. K a p i t e 1: Die vorweltliche Ewigkeit

          „Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der Sinn."

 

  Gott ist der einige, ewig absolute Geist (Joh. 4, 24). Geistigkeit, Ein-

heit und Ewigkeit gehören zu dem Kern seines Wesens, und er selbst

ist der Inbegriff alles höchsten, vollkommensten Lebens. Als solcher aber

ist er zugleich wirklichste Wirklichkeit, wollendes Ich, bewußte Persön-

lichkeit, ja ewige überpersönlichkeit, und alle endlichen Deutungsver-

suche seines unendlichen Seins durch den menschlichen Geist sind ewig

vergeblich.

  Gottes„beweise" kann es darum nicht geben. Auch die Schrift läßt

sich gar nicht erst darauf ein. Denn der Gottesgedanke sprengt alle

menschlichen Denkmittel, und schon der bloße 'Versuch einer staub-

geborenen Kreatur, Gott (!!) „beweisen" zu wollen, ist nichts als kin-

dische Selbstüberschätzung, ja maßlose Vermessenheit kleingeistigen

Größenwahns. Gott ist als Gott der Ewige und Unendliche und als

solcher nimmermehr Denkproblem menschlicher Maulwurfsspekulation!

  Dennoch haben die sogenannten „Gottesbeweise" ihren nicht zu

unterschätzenden Wert') Sie beweisen die Vernunftgemäßheit des Got-

tesglaubens und machen die sichtbare Welt zum Zeugen und Sinnbild

der ewigen. Sie zwingen den denkenden Geist zu einem letzten, unaus-

weichlichen Entweder—Oder: Entweder unser Denken beruht auf einer

unentrinnbaren, sinnlosen Einbildung, oder aber: Gott existiert, und

 

  1) Selbst für Kant hatten der teleologische und der Moralbeweis doch ihre Be-

deutung.

2 Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung

 

 

 

18        Die Vernunftgemäßheit des Gottesglaubens

 

dann ist es der Ausdruck einer unbedingten, allumfassenden Wirklich-

keit.

   Gott muß da sein — dies ist das Zeugnis der allgemeinen Natur -

      als der allverursachende Urgrund der Welt; dies fordert der

    Blick in die Vergangenheit, die Trage nach der U r s a c h c, dem

    „Woher?" alles Seienden;)

      als der schönheitsvoll kunstreiche Baumeister der Welt; dies

    fordert der Blick in die Gegenwart, die Erkenntnis der 0 r d -

    n u n g, des „Wie?" alles Seienden (Röm. 1, 20; Ps. 104, 24; 94, 9);3)

      als der planvoll zweckgebende Zielsetzer der Welt; dies fordert

    der Blick in die Zukunft, die Frage nach dem S i n n, dem „Wozu?"

    alles Seienden.')

  Und ferner: Gott muß da sein — dies ist das Zeugnis der mensch-

lichen Seele -

      als die höchste Idee des Verstandes; denn wie könnte gerade

    der höchste Gedanke wesenlos seinn

      als der oberste Gesetzgeber des Willens (bzw. Gewissens);

    denn wie kann das sittliche Gesetz ohne Gesetzgeber entstanden

    sein?)

      als der einzige Glückseligmacher des Gefühls; denn warum

    findet die Seele keine Ruhe, bis daß sie ruht in Gott?')

  So zeugt denn von seinem Dasein alles auf Erden: die Welt um

uns und in uns, das Außer- und Innermenschliche. Ohne ihn ist die Welt

nur ein „alles verschlingendes Grab", ein „ewig wiederkäuendes Unge-

heuer" (Goethe), ein Riesenorganismus, der zwar bis ins Kleinste und

Winzigste unfaßbar genau und zweckmäßig eingerichtet ist, selber aber

 

  2) Dies ist der „kosmologische" Gottesbeweis (Aristoteles, Cicero, Deskartes,

Leibniz, Schleiermacher).

  3) mies ist der „physiko-theologische" Gottesbeweis (Sokrates, Aristoteles,

Leibniz, Wolff).

  4) Dies ist der „teleologische" Gottesbeweis (Sokrates, Plato, die Stoa, Philo,

die Scholastik). — telos (griechisch) = Ziel.

  5) Dies ist der „ontologische" Gottesbeweis (Anselm, .Deskartes, Spinoza,

Schelling, Hegel).

  ') Dies ist der „Moralbeweis" (Kant).

  7) Dies ist der „psychologische" Gottesbeweis (Tertullian, Augustin, Schleier-

macher).

 

 

 

 

 

 

 

            Die Dreieinheit Gottes

19

 

als Großes und Ganzes die Ziel l o s i g k e i t und Zweck l o s i g k ei t

geradezu zum Motto hat. Ohne ihn ist aller Wert in der Welt nur we-

senlose Einbildung, und der Urgrund alles Sinn vollen ist ewig das

Sinn 1 o s e. Nein, angesichts des Vorhandenseins unübersehbarer Weis-

heit im gesamten Universum ist der Gott leugnende Unglaube nur eine

gedankenlose Phrase, eine gehirnleere, stumpfsinnige Geistlosigkeit. Nur

„die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott" (Ps. 14, 1).

  Gott ist Liebe (1. Joh. 4, 16). Liebe ist der Urgrund seines Lebens,

der innerste Quellpunkt, aus dem sich sein Wesen ewig heraussetzt, das

schöpferische Zentrum, das all sein Wirken und Walten erzeugt.

  Liebe aber ist Dreieinheit. Schon Augustinus sagt: „Wenn Gott die

Liebe ist, dann muß in ihm ein Liebender, ein Geliebter und ein Geist

der Liebe sein; denn es ist keine Liebe denkbar ohne einen Liebenden

und einen Geliebten." Nun mag zwar bei Menschen ein Liebesbund

schon in der Zwei heit der Personen — und gerade in ihrl — seine

Genüge finden; aber nichtsdestoweniger liegt es im Begriff der Liebe

selber, stets eine Drei einheit zu sein:

     ein Aus-sich-sein der Liebe, da sie stets aus dem Liebenden

   hervorgeht,

     ein Zu-sich-sein der Liebe, da sie stets zu dem Geliebten hin-

   strebt, und

     ein In-sich-sein der Liebe, da sie die beiden durch den gemein-

   samen Geist der Verbundenheit ineinander verschlingt')

  So weit gelangt, tastend, das menschliche Denken. Daß aber diesen

drei Grundbegriffen der Gottesidee auch tatsächlich drei Personen der

Gottheit entsprechen, das vermag nur die Offenbarung des ewigen Got-

tes selber kundzutun. „Der Vater ist der ‚aus' sich seiende, der Sohn der

‚zu' sich gelangende, der Geist der sich ‚in' sich bewegende Gott."9) Der

Vater ist der Liebende, der Sohn der Geliebte, der Heilige Geist der

Geist der Liebe.

  Drei göttliche Personen und doch e i n Gott, Wesensgleichheit des

Sohnes mit dem Vater und doch freiwillige Unterordnung unter ihn

(1. Kor. 15, 28), Ursache aller Ursachen und doch selber u n verursacht —

wahrlich, hier sind Geheimnisse über Geheimnisse. Hier steht der end-

 

  8) „Wo Liebe, da Dreieinigkeit" („Ubi amor, ibi trinitas"), Augustinus.

  9) Ebrard, Dogmatik I, S. 173, 122-128.

 

 

 

 

20   Die heilsgeschichtliche Offenbarung der göttlichen Dreieinheit

 

liehe Geist ewig vor dem Rätsel des Unendlichen. Selbst bis in endlose

Ewigkeit gelangt raumzeitliches Denken niemals in die Sphäre der Ober-

räumlichkeit und Überzeitlichkeit Gottes hinein. Denn Gleiches wird

nur von Gleichem erkannt, also Gott nur durch Gott.")

  Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?

  Gar verschieden ist diese Frage beantwortet worden. Die einen haben

schon ihre Berechtigung abgelehnt (Luther); die andern haben versucht,

sie philosophisch zu deuten (Origenes). Die Bibel geht einen vermitteln-

den Weg, indem sie Verhüllung und Enthüllung zugleich bringt und, in

göttlicher Herablassung, ihre Mitteilungen über das Ewige und über-

zeitliche in die Formen geschöpflichen, raum-zeitlichen Denkens einklei-

det (z. B. Jes. 43, 10).11)

  In diesem Sinne gibt sie uns hier eine siebenfache Antwort:

 

  ") Erst allmählich wird in der heiligen Geschichte dies göttliche Geheimnis

geoffenbart. Zuerst offenbart Gott seine E i n h ei t, und zwar in ausdrücklichem

Gegensatz zu der vielgötterischen Umgebung und der vielgötterischen Neigung

des alttestamentlichen Bundesvolkes (z. B. 2. Mose 20,1; 2; Jes. 45, 5; 6). Erst nach

Ablauf von Jahrhunderten, nachdem der Glaube an die Einheit Gottes in Israel

unausrottbar festsaß — und das geschah durch die babylonische Gefangenschaft

(6. Jahrh. v. Chr.); seitdem war die Vielgötterei niemals mehr eine Versuchung für

Israel —, offenbart Gott im Neuen Bunde in der Einheit die M e h r h ei t. Denn

ist Jesus von Nazareth mehr als Prophet, ist er Gott seinem Wesen nach, so ent-

hüllt sich hier eine göttliche Zweiheit; und ist der Geist Gottes nicht nur eine

Kraft, sondern eine göttliche Person, so offenbart sich die göttliche Drei einheit

(vgl. Sauer, Der Triumph des Gekreuzigten, S. 61, Anm. 2). Zum ersten Male

tritt diese Dreieinheit im Neuen Testament bei der Taufe Jesu hervor (Matth. 3,

16; 17), dann besonders im Taufbefehl (Matth. 28, 19). Daher auch die vielen

„trinitarischen" Stellen im Neuen Testament (z. B. 2. Kor. 13,13; 1. Petr, 1, 2;

2. Thess. 2,13; 14; Eph. 2, 18-22; Hebr. 9, 14). — Das Wort „Trinität" („Dreiein-

heit" besser als „Dreieinigkeit") findet sich zwar nicht in der Schrift, wohl aber,

wie aus Obigem hervorgeht, die Sache. Alle philosophischen Spekulationen über

 den Inhalt des „Trinitätsproblems" sind jedoch zwecklos und meist vom übel

 (vgl. die trinitarischen Streitigkeiten des 4.-6. Jahrhunderts. Arius).

   ") Für Gott selbst als den Ewigen gibt es überhaupt keine Schranke der Zeit,

 keine Reihenfolge eines „Vor" und „Nach". Er schaut alle Zeiten zugleich, und

 daher ist ihm auch die Welt in all ihren Ausdehnungen schon ewig gegenwärtig.

 Zwar gibt erst sein schöpferisches Wort ihr den zeitlich geschichtlichen Anfang;

 aber in seinem Denken hatte er sie doch schon von Ewigkeit her in anfangsloser

 und zeitloser Weise. Von dieser organischen Verknüpfung von Ewigkeit und Zeit

 aber, wie überhaupt von Gottes ganzem Denken, vermag kein Geschöpf sich je

 eine Vorstellung zu machen.

 

             Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?

 

21

 

   1. Gott hat vor Grundlegung der Erdwelt die Engel und Sterne ge-

schaffen. Darum spricht er zu dem nichtigen Menschen: „Wo warst du,

als ich die Erde gründete? ... Wer hat ihren Eckstein gelegt, während

die Morgensterne allesamt laut frohlockten und alle Gottessöhne jauchz-

ten?" (Hiob 38, 7; vgl. 1, 6; 2, 1.)

   2. Gott hat vor Grundlegung der Gesamtwelt in ewigem Liebesver-

kehr mit seinem Sohne gestanden. Schon „v o r seinen Werken von

jeher" besaß er die ewige „Weisheit" (Spr. 8, 22; 23), das „Wort", das

dann später in Christo erschien (Joh. 1, 14). Schon damals „im Anfang"

war dieses Wort „zu Gott hin", stand ewig mit ihm in hinstrebendera

Gemeinschaftsverkehr (Joh. 1, 2). Und der Vater liebte den Sohn, der

hernach auf Erden bezeugt: „Du hast mich geliebt vor Grundlegung der

Welt" (Joh. 17, 24).1 „Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir

selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir schon besessen habe, ehe di8

Welt war" (Joh. 17, 5). So war denn der Sohn beim Vater

      das ewige Wort (Joh. 1, 1; 2),

      die ewige Weisheit (Spr. 8, 22; 23),

      der ewig Geliebte (Joh. 17, 24),

      der ewig Herrliche (Joh. 17,5).

    3. Gott hat vor Grundlegung der Welt den Heilsrat für die einzelnen

 beschlossen. Darum hat er ihre Namen schon von Anbeginn der Welt

 in das Lebensbuch des Lammes geschrieben (Off. 13,8; 17, 8), ja, hat sie

 in Liebe schon v o r aller Schöpfung zur Sohnschaft und Heiligkeit be-

 stimmt (Eph. 1,4; 5). Damit aber hat er ihnen auch das Leben schon

 „v o r ewigen Zeiten" verheißen (Tit. 1, 2), und, vom Gesichtspunkt der

 Überzeitlichkeit Gottes aus, ist uns somit seine Gnade schon „v o r den

 Zeiten der Zeitalter" geschenkt (2. Tim. 1, 9).

    4. Gott hat vor Grundlegung der Welt den Heilsrat der Gemeinde

 gefaßt. Der Wunderbau des „Leibes" war schon von Ewigkeit her vorn

 

    ") Grundfalsch ist die für das hier und an zehn anderen Stellen gebrauchte

 griechische Wort katabole zuweilen dargebotene Übersetzung „Herabsturz". Diese

 Bedeutung hat das betreffende Wort niemals in der griechischen Sprache. Die

 richtige Bedeutung ist „Herabsenkung der Fundamente, Grundlegung, Gründung"

 (vgl. 2, Mkk. 2,29; Hebr. 6, 1; Josephus, Porphyrius, Polybius, Plutarch). Der Sinn

 des Wortes hat nichts mit dem Ereignis von 1. Mose 1,2 zu tun. Vgl. W. Bauer,

  Griech.-deutsch. Wörterbuch zum Neuen Testament; 1925.

 

 

 

 

22       Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?

 

Erlöser beschlossen. Schon „von den Äonen her" war darum auch das

Christusgeheimnis verborgen in Gott, „daß die aus den Nationen Mit-

erben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber seiner Verheißung in

Christo Jesu durch das Evangelium" (Eph. 3,9; 6 Elb.).

  5. Gott hat von Grundlegung der Welt an den Seinen das Reich be-

reitet. Darum wird einst der König zu denen zu seiner Rechten sagen:

„Ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an"

(Matth. 25, 34), und darum ist auch die verborgene, geheimnisvolle Weis-

heit schon „v o r den Äonen" zu unserer Verherrlichung bestimmt

(1. Kor. 2, 7).

  6. Gott hat vor Grundlegung der Welt seinen Sohn zum Mittler des

Heilsratschlusses ersehen. Der Sohn ist das Lamm, ohne Flecken und

Fehl, zuvorerkannt, ehe der Welt Grund gelegt ward (1. Petr. 1, 20).")

  7. Der Sohn war aber schon von Ewigkeit her zum Erlösungswerk

willig. Darum war sein späteres Sterben am Kreuz ein Selbstopfer für

Gott „durch den e w i g en Geist" (Hebr. 9, 14), das heißt, durch den

ewigen Geist Gottes, in dem Christus auch sonst alle seine Taten vollzog

und in dem er zuletzt auch seine Selbsthingabe in den Tod — obwohl in

der Zeit ausgeführt — dennoch als eine überzeitliche Tat dem Vater dar-

brachte (vgl. Hebr. 13, 20).

  So steht hinter allem Zeitverlauf Ewigkeitsgeschichte. Die Unend-

lichkeit fließt hinein in die Zeit, wie die Zeit einst wieder einmünden

soll in die Ewigkeit. Dabei ersieht der Vater, nach ewigem Plan, den

Sohn als Erlöser zuvor und beschließt, ihn als höchste, unaussprechliche

„Gabe" (Joh. 3, 16; 2. Kor. 9, 15) in die zu errettende Welt zu „senden"

(Gal. 4, 4); zugleich aber bestimmt er, nach demselben ewigen Plan, ihm,

als dem Mittler des Heils, die Schar der Erlösten zum "Erbe" (Ps. 2, 8;

 

  13) Christus ist der Mittler der Weltschöpfung. „Denn in ihm ist alles geschaf-

fen worden, was im Himmel und auf der Erde ist" (Kol. 1, 16; Off. 3, 14; Joh.

1,3; vgl. 1. Mose 1, 1; 2).

  Er ist der Mittler der Welterhallung. Denn „er trägt das All durch sein All-

machtswort" (Hebr. 1,3; Kol, I, 17).

  Er ist der Mittler der Welterlösung. Denn „es war das Wohlgefallen der gan-

zen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen"

(Kol. 1,19; 20; Eph. 3, 11; 1.4; Hebr. 1, 2; 1. Petr. 1,20).

  Er ist der Herr des Weltgerichts; denn „alles Gericht hat der Vater dem

Sohne gegeben" (Joh. 5, 22).

 

 

 

 

              Der vorweltliche Erlösungsratschluß

23

 

Eph. 1, 4). So wird der Sohn die Gabe des Vaters an die Welt, und die

Welt, soweit sie erlöst ist, wird zur vorzeitlichen Gabe des Vaters an

den Sohn (Joh_ 17, 6; 9; 24). Deshalb kann dieser auch in seinem Hohen-

priesterlichen Gebet die zu seiner Erdenzeit noch nicht Wiedergeborenen,

aber einst später zum Glauben kommenden als solche bezeichnen, die

ihm der Vater schon damals gegeben hat (Joh. 17, 24 vgl. 20), und Paulus

kann sagen: „Die er gerechtfertigt hat, denen hat er auch die Herrlichkeit

verliehen" (Röm. 8, 30).

   Die geschichtliche Entfaltung dieses ewigen, innergöttlichen Er-

lösungsratschlusses sind dann die Bundesschließungen und Testamente

Gottes an die Menschheit, deren Ziel der „ewige Bund" ist, den das Blut

des Gottessohnes eingeweiht hat (Hebr. 13, 20). „Vater, ich will, daß, wo

ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast" (Joh. 17, 24).

   Aber nicht zur Befriedigung neugierigen Vorwitzes stehen alle diese

gewaltigen Worte in der Schrift, auch nicht nur zur lehrhaften Vervoll-

ständigung unseres heilsgeschichtlichen Weltbildes, sondern um uns die

Größe der göttlichen Liebe zu zeigen. Schon v o r allen Zeitaltern hat

sich der Höchste mit deiner und meiner Verherrlichung beschäftigt!

E h e noch das Meer wütete und wallete, e h e die Erde gebaut und ihre

Grundfesten eingesenkt wurden, ja e h e jene Morgensterne jubelten und

jene Gottessöhne jauchzten: da hat Gott, der Allmächtige, schon an

mich gedacht! An mich, den Erdenwurm, der ich ihm mit all meinen

Sünden so viel Mühe und Arbeit gemacht habe, an mich, er, der Gott der

Urzeit! \Vahrlich, das sind Tiefen, die nie zu ergründen sind und die zu

beschreiben jedes Menschen Herz und Wort versagt. Hier können wir

uns nur niederbeugen und anbeten und ihm, dem Alliebenden, unser

Leben zu Füßen legen.

 

         

 

2. Kapitel: Die Weltschöpfung

 

  „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Mit dem Wort seiner

Macht rief er Sonnen- und Sternensysteme hervor. „Er sprach: Da ge-

schah es; er gebot: Da stand es da!" (Ps. 33, 9 vgl. V. 6).

 

      I. Der Ursprung der Weltschöpfung

  W a r u m Gott überhaupt eine Welt schuf, vermag niemand zu

sagen. Als der absolut „selige Gott' (1. Tim. 1, 11) ist er um seiner

selbst willen da, genügt ewig sich selbst und bedarf nicht eines anderen,

der für ihn da wäre. 'Wohl ist er die Liebe, und Liebe braucht wesens-

notwendig einen Geliebten, ein anderes Ich, auf das sie sich liebend er-

streckt. Aber dies andere Ich war in Gott schon ewig vorhanden. Im

Sohne gelangte die göttliche Liebe schon anfangs- und endlos zu völliger

Entfaltung und restloser Befriedigung. „Du hast mich geliebt vor Grund-

legung der Welt" (Joh. 17, 24). Darum ist das einzige, was hier gesagt

werden kann, dies: Gott hat die Welt geschaffen, weil er sie schaffen

w oll t e. Sicher ist zwar sein Wollen und seine Freiheit nicht unbe-

herrschte Willkür, so daß auch der Schöpfungsentschluß aus ewigen,

innergöttlichen Gründen hervorgegangen sein muß; aber welche diese

sind, hat uns Gott nicht geoffenbart, und damit müssen wir uns beschei-

den (Röm. 11, 33; 34).

 

       II. Der Zweck der Weltschöpfung

  Deutlicher ist in der Schrift die Frage beantwortet, wozu Gott die

Welt schuf.

  1. Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Alles, was

Gott tut, hat ewig ihn selber zum Ziel; es geschieht „um seines Namens

willen" (Ps. 23, 3), durchaus für ihn selbst (Eph. 5, 27), „zum Preise seiner

Herrlichkeit" (Eph. 1, 6; 12; 14), „auf daß Gott alles sei in allen" (1. Kor.

15, 28). Denn weil Gott, kraft seiner Vollkommenheit, stets das Höchste

wollen muß, und selber, infolge seiner Göttlichkeit, der Höchste ist, muß

 

 

 

 

 

             Der Zweck der Weltschöpfung

 

25

 

er stets den Inhalt seines eigenen Wesens zum Ziel seines Wollens haben.

 Darum muß auch sein Werk so eingerichtet sein, daß es zu i hm hin sei

 und in i h m sein Ziel habe. Der Zweck der Weltschöpfung muß also in

 der Entfaltung, Darstellung und Offenbarung der Herrlichkeit Gottes

 bestehen. Er selbst ist ihr Anfang, ihre Mitte und ihr Endziel, der Erste

 und der Letzte, das A und das 0 (Röm. 11, 36; Kol. 1,16; Hebr. 1, 2).

   2. Offenbarung der Liebe Gottes. Dieser Selbstverklä-

 rungsplan Gottes muß aber ein vollkommener sein und sich darum in

 doppelter Weise entfalten. Nicht nur seine Allmacht, Allgegenwart und

 Allwissenheit, sondern auch seine Gerechtigkeit, Liebe und Wahrhaftig-

 keit müssen in die Erscheinung treten. Ersteres kann zwar schon im

 Räumlichen und Dinglichen geschehen, das heißt im Mineralreich, Pflan-

 zen- und Tierreich; letzteres aber erfordert die Schaffung sittlich freier

 Persönlichkeiten, also ein Geist esreich innerhalb der Kreatur. Da aber

 gerade das Heilige das eigentlich Wesenhafte an Gott ist, muß auch in

 seinem Weltplan im Sittlichen der höhere Zweck des Stofflichen liegen,

 und der Hauptgrund des ganzen Schaffens einer Welt muß die Verklä-

 rung der sittlichen Eigenschaften Gottes als des Heiligen, Seligen

 und Weisen in der Schöpfung sittlich freier Persönlichkeiten sein. Erst

 in ihnen — nämlich in den Engeln und den Menschen — kann sich

 Gottes Selbstverklärung geschöpflich vollenden.

    Das Wesen eines solchen Geisteslebens und überhaupt das Wesen

 aller wahren Sittlichkeit ist aber nicht etwa nur sachliche Gesetzesaus-

 führung und bloße, rein rechtliche Freiheit von Sünde und Schuld, son-

 dern personhaft organische Anteilnahme an dem sittlichen Leben der

 Gottheit selbst. Denn Gott, als der oberste Gesetzgeber, hat die sittliche

 Weltordnung nach seinem Wesen bestimmt, und er ist Lieb e, voll-

 kommenste Liebe (1. Joh. 4, 16). Darum muß auch die sittliche Bestim-

 mung der freien Kreatur eine Bestimmung zur Liebe sein, und der

 oberste Endzweck der Weltschöpfung muß in der Selbstentfaltung und

 Selbstverklärung Gottes als des Vollkommenen, Heiligen und Liebenden

 durch Aufrichtung einer Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen Schöp-

 fer und Schöpfung bestehen. Das aber heißt: Gott hat die Welt ins Da-

 sein gerufen, um sie lieben zu können, und auf daß sie ihn wiederliebe.

 Sein Ziel ist fortan, sie zum ewigen Mitgenuß seiner Heiligkeit und Liebe

 und damit zur Seligkeit und Herrlichkeit zu führen (vgl. Röm. 8, 17).

 

 

 

26   Der göttliche Stempel auf dem biblischen Schöpfungsbericht

 

 Kein Wunder darum, daß bei einer so hohen Bestimmung der Welt-

chöpfung auch auf dem biblischen Schöpfungsbericht in besonderer

Veise der Stempel der Göttlichkeit liegt. Deutlich zerfallen die sechs

Tage" in zwei Dreiheiten, die in ihren Gliedern einander genau ent-

prechen.1) Am ersten Tage schuf Gott das Licht, am vierten die licht-

ragenden Gestirne; am zweiten die Luft und das Meer, am fünften die

7ögel in der Luft und die Fische im Meer; am dritten das Land und die

Tanzen, diese niedrigste Stufe des irdischen Lebens, am sechsten die

,andtiere und den Menschen, diese höchste Stufe des irdischen Lebens.

)as Werk der sechs Tage trägt also unverkennbar das Gepräge der gött-

ichen Dreizahl. Es holt, nachdem es in drei sich steigernden Schöpfer-

mpulsen bis zu einem gewissen Höhe- und Ruhepunkt gelangt war, von

[euern aus und beginnt, zum Ausgangspunkt zurückkehrend, gleichsam

•on vorn, um wiederum in dreifacher Steigerung sein Ziel zu erreichen.

 der Schöpfung des Lichts fängt es an, mit der Schöpfung der Lidfiter

etzt es sich fortla) So aber wird diese doppelte Dreiheit eine tiefe,

ahlensymbolische Prophetie von dem Ursprung, Charakter und Ziel der

;rdwelt überhaupt. Alles ist von ihm, durch ihn und zu ihm hin. In allem

will e r sich verklären. Alles soll göttlich sein.

 

       III. Die Größe der Weltschöpfung

 1. Die Heerschar der Stern e. Unermeßlich und weltenweit

st der Gesichtskreis der Bibel. Sie redet nicht nur von Erde und Zeit,

ondern vor allem von Himmel und Ewigkeit, und die obere Welt be-

chreibt sie als eine Vielheit himmlischer Sphären. „Die Himmel und

Her Himmel Himmel mögen dich nicht fassen" (1. Kön. 8,27)2) Weit

lavon entfernt, in der kleinen Erde etwa „die Welt" zu sehen, die den

nathematischen Mittelpunkt und Hauptinhalt der ganzen Schöpfung

 

 1) Die erste Dreiheit enthält die Werke der Scheidung (des Lichts von

ler Finsternis, der oberen Wasser von den unteren, des trockenen Landes vom

leer). Die zweite Dreiheit enthält die Werke der Belebung und Aus-

chmück u n g (Sonne, Mond und Sterne; Fische und Vögel; Landtiere und

4ensch).

 la) Vgl. Franz Delitzsch, Kommentar über die Genesis, Leipzig 1860, S. 88f.

 2) So ist auch das hebräische Wort für „Himmel" stets eine Mehrzahlforrn,

die Himmel", ha-schamajim, wobei „im" die männliche Mehrzahlendung ist (vgl.

7herubim, Seraphim), Vgl. Eph. 4,10 („alle Himmel"); 2. Kor. 12, 2 (dritter

limmel).

 

 

27

           Die Größe der Weltschöpfung

 

ausmache, sind ihr die Völker vielmehr „wie ein Tropfen am Eimer",

wie ein „Sandkorn", das in der Waagschale bleibt (Jes. 40, 15); die In-

seln sind ihr wie „Stäubchen", und die gesamte Menschheit wie „Heu-

schrecken" (Jes. 40, 22). Ja, die ganze Erde ist ihr wie eine „Fußbank" am

himmlischen Thron (Matth. 5, 35; Apg. 7, 49).3) Niemand aber wäre so

töricht zu meinen, daß die Fußbank der Mittelpunkt eines Palastes sei,

oder daß der Schemel am Königsthron diesen an Größe und Bedeutung

überträfe! Nein, „alle Völker sind wie ein Nichts vor ihm" (Jes. 40,17).

„Wenn ich anschau' den Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond

und die Sterne, die du bereitest: Was ist der Mensch, daß du sein ge-

denkst, und der Erdensohn, daß du ihn beachtest?" (Ps. 8, 4; 5).

  Schon die Größe unserer eigenen Erde übersteigt alles Denken.

Sämtliche Menschenbauten der Welt, alle Schiffe, Städte und Dörfer,

würden, zusammengenommen, noch nicht einmal drei Kubikmeilen aus-

machen.{) Die Erde aber hat über 2600 Millionen solcher Kubik-

meilen! Und doch ist sie selber im Wirbel der Gestirne nur ein astro-

nomisches Atom, nur ein winziges Stäubchen im Sonnenozean des Welt-

alls! Allein schon im riesigen Glutball der Sonne hätte sie über eine und

eine Viertel Million mal Platz;') und wollte ein Schnellzug ohne Unter-

brechung in rasender Fahrt von hier bis zur Sonne gelangen, so brauchte

er über 168 Jahre dazul

  Die Sonne selber aber ist auch nur ein Stern inmitten einer gewal-

tigen, kugelförmigen Gruppe von 400 Sternen,') und hier sind die Ent-

fernungen noch unermeßlicher. Allein bis zu unserer allernächsten Nach-

barsonne, dem Fixstern „Alpha Centauri",8) braucht das Licht, das doch

in einer einzigen Sekunde siebenmal die Länge des ganzen Erdäquators

 

  3) „Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße"

(Jes. 66, 1).

  ') F. Bettex errechnet sogar nur eine Kubikmeile (Natur und Gesetz, 1923,

S. 46).

  5) Genauer 1 297 000mal.

  °) Die Erd-Sonnen-Entfernung ist 149,5 Millionen Kilometer

  7) Da die Anordnung der mit bloßem Auge sichtbaren, näheren Sterne „in

keiner erkennbaren Beziehung zur Milchstraße steht, müssen alle diese Sterne

einen großen, nahezu kugelförmigen Sternhaufen bilden, zu dem auch unsere

Sonne gehört" (Prof. Klein, Die Welt der Sterne, 1919, S. 95) und der (nach Prof.

Riem, Natur und Bibel, 1911, S. 42) aus ungefähr 400 Sonnen besteht.

  8) Am südlichen Sternhimmel.

 

 

 

 

 

 

 

 

28            Die Heerschar der Sterne

 

 

Fliegt') mehr als vier Jahre und drei Monate! Und zum Stern 61 im

Schwan,- unserem drittnächsten Fixsternnachbar, müßte der schnellste

Eisenbahnzug der Welt 80 Millionen Jahre fahren.") Und doch stehen

die Sterne in einem solchen Sonnensternhaufen, verglichen mit den stern-

losen Abgründen des eigentlichen Weltraums, noch ungemein eng bei-

einander! Das beweist schon dem stern- u n kundigen, nächtlichen Wan-

derer das dicht Nebeneinander-Gedrängtsein der diamantartig blitzenden

Lichtpünktlein im Sternbild der Plejaden, unweit des Orion, die einen

ähnlichen Sternhaufen bilden, wie der „unsrige".") Wie funkelt hier

Stern neben Stern! Ja, die photographische Platte zeigt hier auf einer

Fläche des Himmels, die nicht größer ist als die Mondscheibe (!!), 1681

Sterne und in der weiteren Umgebung noch ungefähr 5000 anderen

 Und doch sind diese geradezu zu nichts zusammenschrumpfenden Ent-

fernungen zwischen den einzelnen Sternen Milliarden und Abermilliarden

von Kilometern! Und daneben — beginnt erst der „Welt"-raum!

  Was müssen aber das erst für Strecken sein, die hinter und zwischen

solchen Sterngruppeninseln liegen, bis wir endlich zu dem eigentlichen

Hauptring der Milchstraßenspirale gelangen, die mit ihrem hundertmil-

lionenfachen „Sternenstaub" das Auge des Erdenbewohners entzückt!

Und dann folgen, nach weiteren, unermeßlichen Fernen, noch andere

Milchstraßensysteme, wie das Andromeda-Weltall mit seinen unzähligen

Sonnen oder gar der unergründliche Spiralnebel H 156 im Sternbild des

Großen Löwen, dessen Entfernung man auf über 500 000 Lichtjahre

schätzt!`) Ja, wahrlich, dies alles zusammengenommen beweist, daß die

Sterne im 'Weltall so dünn verteilt sind, wie wenn man auf Erden alle

 

  9) Die Sekundengeschwindigkeit des Lichtstrahls ist 300 000 Kilometer; der

Äquator der Erde ist 40 000 Kilometer lang.

  ") 9,7 Lichtjahre. Vgl. Klein, a. a. 0. S. 31.

  11) „Der prächtige Anblick, den die Plejaden in einem Fernglase darbieten,

wird noch erhöht, wenn man weiß, daß diese gleich funkelnden Diamanten auf

dem dunklen Himmelsgrunde leuchtenden Sterne ein großes Sternsystem für sich

bilden. Dies ist erwiesen durch die Tatsache, daß alle Sterne dieses Haufens sich

gemeinsam durch den Weltraum fortbewegen, während zugleich auch Bewegungen

ihrer einzelnen Glieder um den gemeinsamen Schwerpunkt der ganzen Gruppe

stattfinden", so daß die Plejaden also nicht nur ein scheinbarer Sternhaufen, son-

dern eine wirk) iche, räumlich zusammenhängende Fixsterngruppe

sind (vgl. Klein, a. a. 0. S. 66).

  ") Klein, a. a. 0. S. 66.

  13) G. Wolf, Die Milchstraße, Leipzig 1908.

 

 

 

 

 

 

            Der Weltrahmen der Heilsgeschichte

 29

 

30 bis 100 Kilometer einen einzigen Stecknadelkopf anträfe,") oder als ob

man einen Liter Wasser über die ganze Oberfläche der Erde, das heißt

auf über 510 Millionen Quadratkilometer, aussprengen wollte!") Und

vergessen wir bei dem allem nicht: Diese „Wassertröpfchen" und „Steck-

nadelköpfe" von einem Millimeter Durchmesser sind jene Glut- und

Feuerwelten mit Millionen mal Millionen Quadratkilometern Oberfläche

und einem Rauminhalt, der selbst eine Trillion, das heißt, eine Milliarde

mal einer Milliarde Kubikkilometer noch um Hunderttausende von Mil-

lionen mal Millionen übertrifft!")

   Das Ganze aber ist der die gesamte Schöpfung umspan-

nende Weltrahmen der Heilsgeschichte. „Der HErr hat

seinen Thron in den Himmeln errichtet, und sein Königtum herrscht

über das All" (Ps. 103, 19). Erst im Zusammenhang mit der Sternenwelt

wird uns der Umfang des göttlichen Heilsrates bewußt. Darum: Stellen

wir die Heilsgeschichte der Bibel in den Flammengoldgrund ihrer Welt-

all-Obergeschichte. Erst dann wird auch ihr Mittel- und Brennpunkt, das

Kreuz von Golgatha, richtig gewürdigt. Dann wölbt sich das ganze Welt-

all über dem Kreuz. „Der Fuß des Kreuzes bleibt auf der Erde, aber

sein Haupt taucht in die Ferne der Sternenwelten mit ihrer Allgeschichte

hinein."17) Und überwältigt ,vernehmen wir weiter die Verheißung des

HErrn: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es ist eures Vaters

Wohlgefallen, euch (1) das Reich (!!) zu geben" (Luk. 12, 32). „Hebet

zur Höhe eure Augen empor und sehet: wer hat diese da geschaffen? Er,

 

   ") Prof. Schwarzschild, bei Riem a. a. 0. S. 71.

   ") Riem a. a. 0. S. 72.

   ") So ist z. B. bei unserer Sonne der Durchmesser 1 390 000 Kilometer, die

Oberfläche 6 Billionen und 70 000 Millionen Quadratkilometer und ihr Rauminhalt

1 Trillion und 406 000 Billionen Kubikkilometer. — Zu der Frage, wie bei solchen

Größenverhältnissen unsere winzige Erde, wenn auch nicht stofflich und räumlich,

so doch sittlich und heilsgeschichtlich der Mittelpunkt des Weltalls sein könne,

bemerken wir mit Dr. von Gerdtell: „Sedan ist als Ortschaft unbedeutend; aber

es ist doch durch die Entscheidungsschlacht Wilhelms I. gegen Napoleon III. welt-

berühmt und ein Hauptwendepunkt der europäischen Geschichte geworden. Es

ist somit zu einer geschichtlichen Bedeutung gekommen, die in keinem Verhältnis

zu seiner geographischen steht." Auch sonst zeigt die Weltgeschichte gar oft, daß

Orte, in denen die gewaltigsten Kämpfe von jahrhundertelanger Bedeutung aus-

getragen worden sind, in sich selber, nach Lage und Größe, ganz klein und unbe-

deutend gewesen waren (vgl. auch S. 103).

   17) v. Gerdtell, Ist das Dogma von dem stellvertretenden Sühnopfer Christi

noch haltbar? Eilenburg 1908, S. 16.

 

              Die Heerschar der Engel

 

30

 

  ihr Heer herausführt nach der Zahl, der sie alle mit Namen ruft"

es. 40, 26). „Herr der Heerscharen ist sein Name" (Jes. 51, 15).

  2. Die Heerschar der Engel. Aber wozu diese Welten im

.therraum? Hat Gott etwa Gefallen am toten Stoff? Ist er nicht der

;ott der Lebendigen? Kann etwa unbeseelter Stoff ihn, den Herrn alles

ebens, lobpreisen? Oder ist nicht vielmehr das Sternenall Gottes welt-

zeit mit persönlichem Leben erfüllt?

  In der Tat: Wenn nur unsere kleine Erde, dieses Stäublein im Sonnen-

virbel des Weltalls, organisches Leben trüge, „dann stünden ihr Mil-

ionen von toten Gestirnkolossen sinnlos gegenüber. Dann wäre das•

ingeheure All eine grenzenlose, erstorbene Wüste, in der nur auf der

Ninzigcn Erde, als wunderlicher Ausnahme, die einsame Blume des

Lebens blühte".") Dann wäre der Feuerglanz der Millionen von Sonnen,

die doch nichts beleuchteten, nur „ein großes, sinn- und zweckloses Feuer-

werk im toten Weltraum",") und alle Gestirne und Weltkörper wären

nur brennende oder ausgebrannte Krater!

  Ganz anders redet die prophetisch-apostolische Weltanschauung der

Schrift. Sie weiß von Thronen und Herrschaften, von Fürstentiimcrn und

Gewalten (Kol. 1, 16), von Gottessöhnen und Morgensternen (Hiob 38. 7),

von der Heerschar der Höhe in der Höhe (Jes. 24, 21), von Cherubim und

Seraphim (Off. 4, 6-8; Jes. 6, 2; 3), von Erzengeln und Engeln (Jud. 9;

Off. 5, 11 ; 12, 7). Und diese alle nennt sie mit dem s e 1 b en Wort „Heer-

schar des Himmels" wie auch die Stern en

  Schon diese Zusammenschau und Zusammenbenennung gibt uns ein

Ahnen einer tieferen Beziehung. Denn wie könnten anders die „Morgen-

sterne" jubeln und gleichzeitig, zusammen mit den „Gottessöhnen",

jauchzen (Hiob 38, 7)? Wie könnte das Sternenall Gottes den Schöpfer

anbeten? -Wird der Staub ihn preisen? Wird er seine Wahrheit verkün-

den? Aber „du bist, der da ist, du, HErr, allein! Du hast die Himmel

 

  18) v. Gerdtell, a. a. 0. S. 97. lind doch gibt es schon auf der Erde über 200 000

Pflanzenarten, dazu noch 300 000 Pilzarten, ferner 80 000 Käferarten (Bettex,

Zweifel? 1922, S. 7; Natur und Gesetz, 1923, S. 131), 200 000 Schmetterlingsarten

(Prof. Dennert), und die Gesamtzahl aller Lebe-Arten ist über 2 Millionen.

  ") Vgl. Bettex, Symbolik, 1922, S. 201-210.

  ') So bezeichnet der Ausdruck „Herr des Himmels" in 5. Mose 4, 19; Jes.

34,4; Jer. 8, 2 die stofflichen Sterne, in 1. Kön. 22,19; Luk. 2,13; Off. 19,14 die

Engel; an anderen Stellen bedeutet er beide zugleich (z. B. Ps. 148, 1-6; Jes. 24,

21-23; 40, 26; Hiob 38,7).

 

 

               Die Engelwelt       

 

 

 

 31

 

gemacht, der Himmel Himmel und all ihr Heer, die Erde und alles, was

darauf ist ... Und du machst dies alles lebendig, und das Heer des Him-

mels betet dich an!" (Neh. 9, 6). Und wie könnte anders der Psalmist

im gleichen Zusammenhang mit den Engeln auch die Sterne zur

Lobpreisung Gottes auffordern?

      „Lobet den HErrn von den Himmeln her,

      Lobet ihn in den Höhen!

      Lobet ihn, alle seine Engel.

      Lobet ihn, alle seine Heerscharen!

      Lobet ihn, Sonne und Mond!

      Lobet ihn, alle ihr leuchtenden Sterne!" (Ps: 148, 1-3.)

  Nein, dies alles ist mehr als nur dichterischer Schwung! Es beweist

uns für Engel und Sterne eine nicht nur redebildlich vergleichende, son-

dern tatsächliche und wirkliche Beziehung, eine Beziehung, die uns im

einzelnen allerdings noch undurchschaubar ist. Dies eine jedoch

erkennen wir jetzt schon: Die Engel nehmen in ungezählten Heerscharen

(Luk. 2,13), teils einzeln (Apg. 5, 19), teils in organisierten Körperschaften

(Off. 12, 7; Kot. 1, 16) an der menschlichen Heilsgeschichte teil. In diesem

Sinne sind sie

     Zuschauer unseres Wandelsn

     Boten unseres Königs,")

     Helfer in unsern Notlagen,")

     Kämpfer für unsern Endsieg,")

     Wächter der göttlichen Weltordnung,")

     Vollstrecker der göttlichen Gerichte,")

     Anbeter der göttlichen Erlösungstaten.")

  3. 1)er Thron Gotte s. Und doch! Alles „Sichtbare ist vergäng-

lich", nur „das Unsichtbare ist ewig" (2. Kor. 4, 18). Die Sterne aber sind

sichtbar und werden darum „vergehen". „Sie werden alle veralten wie

 

  21) 1. Kor. 4, 9; Eph. 3, 10.

  22) Luk. 1,11; Matth. 1,20; Dan, 9,22; Off. 1, 1; 22, 6; 16; Hebr. 2, 2. Daher

das Wort „Engel", griechisch angelos von angello: ich schicke, ich sende.

  '3) Hebr. 1,14; Apg. 12, 7; Dan. 3, 25; 27; 6,23; 2. Kön. 6, 17 (Luk. 22, 43).

  24) Dan. 12,1; Off. 12, 7-9; 19,11-14; Dan. 10,13; 20.

  '5) Dan. 4,14; 20; 1. Kor. 11,10.

    Jes. 37, 36; Apg. 12, 23; Matth. 13, 39; Off. 14, 19; 15, 1; 6; 7; 17, 1.

  27) Luk, 2,13; 14; 15,10; 1. Petr. 1,12.

 

 

 

 

32            Der Thron Gottes

 

3in Gewand, und wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen" (Ps.

102, 27; Hebr. 1, 12). Die ewige Welt Gottes muß darum noch höher sein,

weit über den Sternen, im U n sichtbaren über allem Sichtbaren.

 Dort ist der Thron Gottes, dort die Wohnstätten der Engel, dort

das himmlische Jerusalem, welches unser aller Mutter ist (Gal. 4, 26).

Dorthin wurde auch Christus „über alle Himmel" erhöht (Eph. 4, 10) und

ist nun zur Rechten des Vaters „höher als die Himmel geworden" (Hebr.

7, 26). Dort wohnt der Allerhöchste als der Lichtquell aller Welten, und

von ihm strahlt alles Leben in die Schöpfung hinaus (Apg. 17, 28).

 Der Gedanke an eine solche Thronhöhe im Weltall muß dem nach-

denkenden Geist bald einleuchten. Die gesamte Schöpfung ist beherrscht

von dem Gesetz der Steigerung. Wohl ist Gott allgegenwärtig und durch-

dringt mit seinem Leben die ganze Kreatur (1. Kön. 8, 27; Apg. 17, 28;

Kol. 1,17). Dies schließt aber nicht aus, daß es über allen Gefilden des

Lichts noch einen besonderen Lichtgipfel gibt, in dem sich seine Herrlich-

keit am vollkommensten entfaltet. Schon im Stein blitzt ein Abglanz

des göttlichen Gedankens auf, noch schöner in der Rose, noch ergreifen-

der im Lied der Nachtigall, noch geistiger im Menschenauge; und unter

den Menschen: welch Stufenunterschied zwischen dem geringsten und

elendsten, bis hin zu dem Schönsten der Menschenkinder, in welchem die

Fülle der Gottheit wohnt! So gibt es auch auf Erden Wüsten und Ein-

öden mit keinem Bewohner, unwirtliche Gegenden mit nur wenigen,

fruchtbare mit vielen, schöne und schönste Gegenden mit der höchsten,

irdischen Lebensfülle. Ebenso in den himmlischen Räumen; es gibt kleine

und große Sterne, kalte und heiße, finstere und strahlende; es gibt ge-

führte und führende Planeten und Sonnen, Abgründe des Raums und

Sonnenfamilien; und so gibt es auch über dem allen einen Zentral punkt

des Weltalls, einen Ort unmittelbarster Gottesgegenwart, eine Stätte

konzentriertester Lichtherrlichkeit, eben den Thron Gottes.")

 Aber das Licht, in dem E r wohnt, ist höher als alles Sichtbare; es

ist anders als aller Sonnen und Sterne Glanz. Es ist unerschaubar dem

irdischen Auge; es ist „unzugänglich" (1. Tim. 6, 16), allem Diesseitigen

entrückt (2. Kor. 12, 4).

 Nur die Engel im Himmel können es schauen (Matth. 18, 10), nur die

 

 ") Vgl. J. P. Lange, Das Land der Herrlichkeit, Bielefeld 1863, S.64. — Sonst

wäre ja auch die Himmelfahrt Christi nur eine Unsichtbarwerdung, nicht aber

eine „Himmelfahrt" (Mark 16, 19; Kol. 3, 1).

 

            

 

 Die Jenseitigkeit des Ewigen

 

33

 

Geister der Vollendeten im ewigen Licht (r'1atth. 5, 8; 1. Joh. 3, 2; Off.

22, 4), nur die Reinen und Heiligen, gleichwie er selber der Reine ist

(1. Joh. 3, 2; 3).

   Darum kann es hienieden vom Himmlischen nur Bildersprache geben.

Auch das „Oben"-sein des Ewigen ist nicht rein räumlich zu verstehen

(Ps. 139). Es ist die sinnhafte Veranschaulichung der Jenseitigkeit des

Göttlichen. Es ist die raumsymbolische Darstellung der Erhabenheit des

Überräumlichen. Darum versinnbildlicht auch die Bibel dies „Über" durch

das „Ober", das geistig Überlegene durch das räumliche Höherliegen, das

„Übeezeitliche und „Über"räumliche durch das sinnhafte „Ober"räum-

liehe. Und weil Gott der Herr des Himmels, zugleich der Vollkommenste

und Allerhöchste ist, greift auch die Bibel in ihren Sinnbildern zu dem

Kostbarsten auf Erden und redet in Edelsteinsprache von dem Lichtthron

seiner Herrlichkeit.

      Von himmlischem Wesen spricht der blaue Saphir (2. Mose 24,

   10; Hes. 1, 26),

      von Heiligkeit und Licht der kristallhelle Jaspis (Off. 4, 3 vgl. 21,

   11; Off. 4, 6; 15, 2; 22, 1),

      von Bundestreue und Belebung der grüne Regenbogen von Sma-

   ragd (Off. 4, 3; Hes. 1, 28).20)

   Wir aber beugen uns nieder und beten ihn an und sagen mit den

 Schlußworten der „Weltharmonie" des Kopernikus:

 „Groß ist unser HErr und groß seine Macht

 Und seiner Weisheit kein Ende.

 Preiset ihn, Sonne, Mond und Planeten,

 In welcher Sprache auch immer ein Loblied erklingen mag.

 Preiset ihn, ihr himmlischen Harmonien,

 Und auch ihr, die Zeugen und Bestätiger seiner enthüllten Wahrheiten,

 Und du, meine Seele, singe die Ehre des HErrn dein Leben lang! Amen."

 

 

 

 

 

 

 

 

   `) Grün ist schon im Altertum das Sinnbild des Lebens (so in Ur in Chaldäa

 um 2000 v. Chr.).

 3 Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung

 

      

 

 3. K a p i t e l: Der Ursprung des Bösen

34

  Und doch! In diese Welt, die zum Höchsten bestimmt war, die der

Schöpfer dazu berufen hatte, ein Gefäß seiner Herrlichkeitsoffenbarung

zu werden, ist ein Riß eingetreten. Die zusammenklingende Harmonie

der Sphären ist durch einen grellen Mißton zerstört. Die Sünde ist auf-

getreten und hat sich Gottes heilig liebenden Selbstverk-lärungsplänen

frevelnd entgegengestellt. Durch die Sünde der Menschheit ist hier unten

die Erde verheert (1. Mose 3, 17; 18; Röm. 8, 20), und in der Himmelswelt

droben hat sich, wie die Versuchungsgeschichte der Bibel voraussetzt,

schon vor dem Fall der ersten Menschen ein Sündenfall unter den Engeln

ereignet (1. Mose 3, 1-7; 2, 15).')

  Wie dies jedoch möglich war und warum Gott es zuließ, vermag

niemand zu sagen. Der Ursprung des Bösen bleibt ewig ein Geheimnis.

Auch die wenigen Andeutungen, die die Schrift darüber gibt, führen über

ein Ahnen nicht hinaus.')

 

           I. Satan vor dem Fall

  Gottes weltenumspannender Schöpfungsstaat ist, wie es scheint, in eine

Anzahl von Provinzen eingeteilt, deren stoffliche und geistige Organisa-

tion je einem bestimmten Engelfürsten, gleichsam als Statthalter Gottes,

anvertraut ist.2) So gibt es Engel für Kinder (Matth. 18, 10), für Erwach-

sene (Apg. 12, 15), für ganze Länder und Nationen, wie Persien (Dan. 10,

13), Griechenland (Dan. 10, 20), Israel (Dan. 10, 21; 12, 1)1 Dies setzt

voraus, daß es — sowohl in der Welt des Lichtes als auch in der Welt

der Finsternis — Engelorganisationen gibt, die, je nach der Größe des

betreffenden Gebietes, nach verschieden hohen Rangstufen') in gewisse

 

  1) Näheres zu der Frage: „Warum hat Gott den Sündenfall zugelassen?" In

E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940, S. 26-36.

  ') Ebenso z. B. Bettex, Symbolik, S. 146; 152. Haarbeck, Biblische Glaubens-

lehre. Elberfeld 1930, S. 57.

  3) Hierin liegt der Wahrheitskern des nationalen Polytheismus (Vielgötterei).

  ') So redet die Schrift z. B. von dem „Erzengel" Michael und „seinen" Engeln

'wie auch von dein Drachen und „seinen" Engeln (Off. 12, 7).

 

              

 

Satan vor dem Fall    

 35

 

Herrschaftsbezirke eingesetzt sind. In der Tat spricht Paulus von „Thro-

nen, Herrschaften, Fürstentümern und Gewalten" nicht nur in der sicht-

baren, sondern auch in der unsichtbaren Welt (Kol. 1, 16; Eph. 1, 21).

  Solch ein besonderer Fürst Gottes muß auch Satan vor seinem Fall

gewesen sein. Aus seiner Machtstellung, die er noch in der jetzigen Zeit

innehat, ist zu schließen, daß ihm — jedenfalls vor seinem Fall — ein

gewaltiges Gebiet zur Beherrschung rechtmäßig übergeben worden war,

und die Tatsache, daß er gerade auf der Erde wirkt, legt den Gedanken

nahe, dies Gebiet sei die Erde und die sie umgebende Luft- bzw. Äther-

region gewesen.5)

   Dies findet nun auch wirklich im Worte Gottes seine Bestätigung.

Der HErr Jesus selbst bezeichnet Satan als den „Fürsten der Welt" (Joh.

14, 30).e) Paulus nennt ihn den „Fürsten über die Mächte der Luft"?)

Als Satan in der Versuchung dem HErrn alle Reiche dieser Erde anbot

und dabei sagte: „Dir will ich diese ganze Macht mit ihrer Herrlichkeit

geben; denn mir ist sie verliehen (oder „übergeben") worden, und ich

kann sie geben, wem ich will",9) hat der HErr diese Vollmacht auch inso-

fern anerkannt, als er es dem Teufel nicht bestritt, gegenwärtig über die

Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit verfügen zu können (Matth. 4, 8--

10). Und wenn es in der Offenbarung in bezug auf die Endzeit der gegen-

wärtigen Haushaltung heißt: „Die Herrschaft über die Welt ist an unsern

HErrn und seinen Gesalbten gekommen, und er wird als König in alle

Ewigkeit herrschen" (Off. 11, 15 vgl. 19, 6), so liegt in diesen Worten

ebenfalls das Zeugnis, daß das Reich der Welt bis zu jenem Augenblick

unter der Botmäßigkeit eines andern, eben des „Fürsten dieser Welt",

steht. Nun verstehen wir auch, warum der Erzengel Michael bei seinem

Streit mit dem Teufel um den Leib des Mose nicht wagte, ein lästernde

Urteil über ihn auszusprechen, sondern nur sagte: „Der HErr strafe dich"

(Jud. 9). Ja, selbst noch nach Golgatha und Pfingsten dauert das Obrig-

keitsverhältnis Satans über seinen Weltbezirk fort; denn noch im Zeit-

 alter der Gemeinde bezeugt der Apostel Johannes: „Die ganze Welt liegt

 im Argen" (1. Joh. 5, 19), und Paulus spricht verschiedentlich von der

 ,,Obrigkeit" Satans (Apg. 26, 18; Kol. 1, 13; Eph. 2, 2), wobei er sich des-

 

   5) Ebenso Godet, Lukas-Kommentar 1872, S. 107.

   6) Vgl. Joh. 12, 31; 16, 11.

   7) Eph. 2, 2 vgl. Luk. 22, 53; Eph. 6, 12.

   8) Griechisch paradedotai.

   ') Luk. 4, 6.

 3.

 

 

 

 

 

36           Der Sündenfall Satans

 

selben Wortes bedient, mit dem er im Römerbrief die menschlichen Be-

hörden bezeichnet (gr. exousia Röm. 13, 1; 2), und somit zum Ausdruck

bringt, daß auch die Herrschaft Satans geradezu ein „Reich" ist (vgl.

Matth. 12, 26).

          II. Der Sündenfall Satans

  So muß denn einmal in der vorgeschichtlichen Ewigkeit ein Augen-

blick eingetreten sein, in dem dieser Weltfürst Gottes dem Höchsten

seine Lehnspflicht aufkündigte und somit aus einem „Lucifer", einem

„Lichtträger" der göttlichen Herrlichkeit") ein „Widersacher" Gottes

(hebr. „Satan")") und „Verleumder" seiner Heiligen (gr. „diabolos" =

Teufel)12) wurde. Von da an geht ein gewaltiger Riß durch den Kosmos,

und ein organisiertes Gegenreich des Bösen steht dem Weltenstaat Got-

tes gegenüber (Matth. 12,26). Satan als Herrscher hat wiederum Fürsten

und Gewalthaber unter sich (Dan. 10, 13; 20; Eph. 6, 12), und die Aus-

einandersetzung zwischen ihm und dem Reich Gottes ist fortan das

Thema und der Grundinhalt der in der Heiligen Schrift angedeuteten

Weltall-Obergeschichte.

  Den Fall dieses gewaltigen Lichtfürsten scheint, wie schon die Rab-

binen annahmen, die Schilderurig des gestürzten Königs von Babel bei

Jesaja bildhaft mit im Auge zu haben. „0, wie bist du vom Himmel

gefallen, du Glanzgestirn, Sohn der Morgenröte! ... Du dachtest in

deinem Sinn: ,In den Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über den Ster-

nen will ich meinen Thron aufrichten —, will mich dem Höchsten gleich

machen!' Nun aber bist du ins Totenreich hinabgestürzt, in den tiefsten

Winkel der Unterwelt" (Jes. 14, 12-15). Auch Hesekiel entlehnt, wie es

scheint, seine Bilder für die Beschreibung des Falles von Tyrus jenem

vorgeschichtlichen Urereignis: „Der du das Bild der Vollkommenheit

warst, voll von Weisheit und vollkommen an Schönheit, du warst ein

gesalbter Cherub, der da schirmt ... Unsträflich warst du in all deinem

 

  ") Lucifer lateinisch = „Lichtträger". Der Name „Lucif er" entstammt Jes. 14,

12 und ist zunächst ein bildlicher Ausdruck für den widergöttlichen König von

Babel, der aber seinerseits, wie es scheint, im Sinne des Propheten, ein Abbild

seines dämonischen Oberherrn, des Satans, ist.

  ") schatan hebräisch = Feind, Widersacher, ganz allgemein: 1. Kön. 11, 14;

23; 25; vor Gericht: Ps. 109, 6; in 4. Mose 22, 22 sogar vom „Engel des HErrn'.

  ") Von dia-ballo = hindurch-werfen, mit Worten „durchziehen", in feind-

licher Absicht beschuldigen, sowohl lügend (2. Makk. 4,1) als auch die Wahr-

heit sagend (Dan. 3, 8). — Lukas 16, 1 (vgl. Off. 12,10).

 

 

 

 

         Das Schweigen der Bibel über den Ursprung der Sünde

 37

 

Tun von dem Tage deiner Erschaffung an, bis Verschuldung an dir ge-

funden wurde. Dein Sinn war hochfahrend geworden infolge deiner

Schönheit. Du hattest deine Weisheit außer acht gelassen um deines

Glanzes willen" (Hes. 28, 12-15; 17).

    Im allgemeinen aber spricht die Heilige Schrift fast gar nicht von

diesem Fall Satans, in direkter Weise sogar niemals. Sie will, als die Ur-

kunde des Heils, dem Menschen, prophetisch-geschichtlich, den Weg zur

Erlösung zeigen, ihm aber nicht, philosophisch, das System einer Welt-

oder Ewigkeitsanschauung geben; denn wenn sie das wollte, würde kein

Mensch sie verstehen. Darum redet sie auch über den Ursprung des

Bösen nur hintergrundartig und mittelbar, nur in gelegentlichen, bild-

haften Andeutungen, niemals aber in direkten Belehrungen und nirgends

in zusammenhängender, unverhüllter Form. „Das Geheimnis ist des

 HErrn" (5. Mose 29, 29).13)

     In jedem Fall aber ist der Glaube an die Existenz eines persönlichen

 Teufels der Glaube Jesu und seiner Apostel (Matth. 4, 1-10; 12, 27; Luk.

 10, 18; Röm. 16, 20; 2. Kor. 11, 14; 15; Off. 12, 7-9; 20,2; 10). Wer diesen

 urchristlichen Glauben nicht teilt, kann unmöglich Jesus und seine

 Apostel verstehen. Der moderne Mensch steht der Teufelsidee jedoch

 meist schon deshalb von vornherein ablehnend gegenüber, weil er dabei

 fast immer sofort an die populär-schauerliche und albern-groteske

 Teufelsvorstellung des Mittelalters denkt. In Wahrheit aber ist Satan ein

 mit höchster Intelligenz begabtes, zwar gefallenes, aber nichtsdestoweni-

  ger überaus machtvolles Geistwesen, dessen Existenz philosophisch in

  keinerlei Weise angreifbar ist.")

 

                III. Ursünde und Weltgestalt

     Mit dem Fall Satans muß aber auch, wie der organische Zusammen-

  hang von Geist und Natur und die spätere Ähnlichkeit des menschlichen

  Sündenfalls — nur diese in kleinerem Umfange — beweisen (1. Mose

  3, 18), ein Sturz seines Herrschaftsgebietes verbunden gewesen sein.

  Welt- und Erdkatastrophen traten ein als Gegenwirkungen der Gerech-

 

     13) 1. Tim. 3, 7 und Luk. 10, 18 sind fast die einzigen deutlicheren Stellen, die

  vorn Fall Satans sprechen, und auch bei diesen ist es nicht ganz sicher. — 2. Petr.

  2, 4 und Jud. 6 beziehen sich, u. E., auf 1. Mose 6, 1-4.

     14) Vgl. den naturphilosophischen Beweis für das Dasein eines persönlichen

  Teufels in E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940, S. 63-72.

 

 

 

 

 38                      Ursünde und Weltgestalt

 

 

tigkeit Gottes gegen diese kosmische Revolution. Die Schöpfung wurde

der Eitelkeit unterstellt (Röm. 8, 20; 21).") Alles einzelne entzieht sich

unserer Kenntnis. Nur dies ist gewiß, daß Tod und Verderben in der

Pflanzen- und Tierwelt schon lange v o r dem Menschengeschlecht seit

undenklichen Urzeiten auf der Erde gewütet haben. Dies beweisen die

geologischen Schichten und die Entwicklungsphasen der vorweltlichen

Tierwelt auf das deutlichste. Die unter uns liegenden Erdschichten sind

geradezu „ein ungeheures Leichenfeld, das von seinem steinernen Acker

umschlossen ist" (J. H. Kurtz). Ja, viele Raubtiere der Urzeit waren

 schreckliche Ungeheuer von gefräßigster und todbringendster Zerstö-

 rungsge‘valt.")

     Damit stimmt auch das Zeugnis des Alten Testaments überein. Denn

 die darin berichtete Beauftragung des Menschen, den Paradiesesgarten

 nicht nur zu bebauen, sondern zu „bewahren", sowie die Tatsache seiner

 Versuchung durch eine gottfeindliche, lügnerische Gegenmacht lassen

 schon im Alten Testament erkennen, daß das Böse nicht erstmalig im

 Menschen, sondern schon v o r ihm in einem anderen Geschöpf vorhan-

 den gewesen ist, daß also schon v o r der Zeit des Menschen, v o r seinem

 Fall und der damit zusammenhängenden Verfluchung des Ackers, ein

 Riß und eine Disharmonie in der Schöpfung bestanden hat.

      Es hat gotterleuchtete Männer in alter und neuerer Zeit gegeben, die

 in diesem Zusammenhang die Vermutung ausgesprochen haben, das

 Sechstagewerk von 1. Mose 1 sei eigentlich ein Wiederherstellungswerk,

 nicht aber die erstmalige Erschaffung der Erde gewesen, und der Mensch

 habe ursprünglich die Aufgabe gehabt, als Diener des HErrn und Herr-

  scher der Schöpfung in sittlicher Auseinandersetzung mit Satan, die

  äußerlich wiederhergestellte Erde — durch Ausbreitung seines Geschlechts

  und seiner Herrschaft auf ihr — für Gott zurückzugewinnen.17) Dte

 

      15) Genaueres vergl. E. Sauer, Vorn Adel des Menschen, S. 73-80.

      ")., Ebenso bringt auch der Tübinger Paläontologe Prof. Dr. Frhr. V. Huene

  den Tod in der präadamitischen Schöpfung mit dem Fall Satans als des von Gott

  eingesetzten „Fürsten dieser Welt" in Verbindung.

      ") So sagt z. B. F. Bettex, der Mensch sollte ursprünglich „allmählich die

  ganze Erde als Vizekönig Gottes zurückerobern" (Natur und Gesetz, 1923, s. 215f.;

  Lied der Schöpfung, 1919, S. 57f.). Auch Prof. v. Huene, der ebenfalls die Resti-

  tutionstheorie vertritt, sagt, „daß vom Menschen aus die große Rückführungs-

  aktion der ganzen Schöpfung zu Gott ihren Ausgang nimmt. Im Menschen treffen

  sich Materie und Geist, Geist Gottes. Der Mensch Jesus Christus, Gottes Sohn,

 

      

 

 Das Sechstagewerk — eine „Wiederherstellung" der Erde?

 39

 

geologischen Perioden seien dann entweder v o r dem Sechstagewerk

gewesen und die „Tage" selbst seien als buchstäbliche Vierundzwanzig-

stundentage aufzufassen,") oder aber die „Tage" von I. Mose 1 seien

als Perioden zu deuten und mit den geologischen Entwicklungszeiten der

Erdgeschichte gleichzusetzen.ig) Auf diese Weise sei es dann auch mög-

lich, eine Vermittlung zwischen der biblischen und den modern natur-

philosophischen Weltentstehungslehren zu finden.") Andere wiederum

glauben, daß das Ganze ein einkeitlider, fortgesetzter Zusammenhang

sei — ohne eine besondere, dazwischen geschaltete Vollzerstörung und

„Wiederherstellung" der Erde —, ein einzige r, in unübersehbare

Schöpfungsperioden eingeteilter, ungeheurer Werdegang. In diesem sei

es dann auf irgendeine Weise — die die Naturwissenschaft erforschen

mag — unter göttlicher Leitung und, wie es scheine, seit dem Fall Lu-

 

hat den Entscheidungskampf gegen Satan siegreich geführt, und die Konsequenzen

desselben müssen sich nun auswirken. Darum steht das Kreuz im Mittelpunkt der

Universalgeschichte".

    11) So z. B, M. Baumgarten, G. H. Pember und — was die buchstäbliche Deu-

tung der „Tage" betrifft, wenn auch ohne die Restitutionsauffassung — Keil,

Dilimann, Gunkel.

    19) So z. B. Franz Delitzsch, Keerl, Bettex, v, Huene und — allerdings ohne

die Restitutionsauffassung — Godet, Zöckler, J. P. Lange, Dennert.

    ") Spuren einer solchen Erklärung des Schöpfungsberichtes finden sich schon

in der altchristlichen Literatur zur Zeit des Kirchenvaters Augustinus (um 400).

Im 7. Jahrhundert wurde sie von dem angelsächsischen Dichter Caedmon vertre-

ten. Um 1000 bekennt sich König Edgar von England zu ihr. Besonders betont

wurde sie im 17. Jahrhundert durch den Mystiker Jakob Böhme. Im Jahre 1814

entwickelte sie der englische Gelehrte Dr. Chalmers, ferner 1833 der englische

Mineralogieprofessor William Buckland. Andere Vertreter sind die Geologiepro-

fessoren K. v. Raumer (gest. 1865), v. Schubert, unter den Theologen Keerl, Oetin-

ger, M. Baumgarten, Franz Delitzsch, Hengstenberg, Kurtz, ferner Fronmüller, Fr.

v. Meyer, Bullinger, Bettex, Jakob Kroeker, der Philosoph J. a Fichte (der Sohn

des bekannten Philosophen J. Gottlieb Fichte), weiterhin Disselhof, der Nach-

folger Fliedners in der Leitung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, Johannes

Wams, Fr. Heitmüller, Fr. Füllbrandt, v. Viebahn. Bekannt ist der Engländer

G. H. Pember, auch die unter den Gläubigen aller englisch sprechenden Länder

weithin verbreitete „Reference Bible" von Scofield, Pierson, Gaebelein u. a. Von

den Katholiken seien Kardinal Wiseman und der Philosoph Friedrich v. Schlegel

genannt. Auch Dächsels Bibelwerk sieht den Fall Satans zwischen 1. Mose 1,1

und Vers 2, ebenso der Geologieprofessor Frhr. v. Huene. — Natürlich weisen

 diese in zahlreichen Einzelfragen auch wesentliche Abweichungen voneinander

 auf, namentlich in der Frage, ob die dann folgenden sechs „Tage" Vierundzwan-

 zigstundentage oder lange Perioden gewesen seien.

 

 

 

40    Der Ursprung des Bösen als unergründbares Geheimnis

 

ifers, auch nicht ohne satanische Querwirkungen — zu einer allmählichen

iteigerung der Lebensformen gekommen. Zuletzt sei der Mensch, ohne

Abstammungszusammenhang mit der Tierwelt, auf den Schauplatz des

Weltgeschehens gestellt worden, um dann — von dem eigens für ihn

.ngelegten Paradiesesgarten aus — seine irdische Laufbahn zu beginnen.

 Auf keinen Fall jedoch kann es hier ein absolut festes Wissen geben.

denn eben dies Urereignis, da das Böse in die Welt trat und die ur-

;prünglich reine und gute Schöpfung Gottes in Unordnung brachte, ist

la gerade die alles verheerende, unser eigenes Sein verwirrende, über-

geschichtliche Ur g e g e b e n h e i t, in der wir selber stehen und die

anser ganzes gegenwärtiges Dasein in allen seinen Erscheinungsformen,

auch in seinem Denken (!), mitbedingt. Wir können uns daher weder

zeitlich noch sachlich von ihr eine zureichende Vorstellung machen, son-

dern haben lediglich die Pflicht, uns gewissensmäßig und verantwortlich

mit der Tatsachenwucht dieses Geheimnisses auseinanderzusetzen.

  Im übrigen gilt es, auf alles weitere Fragen zu verzichten und den

Mut zu haben, unsere Unwissenheit offen zu bekennen, aber auch die

Demut, einzusehen, daß irdisches Denken das Weltall-übergeschichtliche

niemals zu erfassen vermag und daß unser Verstand oft nur deshalb die

Ewigkeitsdinge als widerspruchsvoll ansieht, weil er — sündhaft gefallen

und gebunden, wie er nun einmal ist — sich selbst im Widerspruch zu

den Gesetzen der anderen Welt befindet. Es gibt eben nichts Irrationa-

leres als den Rationalismus. Wer in Gottes Geheimnisse hineinschauen

will, muß mit dem dreifachen Schmuck von Demut, Ehrfurcht und Glau-

ben geziert sein, und wo diese sich finden, kann die Seele alles Nicht-

geoffenbarte in Ruhe dem Höchsten überlassen (Röm. 11, 33-35; Hiob

38, 4-7). Erst in der Ewigkeit werden alle Fragen gelöst sein. Erst dann,

wenn der HErr kommt, werden alle Schleier verschwinden (1. Kor. 13,

9-12). Bis dahin sind wir Harrende.

 

 

 

 

   Z W E I T E R  T E I L

 

 

 

 

 

41

 

            Die Uroffenbarung

 

 1. Kapitel: Die paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit

 

  Auf die Erde setzte Gott den MAschen. In Eden pflanzte er jenen

wundersamen Garten, der seines Besitzers „Wonne" und Lust sein

sollte.') Das Paradies war der Anfang der Wege Gottes mit der mensch-

lich irdischen Schöpfung.2) Es war

    1. die Heimat eines unbeschreiblichen Glücks,

    2. der Ausgangspunkt einer wunderbaren Aufgabe,

    3. der Schauplatz eines gewaltigen Konflikts,

    4. die Stätte eines tragischen Zusammenbruchs und ist fortan

    5. das Sehnsuchtsziel einer wartenden Menschheit.

 

  I. Die Heimat eines unbeschreiblichen Glücks

  Majestätisch waltete der Herr der irdischen Schöpfung im Garten,

und alles Werk. seiner Hände geriet. Die Blumen blühten so schön, wie

sie hernach nie wieder ein menschliches Auge gesehen, und die Bäume

trugen die herrlichste Frucht. Irn Pflanzen- und Tierreich waltete ein

 

  1) „Eden" = Wonneland, Lieblichkeit.

  2) Für die Geschichtlichkeit und Buchstäblichkeit der ersten Kapitel der Bibel

bürgt Christus und das Neue Testament. Durchweg behandeln sie der HErr und

seine Apostel als Berichte wirklicher Ereignisse, ja ziehen sogar lehrhafte Folge-

rungen aus ihnen: Matth. 19,4-9; Röm. 5,12-21; 1. Kor. 15,21; 22; 1. Tim. 2, 13;

14; Jak. 3, 9; 1. Joh. 3, 12; Off. 20, 2, „Ist darum das Neue Testament Wahrheit,

so ist 1. Mose 1-3 Geschichte" (Ebrard, Dogmatik 1, S. 251f.). Wer dagegen die

Urgeschichte verwirft oder umdeutet, befindet sich damit im Widerspruch zu der

absoluten Autorität des HErrn Jesu und seiner Apostel. — Näheres vgl. Anhang:

„Die Zuverlässigkeit der biblischen Urgeschichte", S. 270. Ebenso den Abschnitt

"Das Alter des Menschengeschlechts" in E. Sauer, Vom Adel des Menschen, S. 206.

 

 

 

42     Die paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit

 

wunderbar himmlischer Friedenshauch, und — vor allem — Gott selbst,

der Schöpfer des Alls, verkehrte mit den Menschen in ungetrübter Weise

und gab ihnen den Genuß seiner beseligenden Gegenwart (1. Mose 3. 8).3)

  Aber nicht nur zum Genießen hatte Gott den Menschen in das Para-

dies gesetzt; er sollte auch wirken und Frucht bringen; und so wurde der

Garten für ihn

 

II. Der Ausgangspunkt einer wunderbaren Aufgabe

 

       1. Der Mensch als Persönlichkeit

  Gott, Welt und Mensch sind der dreifache Grundinhalt alles Be-

stehenden. Sie zu erkennen, ist Aufgabe unserer Vernunft. Ein drei-

faches Bewußtsein ist darum dem Menschen verliehen: das Gottes-, das

Welt- und das Ichbewußtsein, und in entsprechender Weise hat ihm der

Schöpfer auch die Organe gegeben, die ihn zu diesem dreieinheitlichen

Bewußtseinsinhalt befähigen.

  Die Welt erkennt der Mensch durch die Sinne,') deren Träger der

stoffliche Leib ist. Durch die Leiblichkeit gelangen wir zum W e 1 t - oder

Sinnen bewußtsein.

  Das /ih erkennen wir durch die Seele. Denn der Mensch ist weit

 

 ') Wo das irdische Paradies gelegen hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen.

Man hat auf Armenien oder die Syrisch-arabische Wüste hingewiesen. Jedenfalls

ist Phrat (1. Mose 2, 14) der Euphrat und Hiddekel der Tigris (vgl. Dan. 10,4; ara

rnäisch: Diglat). Daß die Landschaft Eden hoch gelegen haben muß, beweist der

Umstand, daß sie die Geburtsstädte großer Ströme war (1. Mose 2, 10). Der Gar-

ten ist ja nicht Eden selbst, sondern „in" Eden (1. Mose 2,8; 10). Daß dann später

Jer Name der Landschaft auf den Garten selbst überging (z. B. Hes. 28,13), ist

eine leicht begreifliche, alltägliche Erscheinung. Die Ströme Pison und Gihon sind

licht mit Sicherheit festzustellen. Durch die Sintflut scheinen wesentliche land-

whaftliche Veränderungen stattgefunden zu haben.

 Das Wort „Paradies" kommt vom Persischen her und bedeutet zunächst ein-

'ach einen „Park" oder „Forst", der die königliche Burg umgab. So spricht Neh.

!, 8 von einem gewissen Asaph, dem Hüter des königlichen „Forstes" (hebräisch:

)ardes). Ebenso gebraucht Salomo in dem Satz „Ich machte mir Gärten und Park-

Lnlagen" (Pred. 2, 5) für „Parkanlagen" das gleiche Wort „Paradiese". Desgleichen

lohel. 4, 13. — Die Septuaginta setzt überall, wo im Hebräischen „Garten" Eden

teht, das Wort „Paradies". Im Neuen Testament kommt das Wort nur dreimal

,or: Luk. 23, 43; 2. Kor. 12, 4; Off. 2, 7.

 4) Fühlen, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen, deren Träger die Organe des

,eibes sind, z. B. Auge, Ohr, Gaumen, Nase, Nerven.

 

            

 

 

 

 

Der Mensch als Persönlichkeit

43

 

mehr als nur wahrnehmendes Glied der äußeren Natur: er ist wollendes

Selbst und eigene Persönlichkeit. Gerade dies aber wird ihm durch sein

Inneres gezeigt, und so gelangt er durch die Seele zum S e 1 b s t - oder

1 c h bewußtsein.

   Und damit er sich schließlich zum Schöpfer erhebe, gab Gott ihm

den Geist. Durch ihn gelangt er zum Gottes bewußtsein.

   So ist der Mensch eine Dreiheit in der Einheit, und sein unsichtbares

Inneres besteht aus zwei wohl zu unterscheidenden Substanzen; ist doch

das Wort Gottes imstande, durchzudringen „bis zur Scheidung von Seele

und Geist" (Hebr. 4, 12) und bezeugt doch der Apostel: „Er aber, der

 Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz,

samt Seele und Leib müsse bewahret werden unsträflich auf die Zukunft

unseres HErrn Jesu Christi" (1. Thess. 5, 23 vgl. Luk. 1,46; 47).5)

   Hierbei ist „Geist" derjenige Teil unserer Persönlichkeit, der als das

 höhere Bewußtsein auf das Göttliche und über sinnliche gerichtet

 ist, während „Seele" der niedere Bestandteil unseres Inneren ist, der auf

 das Irdische und Geschöpfliche Bezug nimmt') Die Seele

 erreicht — und zwar auch nur mit Hilfe des Geistes — lediglich das

 I c h bewußtsein, der Geist aber das Gottes bewußtsein.")

   Der Leib aber soll sein, nach der Schrift:

      Tempel des Heiligen Geistes (1. Kor. 6, 19),

      Schlachtopfer wahren Gottesdienstes (Röm. 12, 1),

      Werkzeug der Gerechtigkeit (Röm. 6, 13),

      Mittel zur Verherrlichung Gottes (1. Kor. 6, 20),

      Samenkorn zu verklärter Geistleiblichkeit (1. Kor. 15, 43 47).8)

 

   9 „Geist und Seele sind eins dem Wesen nach (die rechte Dichotomie), aber

 verschiedene Substanzen (die rechte Trichotomie)" (Franz Delitzsch, Genesis,

 1860, S. 142).

   9 Dies erkennt man besonders an dem Gebrauch der Eigenschaftswörter

 „seelisch" und ,geistig", „Psychisch" (seelisch) kommt sechsmal im Neuen Testa-

 ment vor und ist stets niederer Gegensatz zu „geistig": 1. Kor. 15,44 (zweimal);

 46; 1. Kor. 2,14; Jud. 19; Jak. 3, 15 (Luther: „natürlich").

   7) Die Seele ist das Bindeglied zwischen Geist und Leib. Nur durch ihre Ver-

 mittlung kann der Geist auf den Körper einwirken; denn er ist die ihr „nach

 innen und oben hin einverwobene Substanz", gleichwie dies der Körper für sie

 „nach außen und unten hin" ist (vgl. J. T. Beck). Die Seele ist also das Band

 zwischen beiden; sie ist für den Geist gleichsam dessen „Leib", gleichwie sie

 selber vom Körper als ihrem Leibe umschlossen wird (vgl. Tertullian).

   ') Ohne Erlösung ist er: Einfallstor des Feindes (1. Mose 3, 6; Matth.

 

 

 

 

 

44        

Der Mensch als Dreieinheit

 

  Von dieser Dreieinheit der menschlichen Persönlichkeit ist die mo-

saische Stiftshütte ein Gleichnis. „In derselben Figur ist ein Christen-

mensch abgemalet. Sein Geist ist Sanctum Sanctorum, das Allerheiligste,

Gottes Wohnung, im finsteren Glauben ohne Licht; denn er glaubt, das

er nicht siehet noch fühlet noch begreift. Seine Seele ist Sanctum, das

Heilige; da sind sieben Lichter; das ist allerlei Verstand, Unterschied,

'issen und Erkenntnis der leiblichen, sichtlichen Dinge. Sein Körper

ist Atrium, der Vorhof; der ist jedermann offenbar, daß man sehen kann,

was er tut und wie er lebt" (Luther).°) So entsprechen sich im 'Wesen

des Menschen

    Weltbewußtsein, Ichbewußtsein, Gottesbewußtsein,

    Leib, Seele und Geist,

    Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes.

  Vom Allerheiligsten aber, vom Geist aus, regiert Gott über Seele

und Leib. Hier ruht, im Gewissen verwahrt, gleichsam wie in der Lade

des Bundes, das unabänderliche, göttliche Gesetz. Hier ist die eigentliche

Offenbarungsstätte des Höchsten in uns, so wie Gott in der Stiftshütte

über den Cherubim wohnte. Und wie damals die Wolke der Herrlich-

keit, die Schechina, über dem Gnadenthron schwebte, also bringt diese

Innewohnung des göttlichen Geistes in unserem Geiste auch uns das

Bewußtsein von Frieden und Freude (Röm. 8, 16). Denn der Thron Gottes

in uns ist kein Richterstuhl, sondern ein Gnadenthron, und das Zepter

seiner Herrschaft ist Heil. So dürfen wir nun, jener Stiftshütte gleich,

als Wanderzelt Gottes durch die Weltwüste gehen, bis wir dereinst ans

Ziel gelangen, zur Ewigkeit hin, zum himmlischen Kanaan (vgl. 2. Kor.

5, 1-4).

  Bei einer solchen Bestimmung des Menschen begreifen wir nun auch,

daß das Wort Gottes gerade im Bericht über seine Erschaffung — als

der Krone der Schöpfung — sich zum allerersten Male zu dichterischem

Jubelgesang erhebt. Die Form der hebräischen Poesie ist der Gedanken-

reim, der Gleichlauf der Glieder und Verse. Da feiert denn nun die

Heilige Schrift die Erschaffung des dreieinheitlichen Menschen — diese

 

30), Leib der Sünde (Röm. 6, 6), Leib der Niedrigkeit (Phil. 3, 21), zerfallendes,

irdisches Zeltenhaus (2. Kor. 5, 1-4), Samenkorn zu satanischer Leiblichkeit (Dan.

12, 2 b ; Joh. 5, 29 b).

  9) In seiner Erklärung zum Magnificat Luk. 1, 46 ff.

 

           

 

 

 

 

Der Mensch als Bild Gottes 45

 

wunderbare Tat des dreieinigen Gottes — in dichterischem Schwung,

durch einen dreifachen Reim, ein dreifaches „Gott schuf":

     „Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde;

     nach dem Bilde Gottes schuf er ihn;

     als Mann und Weib schuf er sie" (1. Mose 1, 27).

 

         2. Der Mensch als Bild Gottes

     Nicht darin aber besteht recht eigentlich die Gottesbildlichkeit

    des Menschen, daß er, als aus Geist, Seele und Leib bestehend,

    eine Dreiheit in der Einheit ist und somit das dreieinige Wesen

    seines Schöpfers widerspiegelt,

     auch nicht in erster Linie darin, daß sein Leib schon im voraus

    nach dem verklärten Auferstehungsleibe des Sohnes Gottes ge-

    bildet ist, der, kraft der überzeitlichkeit Gottes, schon ewig als

    Urbild im Geiste des Schöpfers gegenwärtig gewesen war (Phil.

    3, 21),

     sondern darin, daß er, als ein geistiges und sittliches Wesen, die

    inneren Eigenschaften Gottes geschöpflich zum Ausdruck

    bringt.")

 

  ") Bei der biblischen Lehre von der Gottesbildlichkeit des Menschen sind

zwei Seiten zu beachten: ein verlierbares und ein unverlierbares Gottesbild. Denn

einerseits wird in der Schrift die Gottesbildlichkeit des Menschen als etwas durch

den Fall Verlorenes und jetzt erst durch die Erlösung zu Gewinnendes bezeichnet

(Kol. 3,10; Eph. 4, 24; Röm. 8, 29; 1. Kor. 15,49; 2. Kor. 3, 18), und andererseits

wird auch in dem gefallenen Menschen noch ein Bild Gottes anerkannt (1. Mose

9, 6; 1. Kor. 11,7; Apg. 17, 28; Jak. 3, 9). Zunächst ist der Mensch ein Bild Gottes

in weiterem Sinne, sofern er überhaupt eine für die Ewigkeit bestimmte sitt-

liche Persönlichkeit ist mit Unsterblichkeit, Ichbewußtsein, Verstand, Vernunft,

sittlichem Urteilsvermögen, Gewissen und Willensfreiheit, wozu noch sein Herr-

scherberuf kommt, durch den er, als Herrscher der Erde, ein Abbild des HErrn

als des Herrschers des Weltalls sein soll (1. Mose 1, 26-28). Dies ist das Gottes-

bild als Anlage, als Grundwesen der Menschennatur an sich, ohne die der Mensch

aufhören würde, überhaupt noch Mensch zu sein. Wesenhaftigkeit und Inhalt be-

kommt dies alles aber erst, wenn der Mensch nun auch tatsächlich durch seinen

praktischen Zustand in Heiligkeit und Liebe das geistig sittliche Wesen Gottes

wirklich widerspiegelt. Das Gottesbild in engerem Sinne, als Zustand und

Besitz. Nach dem Sündenfall ist nun das Gottesbild in ersterem, formalem Sinne

nicht untergegangen; doch als Inhalt und materialer Besitz ist es verloren. „Das

Räderwerk des Mechanismus ist zwar geblieben; aber sein Lauf ist gestört. Die

Blume mit ihrem Blütenkelch ist noch da; aber ihr Farbenschmelz und ihr Duft

ist dahin" (Ed. König). Daher die Notwendigkeit der Erlösung.

 

 

 

 

 

 

46         Heiligung und Gottesbildlichkeit

 

  a) Die A u s r üs tun g. Gott selbst ist das Urbild. Geistigkeit,

Freiheit und Seligkeit bilden die drei Grundbestimmungen seines heilig

liebenden Wesens. Diese nun sollten im Menschen abbildartig verklärt

werden. Darum rüstete ihn Gott mit den drei Kräften seines geistigen

und seelischen Inneren aus. Er gab ihm Willen, Verstand und Gefühl.

Damit er der Freiheit der heiligen Liebe teilhaftig sein könne, verlieh er

ihm den W i 11 e n; damit er in wahrer Erkenntnis die göttliche Geistig-

keit widerspiegele, den V e r st an d, und damit er der göttlichen Selig-

keit sich erfreue, das G e f ü h 1.

  b) Die Heiligun g. In entsprechender Weise wird darum auch

im Neuen Testament das Ziel aller Heiligung beschrieben. Hinsichtlich

des geistlichen Denkvermögens heißt es, daß wir den neuen Menschen

angezogen haben, „der zur vollen E r k e n n t n i s erneuert wird nach

dem ‚Bilde' dessen, der ihn erschaffen hat" (Kol. 3, 10). In bezug auf den

sittlichen Zustand des Willens wird gesagt, daß der neue Mensch „nach

Gottes ‚Bild' geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und

R ei n h e i t" (Eph. 4, 24). Und was schließlich das jubelnde Erleben der

Herrlichkeit Gottes betrifft, das, mit der gesamten Persönlichkeit -

ihrem Denken und Wollen — zugleich auch die Freude des Gefühls in

sich einschließt, so lesen wir: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Ange-

sicht die Herrlichkeit des HErrn anschauend, werden verwandelt nach

demselben ‚Bilde' von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als

durch den HErrn, den Geist" (2. Kor. 3, 18 Elb.).

  c) Der M i t tle r. Aber alle diese drei Strahlen werden zusammen-

gefaßt in dem einen, in dem Bilde Jesu Christi, des Sohnes Gottes, un-

seres HErrn; „denn die, welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch dazu

vorausbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden: Dieser sollte

der Erstgeborene sein unter vielen Brüdern" (Röm. 8, 29). Das Bild des

Vaters ist niemand anders als der eingeborene Sohn (Kol. 1, 15; Hebr.

1, 3). In diesem Bilde schuf Gott den Menschen zu seinem Bilde.

Darum gelangt in uns das Bild des Vaters im Bilde des Sohnes zur Aus-

gestaltung. Im Sohne sind wir zu Söhnen bestimmt. Darin besteht unsere

Gottesbildlichkeit (1. Kor. 1, 9; 1. Joh. 3, 2). Christus, der geschichtliche

Heilsmittelpunkt, ist zugleich das „urbildliche Weltziel".

   Aber nicht nur in sittlicher Weise ist Gleichgestaltung mit Christo

das Endziel der Erlösung, sondern auch geistleiblich. So ist auch Christus

mit einem verklärten Menschenleibe in die Herrlichkeit eingegangen (Joh.

 

                

 

 

 

 

 

Christus das urbildliche Weltziel       47

 

20, 14-29; Apg. 1, 11; Phil. 3, 21), und so erwarten wir ihn auch als Hei-

land vom Himmel zurück, als den, „der unseren Leib der Niedrigkeit

umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlich-

keit" (Phil. 3, 21 EIb.). Denn „der erste Mensch ist von der Erde, von

Staub, der zweite Mensch ist vom Himmel. Und wie der Himmlische,

so sind auch die Himmlischen. Und wie wir das Bild dessen von Staub

getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen"

(1. Kor. 15, 47-49 Elb.).

    d) Das E n d z i e 1. Dann aber, wenn diese Geistleiblichkeit kommt

(Röm. 8, 23), wird das Ziel alles Heils in vollendeter Weise erreicht sein.

Als Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede wird sich das innere 'Wesen des

Reiches Gottes entfalten (Röm. 14, 17), und Herrlichkeit wird sein in

allen denen, die da erwachen im Bilde ihres Gottes. In der Heiligkeit

ihres Wollens, der Weisheit ihres Erkennens und der Seligkeit ihres

Fühlens offenbart sich dann vollkommen die Freiheit und Geistigkeit

und Seligkeit ihres Schöpfers, und ihre drei Seelenkräfte werden auf

ewig zu einer geschöpflich-dreieinheitlichen Verklärung der dreieinigen

Seinsbestimmtheiten des ewigen Gottes.

    Zu diesem allem aber tritt noch etwas Besonderes hinzu. Gott hatte

offenbar bei der Menschenschöpfung nicht nur den Gedanken, daß ihn

dieser, gleich den Engeln des Himmels, als reines und glückliches Wesen

verherrliche, sondern, indem er ihm die Erde als Herrschaftsgebiet über-

 gab, erteilte er ihm auch eine spezielle Aufgabe zu, die sich auf diesen

 seinen Wohnsitz erstreckte.

 

        3. Der Mensch als Beherrscher der Erde

    „Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde und macht sie

 euch untertan und herrschet" (1_ Mose 1, 28). In diesen Worten ist deut-

 lich die Königsbestimmung des Menschengeschlechts ausgesprochen. Die

 Befähigung dazu ist der menschliche Geist, der sich vor allem im Worte

 bekundet.

    a) Der A n f an g. Was ist ein Wort? — Ein Schall, ein Laut, ein

 Ton, der aus unserem Munde hervorgeht! Aber noch mehr! Ein Träger

 einer Regung des Geistes, ein Kundgebungsorgan der Vernunft, ein Zei-

 chen und Lautsymbol einer Tätigkeit der Seele. Nur durch die Gabe des-

 Geistes und 'Wortes wird der Mensch erst zum Menschen. Erst so emp-

 fängt er die Möglichkeit innerer Entwicklung.

 

 

 

 

 

 

 

 

48        Der Mensch als Beherrscher der Erde

 

  Mit dem Wort begann Adam im Paradiese die Vollziehung seiner

Königsgewalt. Gott selbst brachte ihm gleich zu Beginn, noch vor der

Erschaffung des Weibes,") die Tiere der Luft und der Erde, damit er -

ihr Wesen durchschauend — sie mit passendem Namen benenne (1. Mose

2,20), und so wird der „König" sofort schon am Anfang vom Schöpfer

gekrönt, und die Sprache wird geistig das „Zepter der Menschheit".

  b) D er I n h a l t. Nun aber war die Erde — jedenfalls die außer-

paradiesische — ein Gebiet, das trotz seiner Erschaffung und überwal-

tung durch den Höchsten, noch nicht restlos sein Endziel erreicht hatte.

Ja, es scheint, daß der Zustand der Disharmonie, der mit dem Fall

Satans über die Erdwelt hereingebrochen war (Röm. 8, 20; 21),") in der

außer paradiesischen Erde zur Zeit der Menschenschöpfung durchaus

noch weiterbestand. Jedenfalls deutet die biblische Urgeschichte an, daß

die Erde an sich, trotz des göttlichen Neuanfangs, der mit der Erschaffung

des Menschen einsetzte, dem Wirken dämonischer Mächte noch ntcht

 grundsätzlich entzogen worden war. Dies beweist das Gebot Gottes an

 den Menschen, den Paradiesesgarten nicht nur zu bebauen, sondern zu

 „bewahren", sowie die Tatsache seiner Versuchung durch eine gottfeind-

 liche, auf der Erde auftretende, sieh eines Tieres bedienende Gegen-

 macht. Außerdem: Wenn die Erde überall eine Stätte des Lebens und

 höchster Vollkommenheit gewesen wäre, so hätte es ja überhaupt keines

 Paradieses bedurft! Offenbar aber stand der erstgeschaffene Mensch,

 seiner Anlage und Bestimmung nach, hoch übe r der Erde, und darum

 mußte für ihn auch ein besonderer Bezirk zubereitet werden, damit er

 eine Wohnstätte habe, die dem Adel seiner Stellung und der Hoheit

 

  ") Die Sprache ist also nicht, wie ungläubige Philosophen wollen, eine Erfin-

 dung, die man erst nach und nach innerhalb der menschlichen Gesellschaft zum

 Zweck des gegenseitigen Verkehrs gemacht habe. Denn Gott „sprach" schon zu

 Adam, e h e er ihm Eva als Gehilfin beigegeben hatte, und ebenso machte Adam

 schon v o r der Erschaffung des 'Weibes in der Benennung der Tiere Gebrauch

 von der Sprache. Die Sprache ist also vielmehr eine „unwillkürliche Emanation

 des Geistes", die „durch den Mund hindurchgehende, vernehmbare Offenbarung

 der Vernunft" (Plato), „hörbarer Geist" (Bettei). Als Schöpfungsanlage war die

 Sprachengabe beim Menschen schon von vornherein da; sie bedurfte aber der

 Entbindung und Lösung, und diese führte Gott herbei, indem er dem Menschen

 aufgab, den Tieren Namen zu geben. — Welches die Ursprache im Paradiese ge-

 wesen ist, kann heute nicht mehr entschieden werden.

  12) Vgl. Seite 38. — Ferner E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940.

 S. 73-80.

 

         

 

 

 

 

 Die Königsbestimmung des Menschengeschlechts 49

 

seiner Berufung entsprach. Die Pflanzung des Paradiesesgartens ist so-

mit, vom biblischen Standpunkt aus betrachtet, ein Zeugnis von dem Un-

vollkommenheitscharakter der außerparadiesischen Erde.")

   Dann aber bedeutet die Ausbreitung der Erdenherrschaft des Men-

schen, sofern er Gott untertan blieb, ein stufenweises Hineinziehen alles

Irdischen in den Bereich der sittlichen Weltzwecke, ein wachstümliches

In-Anspruch-Nehmen der Erde für Gott und damit ein fortschreitendes

Weiterführen der Schöpfung zur Erlösung und Vollendung. Das Paradies

war somit der feste Punkt, von dem aus die Emporhebung der Natur in

den Bereich des Geistes ihren Anfang nehmen sollte. Es war von Gott

dazu gesetzt, „damit von da aus die ganze Erde zum Paradiese werde.

Der Garten ist das Allerheiligste, Eden das Heilige, die ganze Erde rings-

um Vorhalle und Vorhof. Das Ziel ist, daß sie ganz in. das verherrlichte

Gleiche jenes Allerheiligsten verklärt werde."") Hierbei galt Adam selbst

nicht nur als Einzelperson, sondern zugleich auch als Stammvater und

organischer Vertreter seiner gesamten, schon damals grundsätzlich „in"

 

   ") Damit stimmt auch das Zeugnis der Geologie überein. Denn es ist natur-

wissenschaftlich klar zu erkennen, daß viele jetzige Lebeformen der Pflanzen- und

Tierwelt eine außerordentliche Ähnlichkeit, ja teilweise fast Gleichheit mit den

entsprechenden Lebeformen der Tertiärzeit, ja zum Teil sogar Kreide- und Jura-

zeit haben, also mit ihnen offenbar in organischem Zusammenhang stehen. Wollte

man aber nun lehren, daß zur Zeit der ersten Menschen auch die außerparadie-

sische Erde von allem Tod und aller Disharmonie befreit gewesen sei — was die

Bibel nicht ausdrücklich lehrt! --, so müßte man den unvermeidlichen, aber

doch höchst u n wahrscheinlichen Schluß ziehen, daß die mit den heutigen Arten

wesens g 1 e i c h e n (I) Tierarten der Tertiärzeit — wir denken hier besonders

an die fleischfressenden Tiere — erst vernichtet oder hinsichtlich ihrer Instinkte,

ihrer Ernährungsweise und folglich ihres ganzen Körperbaus anatomisch-physiolo-

gisch umgebildet 'worden seien, dann aber, nach dem Fall des Menschen, wieder

neu erschaffen beziehungsweise in einen Zustand zurückverwandelt worden seien,

der im wesentlichen ihrem Tertiärzustand entspricht. Dies anzunehmen ist aber

eine noch größere Schwierigkeit, als den Zusammenhang des gegenwärtigen Tier-

und Pflanzenlebens mit dem versteinerten für das Richtige zu halten. Vielmehr

empfiehlt sich die Annahme, daß die Tierarten während der Paradieseszeit auf

der außer paradiesischen Erde in ihrem bisherigen, zum Teil wilden Zustand

verblieben sind, daß es aber dann, wenn der Mensch in wachstümlicher Ausbrei-

tung seinen Herrscherdienst gottgemäß ausgeführt hätte, zu einer schließlichen,

endgültigen Befreiung der Tierwelt aus den Banden der Wildheit und des Todes

gekommen wäre. — Genaueres vgl. E. Sauer, „Vom Adel des Menschen", S. 76 ff.

Dort ist auch eine Besprechung gewisser Einwände gegeben.

   ") Franz Delitzsch, a. a. 0. S. 152.

4 Sauer , Das Morgenrot der Welterlössting

 

 

 

 

 

 

 

50         Der Zweck des Erkenntnisbaums

 

ihm mitgeschauten Nachkommenschaft (1. Kor. 15, 22; Röm. 5, 12-21).

Darum heißt es auch zuerst: „Seid fruchtbar und mehret euch und be-

völkert die Erde" und erst hinterher: „Und machet sie euch untertan

und herrschet" (1. Mose 1, 28). So ist denn der Paradiesesgarten Anfang

und Ende, Ausgang und Ziel, Basis, Programm und Muster der Gesamt-

aufgabe der Menschheit auf Erden.

   Dies alles aber konnte nur dadurch erreicht werden, daß der Mensch

in eine sittliche Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Bösen

 gestellt wurde. Nur in einem Kampf konnte er „siegen"; nur so konnte

 er die Krone des „überwinders" erlangen. Andererseits aber wollte auch

 Satan, dieser Widersacher Gottes, das Werk seines Feindes, den rein

 und gut erschaffenen Menschen, nicht unangetastet sein lassen. Damit

 aber war sofort schon zu Anfang ein hochbedeutsamer Kampf eröffnet,

 und das Paradies wird

 

   III. Dcr Schauplatz eines gewaltigen Konflikts

   Es tritt, mit diesem seinem geheimnisvollen Hintergrund, in den

 kosmischen Rahmen der Weltall-Übergeschichte ein. Hinter dem Paradies

 steht das Sternenall Gottes und die größte Revolution, die es je gegeben

 hat: der Kampf zwischen Satan und Gott.

  Der Gegenstand der Versuchung wird, dem Grundsatz der Entwick-

 lung gemäß, dem noch kindlichen Verständnis der jungen Menschheit

 angepaßt; daher das Verbot, von der Frucht eines Baumes zu essen.")

 Durch das Nichtessen von seiner Frucht, d. h. durch den Sieg in der Ver-

 suchung, sollte Adams sittliches Bewußtsein durch Betätigung seiner

 Wahlfreiheit zur Machtfreiheit gelangen, und damit sollte sich zugleich

 sein Herrscherdienst für die Erde auswirken. Jeder Sieg in der Versuchung

 hätte sein Innenleben ausgereift und vertieft. Immer mehr hätte er das

 Gute erkannt und das Böse durchschaut und wäre wachstümlich aus dem

 Stande der Kindes uns c h u 1 d in den Stand der Mannesreife einer sieg-

 haften H eiligkeit mit einer gottähnlichen Erkenntnis von Gut und

 

    Töricht ist der Einwand, das Essen einer verbotenen Frucht sei doch nur

 eine Näscherei, also eine kleine Sünde gewesen; denn den ersten Menschen war

 es ja gar nicht um den Geschmack der Frucht zu tun, sondern sie wollten sich,

 hinter dem Rücken des Schöpfers, auf verbotenem Wege, zu gleicher Erhabenheit

 emporschwingen wie er (1. Mose 3, 5). Das Verbot, vom Baume zu essen, war

  also, seinem Wesen nach, geistiger Art, indem es die absolute Herrschaft

  Gottes über den Menschen und diese als das wahrhaft Gute feststellte.

 

           

 

 

 

 

Der Einbruch der Sünde

 

51

 

Böse gelangt. „Adams Altar und Predigtstuhl ist gewesen dieser Baum

des Erkenntnisses Gutes und Böses, von welchem er Gott pflichtigen

Gehorsam leisten, Gottes Wort und Willen erkennen und ihm danken

sollte, und so Adam nicht gefallen wäre, so wäre dieser Baum gleich wie

ein gemeiner Tempel und Hauptkirche gewesen" (Luther). So war denn

der Baum ein Zeichen der Herrschaft Gottes über den Menschen und

der Unterwerfung des Menschen unter Gott. Auch im Verbot wollte

Gott weit mehr geben als nehmen. In doppelter Weise hatte der Erkennt..

nisbaum demnach einen göttlichen Zweck; er war das Mittel in der Hand

Gottes zur Erziehung des Menschen und dadurch zur Verklärung der

Erde.

  Dann aber kam die Sünde. In Eden verlor der Mensch sein Eden,

und das Paradies, dieser Wohnort von Wonne und Lieblichkeit, wurde

 

 1V. Die Stätte eines tragischen Zusammenbruchs

  Die Schlange hatte dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse

verheißen, und in verzerrter Form hat sie auch Wort gehalten. Doch

',anstatt das Böse von der freien Höhe 'des Guten aus zu erkennen, er-

kannten sie nun das Gute von dem fernen Abgrund des Bösen aus". Nach

Gottes Plan hatte der Mensch durch den Sieg in der Versuchung erkennen

sollen, was gut ist und böse märe; durch die Sünde aber erkannte er her-

nach, was böse ist und gut gewesen märe. Und weil er am Erkenntnis-

baum frevelnd gesündigt hatte, mußte er nun auch vom Lebensbaum

abgeschnitten werden (1. Mose 3, 22; 23). Der Tod hielt seinen Einzug in

das Menschengeschlecht, und im Paradiese begann die Hölle des Men-

schen.

  Doch nie konnte der Mensch seitdem seine Heimat vergessen. Vom

„verlorenen Paradies" haben alle Völker gesungen und hoffend und

harrend nach seiner Wiederkehr ausgeschaut. Das Paradies ist darum

 

V. Das Sehnsuchtsziel einer wartenden Menschheit

  Und in der Tat, ihr Hoffen wird nicht enttäuscht werden. Die End-

geschichte wird wieder zur Urgeschichte sich wenden, und wie es im

Anfang der alten Erde ein irdisches Paradies gab, so wird es dereinst auf

der neuen Erde ein himmlisches Paradies geben (Off. 22, 1-5). Auch

4*

 

 

 

 

 

 

52        Menschwerdung Christi und Weltvollendung

 

nach dem Fall ließ der HErr die hohe Berufung der Menschheit bestehen.

Auch jetzt noch bleibt ewig die Verklärung der Erde an die Vollendung

des Menschen gebunden.") Darum „wartet das sehnsüchtige Harren der

Schöpfung auf die Offenbarung der Söhne Gottes" (Röm. 8, 19), und

darum kann sie auch erst dann „zur Teilnahme an der Freiheit" gebracht

werden, wenn „die Kinder Gottes im Stande der Verherrlichung" sind

(Röm. 8, 19-22).

   In Christo gelangt dann einst die Menschheit an ihr seliges Ziel. Er

erschien auf der Erde und vollbrachte sein Werk. Er erniedrigte sich

selbst und ging an das Kreuz und trug dort die Sünden der Menschen.

Doch dann stieg er auf in den Himmel empor und sitzt nun zur Rechten

des Vaters, bis er einst den Tag herbeiführen wird, an dem er die Seinen

sich selbst und dem Vater verherrlicht darstellen wird (Eph. 5, 27;

Hebr. 2, 13).

   Doch als Menschen sohn hat er das Werk, das der Vater ihm

gab, hier vollbracht. Als Mensch trug er hier die Krone der Dornen, die

der unerlöste, unter dem Fluch stehende Acker ihm bot; und als Mensch

wird er darum auch einst, als das Haupt seines Leibes, über denselben

— doch dann den erlösten, vom Fluche befreiten — Acker regieren (Eph.

1, 22). Der göttliche Erlöser ward Mensch und erlöste als solcher den

menschlichen Beherrscher der Erde, verband ihn dann mit sich zu ewig

untrennbarer Einheit und bewirkte also zugleich die Erlösung der Erde.

Das ist der Weg, den die Gnade gefunden. So bleibt denn die alte Be-

stimmung der Menschheit bestehen, und doch wird sie gänzlich mit neuem

 

  ") Darum zeigt die Schrift immer wieder einen tiefen, heilsgeschichtlichen Zu-

sammenhang zwischen der Erde und der Menschheit. „So entsprach dem Men-

schen im Unschuldstande das Paradies, so dem Gefallenen der Acker mit seinem

Fluch, so Israel, dem vorbildlichen Gottesvolk, das Gelobte Land als Vorbild des

zukünftigen Paradieses, so jedem religiös-sittlichen Verfall des Volkes eine Ver-

dunkelung und Verödung seines Landes (5. Mose 28, 15 ff.; Joel 2; Zeph. 1, 14 ff.)

sowie jeder geistigen Heilszeit eine Erhebung der Natur (5. Mose 28, 8 ff.; Ps. 72,

16; 17; Jes. 35; Hos. 2, 23). So verdunkelte sich beim Tode Christi die Sonne und

kündigte sich in dem Erdbeben bei seinem Tode die Erneuerung der Erde an."

So kommen in der Steigerung der Sünde in der antichristlichen Zeit gesteigerte

Nöte über die Natur (Off. 16, 1 ff.); im Tausendjährigen Reich aber wird, mit der

gesamten Menschheit, auch die Natur gesegnet (Jes. 11 u. a.). Zuletzt jedoch geht

mit dem Ende der Menschheitsgeschichte auch die alte Weltgestalt unter (2. Petr.

3, 10; Off. 20), um, mit der Verklärung der erlösten Menschheit, auch eine ver-

klärte „neue Erde" zu werden (Off. 21, 1). Vgl. J. P. Lange, Bibelwerk, Römer-

brief, 1880, S. 225.

 

           

 

 

 

 

 

 

Christus — der Mittelpunkt der Heilsgeschichte

53

 

Inhalt erfüllt. In Christo als ihrem Haupte gelangt die '1enschheit ans

Ziel ihrer Bestimmung. Er ist, als der „letzte Adam" (1. Kor. 15, 45; 21;

22; Röm. 5, 12-21), für sie Mittelpunkt, Krone und Stern. Das ganze

Menschheitsgeschlecht ist „ein Kreis, und Jesus Christus ist das im Laufe

der Heilsgeschichte immer mehr herausgearbeitete Zentrum dieses Krei-

ses" (Franz Delitzsch).

    Aber gerade dies gehört mit zu den tiefsten Geheimnissen des

Gnadenrats Gottes, daß er, zur Erreichung seiner großen, weltumspan-

nenden Ziele, den Menschen auch da nicht beiseitegesetzt hat, wo sich

dieser, durch Sünde und Fall, seiner hohen Bestimmung als unwert

erwiesen. „Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung

 Gottes" (Röm. 11, 29). So klingt es gleichsam, wie bei Israel im Kleinen,

 so hier im Großen, durch Sünde und Unheil, Verderben und Rettung

 hindurch. Die Vollendung der Schöpfung soll dennoch mit dem Menschen

 verknüpft sein. Mag ihre Entwicklung nun auch andere Wege gehen, als

 es ohne einen menschlichen Sündenfall gewesen wäre: das Endziel bleibt

 dennoch bestehen. Und weil dieses der Weg und das Ziel Gottes bleibt

 — daß der Mensch der Segenskanal für die Schöpfung wird —, kann es

 ein Werfen des Teufels in den Feuersee und einen neuen Himmel und

 eine neue Erde auch erst nach dem Großen Weißen Thron, d. h. nach

 dem Abschluß der geoffenbarten menschlidien Erlösungsgeschichte geben

 (Off. 21 und 22 vgl. Off. 20, 11-15).

 

 

 

 

 

2. K a p i t e l: Sünde und Gnade

 

54

 

Groß war der Mensch in seinem Fall. Noch größer war Gott in 

seinem Erbarmen (Röm. 5, 20). Auch dem Sünder gegenüber blieb die 

göttliche Liebe bestehen (Joh. 3,16).

Trotzdem brachte der Sündenfall eine Veränderung aller Weltver-

hältnisse mit sich. Neue Grundsätze wurden erforderlich, die von nun 

an die ganze Geschichte der Menschheit beherrschten.

I. Der Grundsatz der Erlösung

Ohne Fall wäre das menschliche Werden ein allmählicher Aufstieg 

gewesen. Es hätte wohl eine Heilsgeschichte, aber keine Erlösungs-

geschichte gegeben. Alles wäre geradlinige Aufwärtsentwicklung gewesen. 

Nun aber trat an die Stelle der Entwicklungsfähigkeit des Menschen die 

Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Erlösung. Hinfort handelt es sich 

nicht mehr um Evolution der in ihm ruhenden Kräfte, sondern um Re-

volutionen des Geistes in göttlichen Liebes- und Neuschöpfungstaten. 

Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Sündenfalls liegt also in der 

Umwandlung des entscheidenden Grundprinzips aller Menschheits-

      

entwicklung.

In der Tat, der Mensch war nicht hoffnungslos gefallen. Er blieb 

erlösbar, und Gott wurde ihm zum Erlöser. Zwei Tatsachen begründen 

diese Möglichkeit. Der Mensch hatte die Sünde nicht selber erfunden. 

Sein Fall hatte nicht darin bestanden, daß er von innen heraus, von sich 

aus, nur auf Grund völlig eigener Inspirationen gehandelt hatte,.sondern 

auf Grund einer Versuchung von außen. Sonst wäre er allerdings ein 

selbsteigener Urgrund der Sünde und damit ein Teufel geworden. Und 

wie er das Böse weder vor noch in seinem Fall produziert hatte, so hatte 

er nach seinem Fall sich mit ihm auch nicht identifiziert. Sogleich empfand 

er die Sünde als etwas ihm Fremdes und machte einen Unterschied zwi-

schen sich und dem Bösen. Dies beweist sein sofortiges Schamgefühl

und das Bedecken seiner Blöße durch Feigenblätter (1. Mose 3,

10).

 

 

 

 

 

 

           Die göttliche Selbstrechtfertigung in der Heilsgeschichte

55

 

Wohl war dieser erste Versuch zur Überwindung des Bösen vergeblich;

aber er war doch ein unverkennbarer Beweis, daß der Mensch nicht in

Schamlosigkeit und Gemeinheit untergehen wollte, daß er sein Gewissen,

gegen das er gehandelt, nun nicht noch mit Bewußtsein ertötete. Damit

aber werden jene Feigenblätter geradezu eine Verkörperung und ein

Symbol seiner Flucht vor dem Bösen, und das Schamgefühl wird eine noch

unbewußte Abwehr des Fleischesdienstes im Gefühl der Schuld und Ohn-

macht und somit die erste Gegenwirkung gegen die Macht der Sünde,

indem der Mensch, da er das Böse nicht zu überwinden vermag, ihm doch

wenigstens zu entfliehen sucht')

 

II. Der Grundsatz der göttlichen Selbstrechtfertigung

    Aber die Sünde macht blind, und der Mensch kann sein Verderben

nicht einsehen (Eph. 4, 18; Off. 3, 17). Er glaubt an das Gute in sich und

vergöttlicht sein eigenes Wesen (2. Thess. 2, 3; 4). „Die Menschheit ist

die Gottheit von unten gesehen." Solange er das glaubt, wird er niemals

die Erlösung ergreifen (Matth. 9, 12).

    Darum muß er Gelegenheit bekommen, seine Kraft nach allen Seiten

hin zu versuchen, um letzten Endes dann doch zur Erkenntnis seiner

Ohnmacht zu gelangen. Der menschliche Zusammenbruch muß die gött-

liche Methode des Wiederaufbaus werden. Daher die vielen Jahrtausende

im Heilsplan und die Vielgestaltigkeit der Offenbarungsgeschichte in

Zeitaltern und Äonen. Hierbei hat jede Periode des Heilsplans notwendig

zugleich die Offenbarung des menschlichen Versagens zum Ziel, und die

buntschillernde Verschiedenartigkeit und Stufenmäßigkeit des Ganzen

hat darin mit ihren erzieherischen Grund, daß jede dieser Haushaltungen

den Bankrott des natürlichen Menschen von einer anderen Seite aus

darlegen soll. So werden schließlich alle Seelenkräfte des einzelnen und

alle Gesellschaftsformen der Gesamtheit als unzureichend erwiesen, und

Gottes Heilsplan in Christo erscheint nicht nur als der einzige, sondern

geradezu als der einzig mögliche und notwendige. Damit aber steht Gott

vor seiner ganzen Schöpfung im Himmel und auf Erden als gerechtfertigt

da, daß er gerade diesen Heilsweg bestimmte. Die Heilsgeschichte

wird somit zu einer geschichtlichen Selbstrechtfertigung Gottes') und der

Offenbarungsverlauf zu seinem eigenen Notwendigkeitsbeweis. Wie

 

    ') Vgl. v. Gerlachs Bibelwerk zu 1. Mose 3,7.

    2) Zu einer „historischen Theodizee".

 

 

 

 

 

56     Der Grundsatz des menschlichen Zusammenbruchs

 

eschrieben steht: „Auf daß du (Gott) gerechtfertigt seiest mit deinem

lichterspruch und als Sieger dastehest, wenn man mit dir rechtet"

Röm. 3, 4 Alb.).

 

II.Der Grundsatz des menschlichen Zusammenbruchs

 In der Tat, restloser konnte der Mensch seinen Absturz nicht zeigen,

ils er getan hat und noch tun wird.

    Gibt Gott ihm die Selbstbestimmung,

      so gerät er in Zügellosigkeit:3)

        im Zeitabschnitt der Freiheitsprobe.

    Gibt Gott ihm die Obrigkeit,

      so betreibt er Unterdrückung:4)

        im Zeitabschnitt hinter Noah.

    Gibt Gott ihm die Verheißung,

      so versinkt er in Unglauben:5)

        im Zeitabschnitt der Patriarchen und der Folgezeit.

    Zeigt Gott ihm seine Ungerechtigkeit')

      so versteigt er sich in Selbstgerechtigkeit:7)

        im Zeitabschnitt des Gesetzes.

    Gibt Gott ihm den Christus,

      so erwählt er sich den Antichrist:8)

        im Zeitabschnitt des Evangeliums.

    Gibt Gott ihm den König,

      so folgt er dem Rebellen:9)

         im Zeitabschnitt des Tausendjährigen Reiches.

  So ist der Mensch dauernd in Auflehnung gegen Gott und — wie

 

  3) Besonders in Lamech (1. Mose 4, 23; 24).

  s) Noch dazu in Nimrod, dem Hauriten, dem Gründer des urbabylonischen

Weltreichs (1. Mose 10, 6-12), dessen Rasse nach 1. Mose 9,25 der Segen losig-

keit anheimgegeben worden war, ja, in Kanaan sogar „Knechte aller Knechte"

sein sollte!

  5) Vgl. besonders das zehnmal ungehorsame und murrende Israel in der Wüste

am Ende des Zeitabschnitts der patriarchalischen Glaubensverheißung.

  6) Das Gesetz war ein Spiegel der Sünde (Röm. 3, 20; 7, 7).

  7) Vgl. besonders die Pharisäer (Röm. 2,17-21).

  8) Joh. 5, 43; Off. 13.

  ') Vgl. Gog und Magog: Off. 20, 7-10.

 

 

 

 

 

 

 

              Der Grundsatz des heiligen „überrests"

57

 

Israel im Kleinen — so ist die Menschheit im Großen ein Volk, „dessen

Herz immer den Irrweg will" (Ps. 95, 10). Kein Wunder, daß darum alle

Haushaltungen mit göttlichem Gericht enden:

       Der Zeitabschnitt des Paradieses -

          mit der Austreibung aus dem Garten;

       Der Zeitabschnitt der Freiheitsprobe -

          mit dem Flutgericht;

       Der Zeitabschnitt hinter Noah -

          mit Babel und der Beiseitesetzung der Völkerwelt;

       Der Zeitabschnitt des Gesetzes —

          mit der Zerstreuung der Juden;

       Der Zeitabschnitt der Gemeinde -

          mit der antichristlichen Trübsal;

       Der Zeitabschnitt des Herrlichkeitsreiches -

          mit Vernichtung und flammendem Untergang (Off. 20, 9).

    Aber dann, wenn alle nur erdenkbaren Möglichkeiten erschöpft sind

 und das Weltreich alle seine Kräfte zerarbeitet hat, wird das Gottesreich

 triumphierend erscheinen (Off. 11, 15), und im neuen Himmel und auf

 der neuen Erde wird Gerechtigkeit ewiglich wohnen (2. Petr. 3, 13).

 

    IV. Der Grundsatz des heiligen „Überrests"")

    Sollte aber dieses Endziel erreicht werden können, so durften die

 dazwischenliegenden Gerichtskatastrophen niemals -totale sein. Sonst

 wäre der Zusammenhang des Kommenden mit dem Vergangenen ver-

 loren gewesen, und das neu in Erscheinung Getretene wäre ein Selb-

 ständiges und Anderes geworden, nicht aber die Fortsetzung und Weiter-

 führung des Bisherigen. Das aber hätte nichts anderes bedeutet als die

 unverhüllte Bankrott-Erklärung Gottes vor aller Welt, daß alle seine

 bisherigen Erziehungsgrundsätze mit der Menschheit zusammengebrochen

 seien.

     Darum mußte stets ein „Überrest" aus den Gerichten gerettet wer-

 den (Jes. 10, 21; 22; 11, 11; Hes. 5, 1---4 bes. 3; 1. Kön. 19, 18; Röm. 11,

  1-10), um somit die Grundlage für die 'Weiterentwicklung zu werden.

 Mitten im Todesgericht mußte stets über dem Bösen immer wieder ein

 

    10) Vgl. J. Kroeker, Noah und das damalige Weltgericht, Wernigerode 1925,

  S. 147 ff.

 

 

 

 

583    Die heilsgeschichtliche Bedeutung der „kleinen Herde"

 

Neuleben begründet werden. Nur so konnte die Einheit des Ganzen

ewahrt und die Zukunft organisch mit der Vergangenheit und Gegen-

art verbunden werden.

 Dies ist die Bedeutung der Frommen in der Welt. Sie sind der Träger

edes Neuanfangs im Gericht und damit der gesamten Einheit des HeilS-

dans. Erst durch die „kleine Herde" empfängt die große Heilsgeschichte

hre feste Geschlossenheit und ihren organischen Zusammenhang. Erst

iie, die Geringen der Welt, sind die menschliche Grundlage für die

)urchführbarkeit der Erlösung. Ohne sie würde jede Offenbarungs-

i,eschichte in Stücke zerfallen. Scheinbar ein entbehrlicher Faktor im

Neltgesehehen, sind gerade sie „der große Mitarbeiter Gottes, durch den

lie Welt in ihrem Fortbestand und in ihrem letzten Wesen bestimmt

wird. Ihr Wandel mit Gott rettet die Zukunft der Welt".") Damit aber

werden gerade siezudenTrägernder Geschichte überhaupt

und, in der Schrift, zu den Trägern der Weltchronologie.")

  So ziehen sich durch alle Zeitalter diese zwei Linien hindurch: das

Heranreifen der großen „Welt" zum Wettersturm des Gerichts und die

Zubereitung der „kleinen Herde" zur Herausrettung aus Elend und Not.

  Wie ein Felsen im Meer steht dieses Volk in der Völkerwelt da.

Auch die Pforten des Totenreichs werden es nicht überwinden (Matth.

16, 18); denn mit seinem Bestand steht und fällt alle Hoffnung der

Welt, und hinter aller Hoffnung steht ewig die Bundestreue des Erlösers.

  Mag darum auch immer wieder die Eiche der Weltkultur durch die

Axt des Gottesgerichts gefällt werden müssen: immer wieder bleibt den-

noch dieser. „Wurzelstock" übrig, der „heilige Same", aus dem neues

Leben ersprießt (Jes. 6, 13 vgl. 11, 1), die „kleine Herde", die das ewige

Reich empfängt (Luk. 12, 32). So flammt aus der Nacht des Gerichts

immer wieder das Frührot des jungen Tages hervor, und in den Wetter-

wolken des Zornes erscheint strahlend der Regenbogen des göttlichen

Erlösers (vgl. 1. Mose 9, 13).

 

  ") Kroeker, a. a. 0. S. 157; 158.

  ") Geschichtliche Zahlenangaben in den Stammbäumen gibt das erste Buch

Mose nur bei der erwählten Linie (besonders Seth-Noah: 1. Mose 5, und

Sem-Abraham: 1. Mose 11.10 ff.; vgl. ferner 1. Mose 25, 20; 37, 2). In den Ahnen-

tafeln der nicht erwählten Linien finden sich keine Geschichtszahlen (Kahl:

1. Mose 4, 17-24; die Völkertafel: 1. Mose 10; Ismael: 1. Mose 25, 12-16; Esau:

1. Mose 36,1-8). Für Gott ist eben nur die Geschichte der kleinen Herde „Ge-

schichte".

 

 

 

 

             Der Grundsatz des Zweiten vor dem Ersten

59

 

 

   V. Der Grundsatz des Zweiten vor dem Ersten

   Aber dazu erwählt sich Gott stets das Geringe (1. Kor. 1, 26; 27).

Nur so wird der eitle Selbstruhm des Sünders zerstört. Darum 'ist es auch

geradezu ein durchgehender Grundzug der ganzen Geschichte der Er-

lösung, daß Gott immer wieder den Jüngeren dem Alteren voranstellt,

das Kleinere vor das Größere setzt und das Zweite vor dem Ersten

erwählt:

       nicht Kain, sondern Abel und dessen Ersatz Seth,

       nicht Japhet, sondern Sem,

       nicht Ismael, sondern Isaak,

       nicht Esau, sondern Jakob,

       nicht Manasse, sondern Ephraim (1. Mose 48, 14),

       nicht Aaron, sondern Mose (2. Mose 7, 7),

       nicht Eliab, sondern David (1. Sam. 16, 6-13),

       nicht der erste König, sondern der zweite,")

       nicht der Alte Bund, sondern der Neue (Hebr. 8, 13),

       nicht Israel, sondern die Gemeinde.''')

    So nimmt Gott immer wieder „das Erste hinweg, auf daß er das

 Zweite aufrichte" (Hebr. 10, 9). Er erwählt sich das Schwache der Welt,

 auf daß er das Starke zu Schanden mache (1. Kor. 1,27). Er beruft sich

 die Letzten und macht sie zu Ersten, und die Ersten werden die Letzten

 sein (Matth. 19, 30). Und dies alles geschieht, „auf daß sich vor ihm kein

 Fleisch rühme'', sondern: „Wer sich rühmt, der rühme sich des HErrn"

 (1. Kor, 1, 29; 31).

 

  VI. Der Grundsatz der fortlaufenden Reformation

    Und doch! Was geschah? Aus den begnadeten Anfängen von Leben

 und Kraft ging stets ein Geschlecht voller Abfall hervor. Was die Väter

 im Glauben errungen, war meist bei den Kindern in der dritten Gene-

 ration schon verloren (Richter 2, 7), und das zum Babel gewordene Jeru-

 salem mußte schließlich — genau wie die einstige „Welt" — dem Gericht

 des Verderbens verfallen.")

    Sollte aber dennoch der göttliche Plan nicht versagen, so mußte not-

 

      D. h. nicht Saul, sondern David.

    ") Aus der Zeitschrift "Menetekel", 1931.

    ") Vgl. Kroeker, a. a. 0. S. 147.

 

 

 

 

 

 

60          Die Heilsgeschichte als Werk Gottes

 

wendig innerhalb dieses verflachten, inzwischen groß gewordenen Kreises

— dessen Väter die Träger einer früheren Reformation gewesen waren

— nunmehr ein neuer und kleinerer Kreis berufen werden, der jetzt der

Träger der Offenbarung wurde, so daß nun in ihnen die Reformation der

Vergangenheit gleichsam eine neue Reformation erlebte. Und da sich

dies im Verlauf der Zeit immer wieder vollzieht, ist die ganze Geschichte

der Erlösung geradezu von dem Grundsatz einer fortlaufenden Refor-

mation beherrscht, und die Heilsgeschichte gleicht einer Kurve mit den

stärksten Zickzackbewegungen im einzelnen, die aber als Großes und

Ganzes dennoch unaufhaltsam nach oben geht.

 

    VII. Der Grundsatz des heilsgeschichtlichen

                 Fortschritts

  Aber göttlicher Neuanfang ist nie bloße Rückkehr zum Alten. In

jeder aus dem Zusammenbruch herausgeborenen Reformation lag zu-

gleich ein keimhaftes Lebensprogramm für die Zukunft. Offenbarung

und Entwicklung sind durchaus keine Gegensätze, sondern gehören zu-

sammen. Auch im Bereiche der Bibel gibt es einen Aufstieg vom Nie-

deren zum Höheren, aus der Dämmerung zur Klarheit (Matth. 13, 16; 17;

1. Petr. 1, 10; 11; Joh. 16, 12). In Abram erkor sich Gott eine Einzelperson;

in Jakob erwuchs eine Familie; am Sinai wurde diese zum Folk. Jetzt

sammelt sich Gott ein übernationales Volk aus allen Völkern (Apg. 15,

14); im kommenden Gottesreich wird es eine universale Völkergemein-

schaft sein (Jes. 2,2-4; Jes. 19, 25), und zuletzt wird es einen neuen

Himmel und eine neue Erde geben (Off. 21, 1).

  Aber dies alles ist Gottes Werk, kein menschlicher „Fortschritt",

kein Aufstieg der Geschöpfe aus der Tiefe in die Höhe, sondern eine

Herablassung des Schöpfers aus der Höhe in die Tiefe; keine Entwicklung,

menschlicher Kräfte bis zur Entfaltung höchster, idealer Humanität, son-

dern eine Hinführung zu göttlichen Ewigkeitszielen, durch mächtige Taten

göttlichen Eingreifens in Liebe und Kraft. So wird denn durch göttliches

Tun von oben nach unten das irdische Sein von unten nach oben geführt,

bis zuletzt Gottes Herrlichkeit im Geschöpflichen erscheint und alles

Irdische im Himmlischen verklärt ist (Matth. 27, 51; Joh. 3, 13).

 

      

 

61

 

 3. Kapitel: Das Frührot des Heils

 

  Einem sonnigen Morgen hatte der Anfang der Menschheit geglichen.

Aus der Ewigkeit kommend, hatte die Zeit das Glück gleichsam in Hän-

den getragen. Im Paradiesessegen hatte Gott Himmel und Erde vereint.

  Doch dann kam die Sünde. Wie ein nachtschwarzer Gewittersturm

brach sie verheerend herein und vertrieb all diesen Morgenglanz aus der

Geschichte der Zeit. Fortan stand die Erde unter dem Schatten des Todes.

  Folgenschwer war auch das göttliche Gericht. Der Mensch hatte in

seinem Ungehorsam das Königsein Gottes verneint und den Herrscher

des Alls von dem Thron seines Herzens gestoßen. Sünde ist Aufruhr

gegen Gott, Empörung gegen den Höchsten, Rebellion des geschöpflichen

Einzelwillens gegen die göttliche Weltordnung. Nun trat das menschliche

Ich an die Stelle des abgesetzten Gottes und wurde der König auf dem

Thron. Nach Gottes Plan hatte der Mensch gewissermaßen ein geistlicher

Kopernikaner sein sollen, der, gleich einem Punkt auf der Kreislinie, von

Gott als seiner Sonne und seinem Mittelpunkt abhängt. Anstatt dessen

war er nun in den Irrtum des ptolemäischen Systems gefallen und stellt

sein eigenes Ich in den Mittelpunkt seines Lebens, um den sich fortan

alles andere, Gott und Welt, drehen müsse. „D a r um hat ihn auch

Gott an sein Ich hingegeben. Nun ist der Mensch gänzlich

gefangen unter seinem Ich. Er erwartet sein Glück, seine Erlösung von

seinem Ich. Er rechtfertigt sein Ich. Er rühmt sein Ich, und alle seine

Gedanken kreisen um sein Ich.

  Und zu dem Ich gesellt sich die Welt, die der Mensch in seiner Ver-

blendung Gott vorgezogen hatte. Mit dem Ich besteigt gleichzeitig die

Welt in ihm den Thron, und Gott gibt den M e n s c h e n auch

hin an die W e 1 t. Und da das Ich und die Welt nicht imstande sind,

den leeren Platz Gottes in ihm auszufüllen, setzt dieser rasende Hunger

der Menschenseele ein, der sie selbst zerquält, der Hunger nach Ich-

 geltung und Welt, nach Besitz und Genuß. Gerade dieser maßlose, uner-

 sättliche Hunger ist immer wieder ein Beweis, daß einst Gott das Men-

 schenherz befriedigt hatte, daß das Menschenherz auf Gott angelegt ist."

 

 

 

 

62            Das Strafurteil Gottes

 

   Auch im einzelnen verhängt Gott über den Sünder das Gericht.

    Das Weib wurde gerade in ihrem höchsten Beruf, im Mutter-

   und Weibsein, erfaßt (1. Mose 3, 16). Ihr kleinerer Kreis von Familie

   und Haus stand fortan unter dem Druck von allerlei Nöten.

    Den Mann traf die Strafe in seinem männlichen Beruf, in dem

   größeren Umkreis seiner Arbeit und seines Broterwerbs (1. Klose

   3, 17-19). In dem Mann aber wurde zugleich der menschliche Beruf

   ein sich betroffen, da ja Adam, als Haupt auch des Weibes, zugleich

   der Vertreter des Allgemein-Menschlichen war. Mühsal der Arbeit,

   Krankheit, Leiden und Tod sind von nun an das traurige Los aller

   Menschen. Mit dem Augenblick des Sündigens (1. Mose 2, 17b!) war

   der geistliche Tod und mit ihm auch — unter dem göttlichen Gericht

   — das Aufhören der leiblichen Todeslosigkeit eingetreten. Nachdem

   sich der Geist von seinem Zentrum, Gott, losgesagt hatte, rissen sich

   nun auch, infolge des Strafurteils Gottes, die leiblichen-und seelischen

   Lebenskräfte von ihrem Zentrum, dem Geiste, los, und das Ende

   dieser Trennung von Leib, Seele und Geist ist der leibliche Tod

   (Röm. 6, 23). Fortan ist das „Leben" nur ein allmähliches Sterben,

   und die Geburt ist der Anfang des Todes.1)

   Da aber Adam, als der Stammvater der Menschheit, zugleich auch ihr

organischer Stellvertreter war, setzte sich Tod und Verderben auch auf

alle seine Nachkommen, auf das ganze, von ihm stammende Menschen-

geschlecht fort. Der Fall war universal (Röm. 5, 12--21; 1. Kor. 15, 21).

   Infolge der geistseelisch-leiblichen Fortpflanzung der Menschheit

besteht ein geheimnisvoller, organischer Zusammenhang zwischen jedem

einzelnen und der gesamten menschlichen Art, und dadurch mit Adam

als dem Stammvater und Urbild des Ganzen. Jeder einzelne ist ein Teil

seiner Vorfahren und ein Teil seiner Nachkommen, ein Durchgangs-

 

  1) Vor dem Sündenfall war der menschliche Leib, wenn auch nicht gerade

unsterblich, so doch zum mindesten nur sterbensfähig, nicht aber sterblich. Das

Sterben war keine Unmöglichkeit, aber auch keine Notwendigkeit. Der Mensch

besaß, um mit Augustinus zu reden, sowohl die Möglichkeit, nicht zu sündigen

und nicht zu sterben (das posse non peccare et mori), wie auch die Möglichkeit.

zu sündigen und zu sterben (das posse peccare et mori). Durch den Sieg in der

Versuchung sollte er in die Unmöglichkeit, zu sündigen und zu sterben, empor-

steigen (aus dem posse non peccare et mori in das non posse peccare et mori).

Nach seiner Niederlage aber befindet er sich in der Unmöglichkeit, nicht zu sün-

digen und zu sterben, d. h. er m u ß sündigen. Er ist im non posse non peccare et

non mori.

 

             

 

 

Die Erbsünde        

63

 

punkt des Blutstroms seiner Eltern und Ahnen. „Die Seele alles Fleisches

ist im Blute" (3. Mose 17, 11; 14; Apg. 17, 26).

  Daher die Betonung der Stammbäume in der Schrift (z. B. 1. Mogie 5;

1. Chr. 1-9) und die Bedeutung der Vererbungsgesetze in Familie und

Volk. Daher auch die artgemäßen Gleichheiten und Verschiedenheiten

der Nationen und Rassen und der gleichartige und dennoch unterschied-

liehe Erbgrund des Denkens und Empfindens von Volk zu Volk, das

heißt, von Seele zu Seele. Daher auch die tibertragung der U n vollkom-

menheiten und Charakter f e h 1 e r der Ahnen, das Weitergehen des

Bösen von Generation zu Generation, das radikale, zentrale, totale Ver-

derben aller, die Wurzelkrankheit der Menschenseele, das Verlorensein

jedes einzelnen, das Vergiftetsein des Gesamtorganismus, das heißt, die

Erbsünd e. „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer" (Ps. 14, 3

vgl. Ps. 51, 7; Joh. 3, 6; 1. Mose 8, 21 vgl. Hebr. 7, 9-10).

  Die Gesamtheit aller natürlichen Menschen bildet eben einen rassisch

gegliederten, ungeheuren Organismus, und jeder einzelne ist — schon

durch seine bloße Geburt — unentrinnbar ein Glied desselben. Er ist

„in" Adam (1. Kor. 15, 22). Die Menschheit ist nicht eine bloße Zusam-

menzählungssumme vieler getrennter Einzelpersönlichkeiten, sondern ein

einziger, ungeheurer „Leib", der, seinem Ursprung und Wesen nach, nur

den einen, ins Milliardenfache vermehrten und differenzierten Stamm-

vater Adam darstellt. Daher auch die Allumfassenheit des Falls und die

Ausnahmslosigkeit der Sünde (Röm. 5, 12; 3, 10-12; 23); daher auch die

Notwendigkeit der Wiedergeburt jedes einzelnen (Joh. 3, 3) und der

Menschwerdung Christi als des Heilands und Erlösers (Röm. 5, 12-21).

  Die N a t u r. Indem aber Adam durch seinen Ungehorsam die

Herrschaft des Schöpfers über sich. verneint hatte, hatte er zugleich auch

seine eigene Herrschaft über die Schöpfung zerrüttet. Zwar blieb seine

Herrschaft als solche bestehen — denn der Herrscherberuf des Menschen

gehört mit zu seinem unverlierbaren Gottesbild —;') aber die Ausübung

und Steigerung dieser Herrschaft stürzt den gottgelösten Menschen in

immer neue Nöte. Was ihm zum Segen werden sollte, wird ihm zum

Verderben,$) und gerade aus der Höhe seiner Berufung ergibt sich ein

desto tieferer Sturz.

  Und noch mehr. Auch die irdische Schöpfung in sich wird betroffen.

 

  ') Vgl. S. 45, Anm. — Auch S. 74.

  3) Man denke nur an die Auswirkungen vieler neuerer Erfindungen.

 

 

 

 

64            Die Zerrüttung der Natur

 

"Ist das Haupt bei Gott, so sind es die Glieder auch. Fällt die Krone der

Schöpfung in den Staub, so werden auch die lintertanen mit in den

Sturz hineingerissen" (A. Köberle). Dies fordert der organische Zusam-

menhang von Geist und Natur. Aus ihm folgt, beim Eintritt des Falls,

eine „Verklammerung von geistiger und leiblich-irdischer Not, von inne-

rem und äußerem Schaden, von Weltschuld und Weltleid, von Mensch-

heitssünde und seufzender Kreatur".4) Aus der Pflanzenwelt hatte der

Gegenstand der Versuchung, aus der Tierwelt das Werkzeug des Ver-

suchers gestammt. So bleiben sie nun beide, das Pflanzen- und Tierreich,

um des Menschen willen gebannt (1. Mose 3, 17), und die Schöpfung, die

durch den Menschen ihrer Erlösung und Vollendung hatte entgegen-

geführt werden sollen,) bleibt weiterhin der Nichtigkeit unterworfen. So

bietet sie noch heute jenen rätselhaften Zwitterzustand dar, der in

seinem Widerstreit von Glück und Unglück, Weisheit und Unvernunft,

Zweckmäßigkeit und Zerrüttung sowohl den Gottesglauben wie auch die

Gottes/eugnung unmöglich zu machen scheint') Jubel und Jammer, Güte

und Grausamkeit, Lebensfreude und Todesweh — das alles durchzuckt

nun den Organismus der Erdwelt. Jetzt gleicht die Natur einem groß-

artigen Tempel in trümmerhaftem Zustand, dessen tiefsinnige Inschrif-

ten von feindlicher Hand boshaft karikiert worden sind.7) Und der

Mensch, der Beherrscher der Erde, ist doppelt entartet: „Entweder wird

er, in seiner Bestialität, zu einem Satan für das Geschöpf; oder aber, er

 

  4) A. Köberle, Christentum und modernes Naturerleben, Gütersloh 1932, S. 57.

— Hiermit stimmt auch die Erkenntnis der modernen Krankheitskunde und Psy-

chotherapie überein: „Schwere seelische Lähmungen bewirken Parallelvorgänge im

Physischen, wie auch seelische Befreiungen körperliche Hemmungen mit auflösen

können" (Köberle, a. a. 0. S. 60).

  5) Vgl. Seite 49. 50.

    ,,Die Welt ist so schön, daß wir Gott und unsere Schuld vor ihm darüber

eine Zeitlang vergessen können, und die Welt ist so furchtbar, daß wir an Gott

deswegen oft verzweifeln möchten" (A. Köberle). „Die Welt redet zu uns wie

eine Offenbarung Gottes; sie starrt uns aber auch entgegen wie ein Rätsel Gottes"

(Ph. Bachmann). Daher auch die Zwiespältigkeit des allgemein-menschlichen Na-

turerlebens und sein Schwanken zwischen Naturverherrlichung und Naturverach-

tung, Naturseligkeit und Naturentfremdung, Naturvergötterung und Naturpessi-

mismus. Erst das Evangelium löst diese Spannung durch die Botschaft von der

Natur verklär un g, durch die Auflösung aller Dissonanzen, die in der Jetztzeit

die Natur durchzittern, durch das Eintreten der Weltvollendung und das Kommen

der Geistleiblichkeit.

  7) Vgl. v. Gerdtell, a. a. 0. S. 13.

 

              

 

 

 

Die Sehnsucht der Schöpfung

65

 

kniet anbetend in knechtischer Furcht vor dem Geschöpf..Naturvergötte-

rung beginnt, wo die Gotteserkenntnis verschwindet" (Kroeker), und

der „Herr" wird beides: sowohl Sklave als auch Tyrann.

   Durch die Schöpfung aber klingt, wie ein leises Gebet, ein schmerz-

volles Sehnen. Sie gleicht „mit ihrem von Wehmut angehauchten Zauber

einer Braut, die, schon ganz geschmückt für die Hochzeitsstunde, eben an

dem dazu bestimmten Tage den Bräutigam hat sterben sehen. Da steht

sie nun, noch den frischen Kranz auf dem Haupt, im Brautschmuck; aber

ihre Augen sind voll Tränen".')

   Und doch ist sie nicht ohne Hoffnung ihrem Seufzen unterstellt

(Röm. 8, 20). Einer gefangenen, aber harrenden Jungfrau gleich, die am

Gestade des Meeres mit erhobenem Haupte nach dem Befreier aus

fernem Lande ausspät, so sehnt sie „in hochgespannter Erwartung" ihre

Erlösung aus der Knechtschaft der Nichtigkeit herbei') „Wir wissen, daß

die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen

liegt bis jetzt" (Röm. 8, 22).

   Was aber soll sie denn gebären? — Den neuen Himmel und die

neue Erde!

   Dann aber wird all ihre Sehnsucht gestillt, und ihr stummes Gebet

wird erhört sein. „An jenem Tage, da werde ich erhören, spricht der

 HErr. Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören.

 und die Erde wird erhören das Korn und den Most, und sie, sie werden

 Jisreel erhören" (Hosea 2, 21; 22 Elb.).

   Aber gerade der Erde Leid dient mit zur Erlösung des Menschen.

 Denn gerade dadurch, daß sie ihm das nicht bieten kann, was er von ihr

 erwartet, löst sie ihn selber von seinen falschen Hoffnungen und nährt

 seine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese. So sollen seine Ent-

 täuschungen am Irdischen den Menschen frei zu machen helfen für das

 Verlangen nach dem Himmlischen, damit er am Ende das Bekenntnis

  ablegen kann: „Siehe, zum Heile ward mir bitteres Leid" (Jes. 38, 17 M.).

 

   8) Schelling in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung"

  (s. C. A. Flügge, Der Schriftforscher, 5. Aufl., Kassel, Heft 13, S. 7).

   .) Röm. 8, 19. Das mit „ängstliches Harren" (Luther) wiedergegebene grie-

  chische Wort apokaradokia bedeutet eigentlich ein (durch griechisch apo) ver-

  stärktes Ausspähen mit erhobenem Haupte (kara = Haupt). Paulus vergleicht

  die Schöpfung einer menschlichen Gestalt, die in hochgespannter Erwartung Aus-

  schau hält — ein sinnreiches Motiv für eine künstlerische Darstellung der Hoff-

  nung.

  5 sauer, Das Morgenrot der WelterliiEung

 

 

 

 

 

66         Das Gericht über die Schlange

 

  Das Ge ri cht üb er die Schlange. Am deutlichsten zeigt sich

das Frührot des Heils in dem Urteilsspruch über die Schlange (1. Mose

3, 15). Hier beweist das „Urevangelium", wie die durch das Dunkel des

Zornes hindurchstrahlende Gnade den Fluch über die Schlange zur Ver-

heißung für den Menschen gestaltet hat. In dem Augenblick, wo der

Sünder, auf das Strafurteil wartend, als Angeklagter vor Gott stand,

konnte ihm natürlich keine u n mittelbare Verheißung gegeben werden.

Dennoch mußte ihm, dem Hörenden und Zitternden, das Gerichtsurteil

des Verderbens über seinen Verderber zum Hoffnungsstrahl für ihn

selber werden. Zwar war also „die Vorderseite des Urevangeliums Ge-

richt; aber die Rückseite bedeutete Verheißung für die Menschheit."

  Zunächst ist jedoch der Sinn der Weissagung noch dunkel; denn

wenn Satan durch die Schlange dargestellt war, so konnte der Schlangen-

„same” doch nichts anderes sein als die Gesamtheit aller dämonischen

und menschlichen Wesen, die, als gottfeindliche „Otternbrut" (Matth.

3, 7; 12, 34; 23, 33), auf der Seite des Teufels stehen würden — also nicht

ein einzelne r, sondern eine Viel heit von Wesen. Dann aber for-

derte die Harmonie der gleichlaufenden Gegenüberstellung, daß auch der

Weibessame nicht nur eine Einzelperson, sondern ebenfalls eine V i e 1 -

heit von Nachkommen sei, nämlich die Gesamtheit aller derer, die sich

 gläubig auf den Boden der dem Weibe gegebenen Verheißung stellen

 würden. Nur i n direkt konnten die ersten Menschen ahnen, daß auch

 die Nachkommenschaft des Weibes dereinst in einer Einzelpersönlichkeit

 gipfeln würde; denn wenn es in dem Schlußsatz der Weissagung heißt,

 daß der Weibessame nicht nur dem Schlangensamen-. sondern geradezu

 dessen Haupt, der Schlange selbst, den Kopf zertreten werde, so ließ sich

 daraus unter Umständen die Erkenntnis gewinnen, daß auch er selbst

 einst in einem Haupt, einer Einzelperson, seinen Gipfelpunkt erreichen

 werde.

   Erst heute sehen wir, rückwärts schauend und belehrt durch die Aus-

 legung späterer Weissagungen und Erfüllungen (bes. Jes. 7, 14; Matth.

 1, 21-23; Micha 5, 2; Gal. 4, 4), daß Gott hier zum ersten Male — wenn

 auch nicht ausschließlich, so doch einschließlich, ja vornehmlich — von

 Christo, seinem Sohne, gesprochen hat (Röm. 16, 20; 1. Joh. 3, 8 b). Dieser

 ist, als der Mittelpunkt der Menschheit, zugleich Zentrum des Weibes-

 samens. Erst von hier aus verstehen wir auch, warum Gott nicht von

 einem „Mannes"samen, sondern von einem „Weibes"samen gesprochen

 

             

 

 Das Urevangelium     

67

 

hat (vgl. Matth. 1, 18), und gleichzeitig eröffnet dies Weissagungswort

vom Fersenstich und vom Kopfzertreten jene wundersame Reihe von

göttlichen Aussprüchen, welche „die für Christus bestimmten Leiden')

und seine darauffolgenden Verherrlichungen") im voraus bezeugten

(1. Petr. 1, 11). Der Doppelcharakter aller späteren prophetischen Per-

spektive — nämlich das erste und zweite Kommen Christi in einem

Bilde zusammenzuschauen (z. B. Jes. 61, 1-3 vgl. Luk. 4, 17-20) — ist

somit schon hier vorhanden; und in diesem Sinne ist das Urevangelium,

nicht nur die Urwurzel, sondern auch das Urbild aller Messiasprophetie.

   So ist gleich das erste Verheißungswort das umfassendste und aller-

tiefste. Die ganze Heilsgeschichte und Heilsordnung ist in ihm verborgen.

„Allgemein, unbestimmt, dunkel, wie die Urzeit, der es angehört, wie

eine Ehrfurcht gebietende Sphinx vor den Trümmern eines geheimnis-

vollen Tempels, liegt es, wunderbar und heilig, an der Schwelle des ver-

lorenen Paradieses. Erst spät") beginnt in der israelitischen Prophetie

seine Lösung anzudämmern. Aber erst der Sohn der Maria, der Jungfrau,

der für uns alle den Fersenstich der Schlange erduldete, um ihr den Kopf

zu zertreten für uns alle: erst e r hat dies für alle Heiligen und Prophe-

ten allzu schwere") Rätsel dieser Sphinx gelöst, indem er es erfiillt hat."

Erst der Höhepunkt der Verheißung — der Immanuel selber — hat den

lnhall der Verheißung ans Licht gestellt. „Erst das Neue Testament ist

der Schlüssel zu dieser Hieroglyphe des Alten Testaments; erst das

Evangelium ist die Auslegung des Urevangeliums."

   Auf diese erste Ankündigung der Erlösung folgte alsbald

   Die Bekleidung der Menschen mit Tierfellen. Zum

erstenmal tritt ein blutiger Tod eines unschuldigen Wesens zugunsten

des gefallenen Menschen ein. Der Grundsatz des Opfers wird aufge-

richtet (1. Mose 3, 21).1 Und wie die unzureichenden Feigenblätter Aus-

 

   10) Vgl. den „Fersenstich".

   11) Vgl. das „Kopfzertreten".

   1') Erst in der Immanuelsweissagung des Jesaja (Jes. 7,14 vgl. Micha 5, 2).

 also um 700 v. Chr., d. h. über 3500 Jahre nach der ersten Verkündigung des Ur-

 evangeliums selbst (um 4200 v. Chr.).

   ") Matth. 13, 17; 1. Petr. 1,10-12.

   14) Ebenso erklären Franz Delitzsch a. a. 0. S. 192 f.), v. Hofmann, Keil, Haar-

 heck (Bibl. Glaubenslehre, Elberfeld 1930, S. 98), W. Vischer (Das Christuszeug-

 nis des Alten Testaments, München 1935, S.82).

 5•

 

 

 

 

68           Die Einsetzung des Opfers

 

druck und Anfang aller menschlichen Seibsierlösungsversuche gewesen

waren, so sind nun die dem göttlichen Wort glaubenden und daraufhin

von Gott selbst um den Preis eines unschuldig vergossenen Blutes be-

kleideten ersten Menschen das Urbild aller derer, die sich im Glauben

an das Opfer des Lammes Gottes (Joh. 1, 29) haben umhüllen lassen mit

den Gewändern des Heils und dem Schmuck ewiger Reinheit und Heilig-

keit (Jes. 61, 10; Matth. 22, 11; 12; Kot. 3, 12; Gal. 3, 27).") Damit aber

wird jene Bekleidung am Anfang der Menschheitsgeschichte eine Sinn-

bildliche Weissagung auf die Mitte der Heilsgeschichte, auf das Kreuz

von Golgatha, und zugleich ein Hinweis auf das selige E n d e, wenn

 Gott einst seine Erwählten bekleidet haben wird mit dem neuen Auf-

 erstehungsleibe (Phil. 3, 20; 21; 2. Kor. 5, 2-4; 1. Joh. 3, 2) und dem hoch-

 zeitlichen Kleid der Verherrlichung (Off. 19, 8).

   Die Austreibung aus dem Paradiese. Aber nur außer-

 halb des Paradieses konnte der Mensch sein Paradies wiederfinden. Denn

 Sünde ist Trennung von Gott. Gott aber ist der Urquell alles Lebens.

 Also ist Sünde Trennung vom Leben, das heißt geist-seelisch-leiblicher

 Tod (Röm. 6, 23).

   Soll aber dennoch eine Erlösung bewirkt werden können, so muß die

 Sünde eine Sühnung finden, und diese muß, um der Gerechtigkeit willen,

 der Schuld entsprechen, also ebenfalls in der Trennung vom Schöpfer

 und Leben, das heißt im Tode bestehen (Hebr. 9, 22). Nur so kann das

 wahre Leben wiederhergestellt werden. Die Erlösung muß darin be-

 stehen, daß der Tod, dieser große Feind des Menschen, zum Mittel seiner

 Errettung gemacht wird (4. Mose 21, 6; 9; Joh. 3, 14), und das, was die

 Strafe der Sünde ist, muß zugleich Ausweg aus der Sünde werden (vgl.

 1. Sam. 17, 51). Nur durch den Tod kann dem Tode der „Tod" bereitet

 werden.")

   Dann aber muß ein Sterben in der Menschheit überhaupt möglich

 sein, und auch daher die Notwendigkeit einer Austreibung aus dem

 Paradiese und eines Abgeschnittenwerdens der sündigen Menschheit

 NOM Lebensbaum (1. Mose 3, 13; 24). Ein weiteres Verbleiben im Para-

 diese und eine fortgesetzte Verjüngung seiner äußeren Lebenskraft hätte

 

   ") Ebenso Franz Delitzsch, a. a. 0. S. 192 f., v. Hofmann u. a.

   ") So hat Christus „durch seinen Tod" dem die Macht genommen, „der die

 Gewalt des Todes hat, dem Teufel" (Hebr. 2, 14). Sein Tod am Kreuze hat die

 Feindschaft „getötet" (Eph. 2, 16).

 

        

 

 

 

69  Die Austreibung aus dem Paradiese

 

für den Menschen nichts anderes bedeutet als die Verewigung sein

Sünde, seine Verurteilung zur Unerlösbarkeit und damit ein nie au

hörendes Verderben. Eine leibliche Unsterblichkeit des Sünders wät

ein ewiges Sterben seiner Seele und das Paradies eine Hölle gewordei

Darum ist die Ausweisung aus dem Garten, so negativ sie auch scheine

rnag, dennoch positiv in ihrem Ziel. In allem Nehmen war Gott ar

Geben. Er überwies den Sünder dem leiblichen Tode, um ihn aus der

ewigen Tode zu retten; und so ist der Akt des Gerichts zugleich ein

Gnadenhandlung erlösender Liebe.

   So hatte sich dreifach die Tür des Paradieses geschlossen, im Gerich

über den Mann, das Weib und die Schöpfung; aber dreifach hatte siel

auch das Tor der Erlösung geöffnet:

     als Verheißung des Heils — im Urevangelium,

     als Vorausschaltung des Heils — in der neuen Bekleidung dei

    ersten Menschen und

     als Ermöglichung des Heils — in ihrer Ausweisung aus dem

    Paradiese.

   Dreifach ist aber auch der innere Besitz, den der Mensch, nach dem

Fall, auf den Weg seiner Geschichte mitnahm:

     im Blick auf die Vergangenheit — die wehmütige Erinnerung,

    die noch Jahrtausende später den geschichtlichen Hintergrund und

    äußersten Saum aller Völkerkunde vom verlorenen Paradiese

    bildet;

     im Blick auf die Gegenwart — den zuversichtlichen Glauben,

    der auf den Felsen und Stern der im Urevangelium gegebenen

    Verheißung schaut') und

 

   17) Schon Adam glaubte an das Urevangelium vorn kommenden Weibessamen

 (1. Mose 3, 15). Dies beweist der Name Eva (hebräisch Chawwa, Leben), den er

 seinem Weibe (Ischa, Männin, 1. Mose 2, 23) sofort nach der Urverheißung, gerade

 unmittelbar vor der Austreibung aus dem Paradiese gab (1. Mose 3, 20, Zusam-

 menhang). „Im Tode versunken hat er seinem Weibe dennoch einen so stolzen

 Namen gegeben" (Calvin) und darin seinen Glauben an die Überwindung des

 Todes durch das Leben zum Ausdruck gebracht. So war es „eine Glaubenstat,

 daß Adam sein Weib Eva nennt" (Franz Delitzsch), und der neue Name seines

 Weibes war für den Menschen fortan das „Merkwort der verheißenen Gottes-

 gnade" (mnemosymon gratiae Dei promissae, Melanchthon), Oder wie Luther es

 vom Urevangelium in seiner Art sagt: ,,Daran glaubt Adam, davon er zum Chri-

 sten und selig geworden ist von seinem Fall." — Daß auch Eva sich glaubend auf

 den Boden des Verheißungswortes stellte, beweist ihr Ausspruch 1. Mose 4, 1.

 

 

 

 

 

70         Die Sehnsucht der Menschheit

 

    im Blick auf die Zukunft — die hoffende Sehnsucht, gleichsam

   als Tochter aus Erinnerung und Glauben geboren. Und nun schwebt

   dies Sehnen dem Wanderer wie ein himmlischer Engel auf dem

   Weg in der Wüste voran. Es zeigt ihm Oasen im Sande der Dürre,

   belebt seine Kraft, beflügelt seine Schritte und lenkt fröhlich seinen

   Blick auf das Ziel:

        „Selig sind, die das Heimweh haben,

        denn sie sollen nach Hause kommen.`•18)

  18) Jung-Stilling.

 

 

 

 

  4. K a p i t e 1: Zwei Menschheitswege

 

71

   Der neue Zeitabschnitt trug ein besonderes Gepräge. Sein Haupt-

zweck war, offenbar zu machen, was die Sünde in der Menschennatur

eigentlich bewirkt hatte. Darum war er von drei leitenden Grundsätzen

beherrscht; er vollzog sich

     1. ohne besondere grundsätzliche Befehlseinrichtungen Gottes

    (lies 1. Mose 3, 14-19),

     2. in fast lediglicher Beschränkung der Offenbarung auf das

    Zeugnis von Natur, Gewissen und Geschichte') und

     3. ohne grundsätzliche, irdische Kontroll- bzw. Strafinstitutionen

    für den Sünder für den Fall seines Ungehorsams.

   In der Paradieseszeit hatte es Verbot und Gebot gegeben (1. Mose

 2, 16; 17). Dasselbe war in allen späteren Haushaltungen der Fall. Nur

 hier in der Zeit zwischen Adam und Noah, als der einzigen derartigen

 Periode im gesamten göttlichen Heilsplan, hatte die Menschheit grund-

 sätzliche Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Keine Obrigkeit

 und keine Regierungsgewalt waren von Gott eingesetzt, um den Sünder

 in der Selbstoffenbarung seiner Schlechtigkeit einzuschränken. Der

 Mensch sollte eben ungehinderte Gelegenheit bekommen, zu zeigen, was

 er leisten konnte, und zu offenbaren, was er werden würde, wenn er sich

 "frei" entwickelte. Damit aber wird dieser zweite Zeitabschnitt des

 

   1) Man hat darum diesen Zeitabschnitt das „Zeitalter des menschlichen. Ge-

 wissens" genannt. Da aber das Gewissen nicht etwas dieser Haushaltung aus-

 schließlich Eigentümliches ist, sondern auch in allen späteren Heilsperioden weiter-

 besteht (vgl. Röm. 2, 15; 14,22; 1. Petr. 3, 16), während das Fehlen aller besonde-

 ren Anordnungen und grundsätzlichen Kontroll- bzw. Strafeinrichtungen Gottes

 das eigentlich Charakteristische dieser Zeit ist, erscheint der Name „Zeitabschnitt

 der Freiheit" schon wesentlich treffender. Da jedoch „Freiheit" ein viel zu idealer

 Begriff ist, ist „Zeitabschnitt der menschlichen Selbstbestimmung" wohl die noch

 passendere Bezeichnung. Und da Gott in jener Zeit nicht nur durch das Zeugnis

 des Gewissens, sondern durch die drei fache Offenbarung in Natur, Gewissen

 und Geschichte sich dem Menschen kundtat, wäre die Bezeichnung „Zeitabschnitt

 der allgemeinen Gottesoffenbarung" wohl die allerbeste.

 

            Kains geistig-religiöse Natur

 

72

 

Heilsplans zum „Zeitabschnitt der menschlichen Selbstbestimmung",

oder, um mit Delitzsch zu reden, zur Zeit der „Freiheitsprobe" des.

Menschengeschlechts. Das Ende aber ist — die Sintflut!

  Schöpfer der vorsintflutlichen Kultur ist Kain. Zugleich ist er Urbild

und Grundform der ganzen, aus ihm hervorkommenden Menschheits-

geschichte, sofern diese sich in Loslösung von Gott und in innerer Ge-

meinschaftslosigkeit in bezug auf den Höchsten entwickelt.

 

        I. Kains geistig-religiöse Natur

  Kain war nicht ein Vertreter religiöser Gleichgültigkeit oder gar

Gottesleugnung. Er brachte vielmehr Gott ein Opfer dar und „brannte"')

vor Neid, als er Abels, aber nicht seine Gabe anerkannt sah. Aber er

war, weil ihm die innere Frömmigkeit fehlte, trotz seines äußeren Gottes-

dienstes, der erste Mensch, der „aus dem Bösen" war (1. Joh. 3, 12).

   Und aus der falschen Gesinnung des Opfernden ergab sich von selbst

ein falscher Inhalt seines Opfers. Während Abel sein Erstes und Bestes

brachte (1. Mose 4, 4), opferte Kain kein Erstlingsopfer, sondern das

„Erstebeste”, ein Irgend-Etwas, das er gerade fand. Und während Abel

ein blutiges Opfer darbrachte und damit die Todeswürdigkeit seiner

Sünde anerkannte,3) die nur durch das stellvertretende Sterben eines

unschuldigen Opfers vor Gott zugedeckt werden konnte, brachte Kain

einen lediglichen Ausdruck seiner Abhängigkeit und Dankbezeugung dar

und als diesen noch dazu ein selbsterarbeitetes Erzeugnis der eigenen

Kraft') Damit aber wird er zum Vorbild aller derer, die es wagen, dem

Heiligtum Gottes ohne Blutvergießen zu nahen (Hebr. 9, 22), die sich

wohl als ein abhängiges Geschöpf, nicht aber als todeswürdigen Sünder

bekennen.

   Und von nun an gehen diese zwei „Wege" durch die Menschheit

hindurch:

     auf der einen Seite d e r „W e g Kain s" (Jud. 11): die fleisch-

    liche Religiosität und der eigenwillige Gottesdienst, die ichzufrie-

    dene Werkgerechtigkeit und die ungebeugte Se/bsterlösung, das

 

   3) 1. Mose 4,5 wörtlich: „Da brannte es in Kain." „Es wurde dem Kain glü-

hend."

   3) Wohl im Hinblick auf die göttliche Einsetzung des Opfers bei der Beklei-

dung der ersten Menschen mit Tierfellen (1. Mose 3, 21).

   4) Vgl. Franz Delitzsch, a. a. O. S. 200 f. Ebenso erklärt G. Menken.

 

 

 

 

 

 

               Kains politisch-kulturelle Bedeutung

73

 

     Vertrauen auf sich selbst und die Verwerfung der Stellvertretung,

     — dieser „Idealismus" der eigenen Kraft, diese Theologie des

     ersten Mörders, dieser "Glaube" des Schiangensamens (vgl. Jak.

     2, 19);

      auf der andern Seite aber d e r „W e g" A b els: die demütige

     Anerkennung der Todeswürdigkeit der Sünde, das Vertrauen des

     Schuldigen auf das von Gott selbst gestellte Opfer, das Erdulden

     von Verfolgung um des ewigen Zieles willen, die Erwartung des

     Triumphes der Gotteserlösung des Weibessamens.

   Das Ende aber wird umgekehrt dem Anfang entsprechen: die Linie

des getöteten Abel wird zum ewigen Leben gelangen (Hebr. 11,40; 4);

aber Kains Weg wird untergehen. Die höchste Vollendung von „Abel"

ist Christus und in ihm die Menschwerdung des heiligen Gottes; die

höchste Verstiegenheit „Kains" aber ist der Antichrist und in ihm die

Selbstvergottung des fluchbeladenen Sünders (2. Thess. 2, 4). Darum

endet der Weg des einen im himmlischen Jerusalem (Hebr. 12, 22-24),

der des andern aber im Feuersee (Off. 19, 20).

   Und wie der erste „Krieg" in der Menschheit gleichsam ein Reli-

gionskrieg gewesen war (1. Mose 4), so wird es — vor wie nach dem

irdischen Gottesreich der Endzeit — auch der letzte sein (Off. 16, 16; 19,

19 — Off. 20, 8; 9). Dann aber wird sich das göttliche Dulden erheben

zu frohlockender Siegesgewalt, und Abels Glaube wird triumphieren über

Kains Religion.

 

      II. Kains politisch-kulturelle Bedeutung

    Mit seinem Grundsatz der Selbsterlösung wurde Kain der Anfänger

 aller gottfernen Menschheitsentwicklung. Er, der nach dem göttlichen

 Strafurteil „unstet und flüchtig" sein sollte (1. Mose 4, 12), stemmt sich

 nun eigenwillig gegen den Fluch und wird, in trotzigstem Widerspruch

 gegen das göttliche Wort, sogar der aller erste Mensch, der eine feste

 Niederlassung, eine „Stadt", baut (1. Mose 4, 17).

    Damit ist die Grundrichtung aller ferneren Menschheitsentwicklung,

 sofern sie von Gott wegführt, gegeben: Überwindung des Fluches auf

 dem Wege gottgelöster Kultur, Zurückgewinnung des Paradieses ohne

 das Erlebnis der Erlösung, Zusammenballung der Fleischeskraft ohne

 Anerkennung der Gottesherrschaft und also Selbsterlösung der Mensch-

 heit unter Ausschaltung der Gottheit.

 

 

 

 

74                  Biblische Lebens- und Kulturbejahung

 

      Bezeichnend hierfür ist schon der Name dieser ersten menschlichen

  Stadt: „Henoch", „Einweihung", Neuanfang, Umstellung alles Bisherigen,

  Neubeginn eines eigenherrlichen, gegen Gott revoltierenden, gemein-

  schaftlichen Kulturlebens (1. Mose 4, 17).

      Damit aber tritt diese erste Stadt in Gegensatz zum Urevangelium.

 Beide sind Neuanfang nach dem Zusammenbruch. Aber dort war es der

 Neubeginn Gottes auf dem Wege der Erlösung; hier ist es der Neu-

 anfang der Menschheit auf dem Wege Gott ausschaltenden „Fortschritts".

 An sich sind Kulturerrungenschaften nichts Widergöttliches, sondern,

 im Gegenteil, gehören mit zum Paradiesesadel der Menschheit. Erfin-

 dungen und Entdeckungen, Wissenschaften und Künste, Verfeinerung

 und Veredelung, kurz, das Vorwärtsschreiten des Menschengeistes sind

 durchaus Gottes Wille. Sie sind Besitzergreifung der Erde durch das

 Königsgeschlecht der Menschheit (1. Mose 1, 28), Ausführung eines

 Schöpferauftrags durch Gottes geadelte Diener, gottgeordneter Herr-

 scherdienst zum Segen der Erdwelt. Und nur völliges Mißverstehen aller-

 einfachster Offenbarungsgesetze ist imstande, der Heiligen Schrift rück-

 schrittliche Denkart und Kulturfeindschaft vorzuwerfen. Nein, was die

 Bibel ablehnt, und was das „Kainitische" ist, ist nicht die Kultur an sich,

 sondern die Gottentfremdung von Millionen ihrer Vertreter, die Him-

 melsferne der Sünder, die Unwahrheit „religiösen" Scheinwesens, die

 Rücksichtslosigkeit gegen den Nächsten, der Geist des Hochmuts und

 der Rebellion, kurz, der Aufruhr gegen den Höchsten.

     Und wie Ungebrochenheit und Trotz das kainitische Wesen nach

 oben, zu Gott, hin kennzeichnete, so Unterdrückung und Gewalttat nach

 unten und außen, zur Mitmenschheit, hin. Damit aber wird Kain, der •

 Brudermörder, zum ersten Vertreter des Religionskrie-

 ges und Krieges übe rhaupt, zum Urtypus aller Tyran-

 nen und Blutherren der Welt, zum Vater alles Massen-

mordgeistes aller brutalen Barbarei. Darum ist seine

Stadt auch der erste Grundstein aller sich von Gott lossagenden Welt-

reiche, sofern in ihnen der Geist des Tieres herrscht (vgl. Dan. 7, 2-8;

8, 3-7; Off. 13, 1; 2), der in vielem verhängnisvoll richtunggebende An-

lang der an Großartigem sonst so reichen Weltgeschichte, „durch welche

 sich die Offenbarungsgeschichte hindurchwindet wie das Wasser Siloah,

 das da stille geht (Jes. 8, 6). Von Bußtränen geht diese aus, über Bruder-

 blut erhebt sich jene. Dort entfaltet Gotteskraft den verheißenen Segen;

 hier ringt Menschenkraft vergeblich gegen den göttlichen Fluch".

 

                

 

 

 

  Die kainitische Urkultur    

      75

 

          III. Die herrschenden Grundzüge

            der kainitischen Kulturwelt

   „Gleichwie die Tage Noahs waren, also wird auch die Ankunft des

Menschensohnes sein" (Mattb. 24,37). Wie im Heilsplan die göttlichen

Grundsätze, einem Kreislauf gleich, am Ende zum Anfang zurückkehren,

so entsprechen auch in der Geschichte der Kultur die letzten Perioden

den ersten. Darum ist die Erforschung jener alten Vergangenheit zugleich

eine Botschaft für die spätere Zeit, und insonderheit ist die kainitische

Kulturwelt das keimhafte Urbild für die Weltlage der Endzeit.

   Dies ist sie durch ihre folgenden sechs Grundzüge:5)

   1. Schneller Fortschritt in allen mechanischen

K ünste n. Die entscheidende Geistesrichtung der vorsintflutlichen

Menschheit war der Versuch, das verlorene Paradies gleichsam durch ein

künstliches zu ersetzen. Schneller als bei den Sethiten vollzog sich der

„Aufstieg" bei den Kainiten; denn „die Kinder dieser Welt sind klüger

als die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht" (Luk. 16, 8). Durch Kain

kam das seßhafte Leben und der Städtebau auf, durch Jabal, den „Dahin-

wallenden",5) die Nomadenkultur. Tubalkain, der „Hämmerer", wurde

der Vater der Schmiedekunst und Jubal, der „Wallende",') der Schöpfer

der Musik. Alle drei letzteren waren Söhne Lamechs. So waren bald alle

drei Hauptstände der menschlichen Gesellschaft entstanden, der Nähr-

stand, Wehrstand und Lehrstand, der Gewerbetreibende, Krieger und

Geistesarbeiter, und zwar wurden gefördert

   der Nährstand durch Jabal — die materielle Seite des Lebens,

   der Wehrstand durch Tubalkain — die rauhe Seite des Lebens,

   der Lehrstand durch Jubal — die geistige Seite des Lebens.

Als Metallarbeiter wurde Tubalkain der Begründer der „Industrie" und

überhaupt aller Arbeit in Erz und Eisen; und Jubal, der die Töne der

Laute zur „Wallung"7) Bringende, wurde der Schöpfer aller Entspan-

nungs- und Vergeistigungsversuche in Kunst und Musik. Lamech aber,

sein Vater, wurde der erste Vertreter der Dichtkunst')

   2. Große Zunahme der Bevölkerung. „Die Menschen

begannen sich zu mehren" (1. Mose 6, 1). Schon Kain kann — zweifellos

 

   5) Vgl. G. H. Pember, Die ersten Zeitalter der Erde, Leipzig, 5. Autl., S. 194 It.

   5) Von hebräisch jabal, ursprünglich strömen, wallen.

     Jubal heißt „Wallung".

     Vgl. Lamechs Schwertlied: 1. Mose 4, 23; 24. — Der bedeutsamste Zeuge

der vorsintflutlichen Kultur ist die Arche N o ah s. Mit ihren Riesenmaßen

 

 

 

76         Große Zunahme der Bevölkerung

 

in höherem Alter') — eine „Stadt"') bauen (1. Mose 4, 17).") Dies ist um

so weniger erstaunlich, als die Lebenskraft der jungen Menschheit im

Anfang sehr stark gewesen sein muß.") Auch muß die Zahl der Kinder

— bei dem langen Leben der Eltern — viel größer gewesen sein als

später und, aus demselben Grunde, müssen auch viele Generationen

gleichzeitig nebeneinander gelebt haben.")

  3. Nichtbeachtung des göttlichen Ehegesetzes.

Von Kains Nachkommenschaft werden drei Frauen erwähnt, während

dies im Geschlechtsregister Seths bei keiner einzigen der Fall ist. Die

Namen dieser drei kainitischen Frauen sind Ada („Schmuck", „Morgen-

oder „Schönheit"), Zilla (die ,,Schattige", vielleicht wegen ihres reichen,

 

(120 m lang, 20 m breit, 12 m hoch, 28 800 cbm Rauminhalt) ist sie geradezu unse-

ren modernen Ozeanschiffen vergleichbar, wie ja auch sonst gerade die riesigsten

Bauten dem unvordenklichsten Altertum angehören (Pyramiden, Sphinx!). Im

Jahre 1609 hat der niederländische Mennonit Peter Jansen zu Hoorn in Holland

ein Schiff nach denselben Maßen bauen lassen (nur auf ein Drittel verklei-

nert: 1 Meter = 1 Fuß), und es stellte sich heraus, daß ein solches Schiff sich

zwar schwerfälliger bewegt, aber dafür ein Drittel L a s t mehr tragen kann

als ein gewöhnliches Schiff mit demselben Rauminhalt. Und zum Tragen — nicht

eigentlich zum Fahren — war ja die Arche bestimmt. — Arca (lateinisch)

Kasten.

  9) Der Sohn „Henoch", den Kain während des Bauens bekam (1. Mose 4,17),

war offenbar nicht sein Erstgeborener. Auch bei den Sethiten sind nicht die Erst-

geborenen, sondern die Träger der Geschichte (in diesem Fall die Vorfahren

Noahs) genannt. Dies beweisen die Zeugungsjahre. Denn „wie Adam nicht 130

Jahre lang ‚ehelos' war, so Seth nicht 105 und Methuschelah nicht 187 oder gar

Noah 500" (Krämer). Vgl. 1. Mose 5.

  ") Wohl zunächst einfach eine „feste Niederlassung".

  11) Kains Weib war eine der 1. Mose 5, 4 erwähnten Töchter bzw. Enkelinnen

Adams (die Kain im Lande Nod ,.erkannte", nicht etwa erst dort „nahm"!). Solche

Verbindungen waren zunächst notwendig. Von einer „Geschwister"-Ehe zu reden,

ist schon deshalb nicht richtig, weil es in der allerersten Zeit der Menschheit „Fa-

milien" überhaupt noch gar nicht gab und darum auch noch nicht die Besonder-

heit „geschwisterlicher" Liebe; denn da alle Glieder eines Grades sich noch gleich

„nahe"standen, standen sie sich auch noch gleich „fern". Daher ist auch der Vor-

wurf der Unmoral dieser uranfänglichen Verbindungen hinfällig.

  12) Schon bei einer durchschnittlichen Kinderzahl von nur 6 Kindern hätte

Kain im Alter von 400 Jahren weit über 100 000 Nachkommen gehabt!

  13) Auch die Jetztzeit zeigt für die Gesamterde einen ungeheuren Bevölke-

rungszuwachs. So hat sich, nach Prof. Dr. Hennig („Geopolitik", Teubner, Leipzig

1928) die Menschenmenge der Erde seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts stark

verdoppelt (von ungefähr 900 Millionen auf etwa 1900 Millionen)!

 

            

 

 

 Unsittlichkeit und Unbußfertigkeit 77

 

sie verschattenden Haares) und Naama („Lieblichkeit"). Ihre Erwähnung,

bei den Kainiten deutet darauf hin, daß dort die Frauen stärker hervor-

traten als bei den Sethiten, und daß äußere Schönheit und sinnliche An-

ziehungskraft die Haupteigenschaften waren, die man an ihnen schätzte.

Lamech aber schließlich, der Siebente von Kain, übertrat ganz unver-

blümt das ursprüngliche Ehegesetz") und wurde der erste Vertreter der

Vielweiberei.

   4. Zurückweisung der Bußpredigt des Glaubens.

Dennoch sandte Gott Zeugen in diese abtrünnige Welt mit dem Mahnruf

zur Buße und Umkehr. Aber auf diese hörte man nicht. Man achtete

      weder in den Tagen des Enos auf den Zusammenschluß der

     Frommen zu gemeinsamer Anbetung Jahwes des HErrn als des

     Bundesgottes und Erlösers (1. Mose 4, 26),1b)

      noch in den Tagen des Henoch. auf die Warnung dieses Propheten

     vor dem kommenden Weltgericht (Jud. 14; 15; 1. Mose 5, 21-24;

     Hebr. 11, 5; 6),

      auch nicht auf Lamech, den Sethiten, der auf den verheißenen

     „Tröster" und „Ruhebringer" (hebr. „Noah") wartete (1. Mose

     5, 29),

     und ebensowenig auf Noah, den „Prediger der Gerechtigkeit", der

     120 Jahre lang wider sie zeugte (1. Mose 6, 3; 2. Petr. 2, 5).

   Im Gegenteil, auch die Sethiten wurden allmählich vom Zeitgeist

überwältigt, und so kam es zuletzt zu einer allgemeinen

   5. Verbindung des bekennenden Gottesvolkes mit

der Wel t. Die Kainiten werden darum, seit Lamcch, nicht weiter als

getrennter Stamm aufgeführt (1. Mose 4); und in der bald kommenden

Sintflut gehen sie alle — die Sethiten genau so wie die Kainiten — zu-

grunde. Nur Noah, der Zehnte von Adam, und seine drei Söhne werden

mit ihren Frauen gerettet (1. Petr. 3, 20).

   Und doch war diese ganze, dem Untergang geweihte Welt des Eigen-

ruhms voll.

   6. Selbstverherrlichung der Menschheit. Während

in Henoch, dem Siebenten (Jud. 14), die sethitische Frömmigkeit ihre

Höhe erreichte, war Lamech, der Siebente, der verkörperte Gipfel kaini-

tischer Rebellion. In ihm ist die Reihe der Kainiten an das selbstherr-

   14) Matth. 19, 3-9.

   19 Vgl. Anhang 1: Die Namen Gottes.

 

 

 

 

 

 

78      Selbstverherrlichung der Menschheit. Die Sintflut

 

liehe Ziel ihrer Entwicklung gelangt, und darum ist er auch im biblischen

Bericht der Abschluß der kainitischen Urgeschichte. An sich sind Kultur-

errungenschaften nichts Widergöttliches;") aber hier diente alles zur

Übertäubung des Gewissens.

   Lamechs Lied ist „ein Triumphgesang auf die Erfindung des Schwer-

tes" (1. Mose 4, 23; 24). „Mit einer Mord t a t begann, mit einem Mord-

liede schließt die Geschichte der Kainiten. Im siebenten Gliede ist

alles vergessen; mit Musik, Gesellschaft, Üppigkeit und Pracht wird alles

übertäubt. Der Fluch der Einsamkeit ist in Stadtleben, der Fluch der

Unstetigkeit in Wanderlust, das böse Gewissen in Heldenmut verwan-

delt, der die Erinnerung an den Fluch des Ahnherrn nur zur Unterlage

seines eigenen, gotteslästerlichen Selbstgefühls macht (1. Mose 4, 24). So

ist alles Lust und Herrlichkeit, umschlungen und gekrönt von der Blume

menschlichen Witzes und der schaffenden Seelenkräfte: der Dichtkunst"

(Drechsler).11)

   Zuletzt aber blieb der Höchste seine Antwort nicht schuldig, und

seine Antwort war — das Gericht. Nach über anderthalb Jahrtausenden

göttlicher Geduld,") in der zehnten Generation — zehn ist die Zahl der

Vollständigkeit und des Abschlusses einer vollendeten Entwicklung") -

vernichtete die Sintflut") die gottentfremdete, sündige Menschheit.

 

   ") Vgl. S. 74.

   ") Wenn mit den „Söhnen Gottes" von 1. Mose 6, 1; 2 gefallene Engel ge-

 meint sind (vgl. Hiob 1,6; 2, 1; 38, 7; Dan. 3, 25; 2. Petr. 2, 4; Jud. 6; 7), so sind

 Okkultismus und Spiritismus ebenfalls ein entscheidender Grundzug

 der kainitischen Kulturwelt. Diese Erklärung wird von den meisten vertreten,

 z. B. von Philo, Josephus, der Mehrzahl der Rabbinen, der Septuaginta, Kurtz,

 Delitzsch, Gunkel, König, Procksch, Pember. Andererseits deuten Augustinus,

 Calvin, J. P. Lange die Stelle auf Mischehen zwischen Sethiten und Kainiten. Eine

 genauere Besprechung überschreitet unseren Rahmen.

   ') Siehe 1. Mose 5.

   ") So war auch später Abraham der Zehnte von Noah, vgl, 1. Mose 11, 10-26.

   20) Mittelhochdeutsch „sintfluot" = große Flut. — An Flutüberlieferungen in

 der Völkerwelt nennt Prof. Riem im Jahre 1925 nicht weniger als 35 Nachweise

 und 268 eigentliche Berichte. „In diesen 268 Berichten tritt die Flut 77mal einfach

 als Flut auf, 80mal als Überschwemmung, 3mal als Schneefall, 58mal als Regen.

 darunter einmal als heißer Pechregen, 5mal als die Folge von Erdbeben; zweimal

 kommt Blut über die Erde, einmal wird die Erde durch eine Tränenflut über-

 schwemmt, und 16mal kommt der Sintbrand vor. 21mal erscheint der Regen-

 bogen, fast immer unter ausdrücklicher Betonung seiner versöhnenden Kraft"

 (Riem, Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925).

 

    

 

79

 

 5. K a p i t e 1: Naturbund und Weltgeschichte

          (Der Bund Gottes mit Noah)

 

  Die Sintflut war beendet. Die „damalige Welt" war dahin (2. Petr.

3, 6). Eine neue Menschheitsperiode begann.

  Gleich im Anfang wurden die Richtlinien für die Zukunft gegeben.

Der Bund Gottes mit Noah bildet die Grundlage aller kommenden

Natur-, Menschheits- und Heilsgeschichte.

 

           I. Die Naturordnung

  „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost

und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (1. Mose 8, 21; 22; 9, 11;

15). Eigenartig ist die Begründung: "Denn das Dichten und Trachten des

menschlichen Herzens ist böse von Jugend an." Also das, was soeben

noch Grund für die Verniditung gewesen war (1. Mose 6, 5!), wird nun-

mehr zum Hauptgrund für die Verschonung. Auch hier zeigt sich deutlich

die Notwendigkeit einer Unterscheidung der Haushaltungen. Sonst

glaubt man unter Umstiinden, „Widersprüche" zu sehen, die in Wirklich-

keit gar nicht vorhanden sind. In Wahrheit begann jetzt, nach der Flut,

die Zeit der göttlichen Geduld (vgl. Apg. 14, 15-17; 17, 30) und des

„Dahingehenlassens der Sünden unter der Nachsicht Gottes" (Röm. 3, 25

Elb.); und mit Noah, dem „Ruhebringer",') setzte für die sündige Mensch-

heit eine Jahrtausende lange Periode der „Ruhe" vom göttlichen Zorn ein.

  Zugleich wird dem Menschen sein Königsrecht über die Erde be-

stätigt.

        II. Die Herrschaftsordnung

  Aber jetzt ist sein Verhältnis zur Natur, besonders zur Tierwelt,

nicht mehr das ursprünglich harmonische und rein sympathische, sondern

eine Beziehung mit Gewalttat, Unterdrückung und Widerstreit. Im Pa-

 

  1) „Noah" kommt von dem Zeitwort „nuach" = "ruhen", z. B. 2. Mose 20,11;

5. Mose 5,14.

 

         Die Einführung der menschlichen Obrigkeit

 

80

 

radiese hatte die geistige Majestät des irdischen Königs das Tier ge-

wissermaßen magisch gebunden; nun aber ist es eine Herrschaft mit

Furchtwirkung auf der einen und Scheu, ja lähmendem Schrecken (wört-

lich „Zusammenknicken") auf der andern Seite (1. Mose 9, 2). Und dazu

paßt auch das sicher schon früher von den Menschen sich selbst ange-

maßte, ihnen aber erst jetzt von Gott zugebilligte Recht, Tiere zu töten

und sie — ausgenommen ihr Blut') — zur Nahrung zu verwenden (1. Mose

9, 2-5).

  Mit dieser Herrschaft des Menschen über die Natur verbindet sich

auch ein Herrschaftsrecht des Menschen über Mensdien.

 

 

         III. Die bürgerliche Ordnung

  „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder durch Men-

schen vergossen werden" (1. Mose 9, 6). Damit wird für den Mörder

die Todesstrafe eingeführt. Dies aber schließt die Kontrolle des einzelnen

durch die Gesamtheit und die Einsetzung öffentlicher Gerichte und

Rechtszucht in sich und bedeutet nichts Geringeres als die Einführung

obrigkeitlicher Gemalten und damit die Grundlegung aller späteren

Staatenbildung (Röm. 13, 1-6; 1. Petr. 2, 13-17). Wenn aber die Todes-

strafe des Mörders mit der Gottesbildlichkeit des Ermordeten begründet

wird (1. Mose 9, 6), so zeigt dies, daß die Ausübung der Justiz auf der

Grundlage des menschlichen Gottesbildes und folglich des geistigen und

geistlichen Adels der Menschheit erfolgen solle, daß somit die Obrigkeit

nicht auf brutaler Gewalt, sondern auf der Anerkennung des göttlichen

Naturrechts in der menschlichen Gesellschaft beruhen müsse. Nur so

wird sie Vertreterin des Rechts und „Dienerin Gottes" zum Wohl ihrer

Untertanen (Röm. 13, 4).

  Diese Einsetzung menschlicher Obrigkeit war aber zugleich eine not-

wendige Ergänzung zu der Verschonung der Menschheit vor nochmaligen)

Flutgericht. Denn wenn Gott, mit Rücksicht auf die angeborene Sünd-

haftigkeit des Menschen, hinfort kein Vertilgungsgericht mehr wie die

 

  2) An den Bund Gottes mit Noah knüpfte die rabbinische überlieferung die

Lehre von den sieben noachischen Geboten an, die man als für alle Menschen,

auch die Nichtjuden, verbindlich betrachtete (Verbot von Gotteslästerung, G ö t-

z e n d i e n s t, Totschlag, Raub, B 1 u t s c h a n d e, Ungehorsam gegen die Obrig-

keit, B 1 u t g e n u ß). Diese liegen — besonders die drei gesperrt gedruckten -

der Brüderberatung in Jerusalem (Apg. 15, besonders Vers 20; 21) zugrunde.

 

            

 

 

 Die Heilsordnung   

 

81

 

Flut über ihn kommen lassen wollte, so mußte er dem überhand-

nehmen der Sünde durch Einführung von Ordnung und Recht einen

Damm setzen und somit den Grund legen zu einer geordneten, bürger-

lichen und staatlichen Entwicklung. So aber gehören Naturordnung,

Herrschaftsordnung und bürgerliche Ordnung zusammen. Möglich jedoch

wurden sie erst durch das Vierte:

 

 

           IV. Die Heilsordnung

 

  „Noah baute Jahwe (Jehova) einen Altar und opferte Brandopfer

auf dem Altar; und Jahwe sprach in seinem Herzen: „Nicht mehr will

ich hinfort den Erdboden verfluchen um des Menschen willen" (1. Mose

8, 20; 21). Unverkennbar ist hier der Zusammenhang zwischen Opfer

und Naturbund gegeben, und zwar so, daß das Opfer die Grundlage des

Naturbundes ist.

  Drei Dinge sind vor allem zu beachten: der Name Jahwe (Jehova),

der Altar und das Brandopfer. "Jahwe" ist der Bundesname des Höch-

sten, der Name des Gottes der Heilsgeschichte und Erlösung?) Zu ihm

müssen sich die Herzen der Frommen erheben. Zum Himmel, zur „Höhe"

müssen ihre Opfer und Gebete emporsteigen, wenn sie vor seinen Thron

gelangen sollen. Um den Opfern diese Richtung nach „oben" zu geben,

werden von nun an auf Erden erhöhte Stätten und „Altäre" errichtet,

von denen aus sie im Feuer himmelwärts „aufsteigen" sollen. Zwar ist

die Gegenwart Gottes überall und nicht durch die Grenzen eines Oben

und Unten beschränkt (Ps. 139!); aber in der Sprache der Anbetung wird

die Jenseitigkeit Gottes symbolisch durch raumhafte Vorstellungen ver-

anschaulicht, das geistig überlegene durch das räumliche Höherliegen,

das „Über"zeitliche und „über"räumliche durch das sinnhafte „Ober"-

räumliche. So wird denn an dieser Stelle zum ersten Male in der Bibel

ein „Altar" erwähnt und das Opfer „olah", d. h. das „Aufsteigende",

genannt') Die reinen Opfertiere selbst aber weisen — wie alle Opfer

von Anbeginn der Welt — auf das eine Opfer von Golgatha hin, das

Lamm ohne Fehl und ohne Flecken (1. Petr. 1, 19; 20), das in Wahrheit

die Grundlage all e r Bewahrung und Errettung der Welt ist.

 

  3) Vgl. Anhang: „Die Namen Gottes."

  4) Das Opfer Abels wird einfach ,,minchah", d. h. „Gabe", genannt (1. Mose

4,3 vgl. das Zeitwort manach = schenken).

6 Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung

 

 

 

 

82            Das Bundeszeichen

 

  Am deutlichsten aber leuchtet die Verbindung von Naturordnung

und Heilsordnung in dem Bundeszeichen auf, das der HErr, zum Symbol

seiner Gottestreue, in die Wolken gesetzt hat: dem Regenbogen'')

 

           V. Das Bundeszeichen

  Der Regenbogen ist „der farbige Glanz der hervorbrechenden Sonne

auf der abziehenden Wolkennacht, der Triumph der Sonne über die

Fluten" (J. P. Lange). Einer Himmelsbrücke gleich verbindet er die obere

Welt mit der unteren, und siebenfach erstrahlend — mit dem Grün des

Smaragds als der Farbe des Lebens') — bezeugt er den Bund zwischen

Schöpfer und Schöpfung.'") „Aufleuchtend auf dunklem, noch kurz zuvor

in Blitzen sich entladendem Grunde veranschaulicht er den Sieg der gött-

lichen Liebe über den finster-feurigen Zorn; entstanden aus der Wirkung

der Sonne auf das dunkle Gewölk versinnbildlicht er die Willigkeit des

Himmlischen, das Irdische zu durchwirken; ausgespannt zwischen Him-

mel und Erde verkündet er Frieden zwischen Gott und den Menschen,

den ganzen Gesichtskreis überspannend bezeugt er die allumfassende

Allgemeinheit des Gnadenbundes" (Delitzsch).8)

  Damit aber wird er zum Sinnbild des Heils und der Erlösung über-

haupt und erscheint als solcher am Thron des HErrn als des Führers und

'Vollenders der Heilsgeschichte (Hes. 1, 28; Off. 4, 3). Und wie wir hie-

nieden stets nur einen halben Bogen in den Wolken erblicken — ein

Sinnbild zugleich aller Unvollkommenheit unseres jetzigen Erlösungs-

erlebens (1. Kor. 13, 9-12; 1. Joh. 3, 2) —, so werden wir einst, „rings

um den Thron", den vollen Bogen erkennen und die Treue des Bundes-

gottes in Vollendung und Herrlichkeit preisen (Hes. 1, 28; Off. 4, 3). So

aber wird der Regenbogen zum Natursymbol unserer ewigen Errettung.

  So ist beim Regenbogen alles ein Sinnbild:

     die Entstehungszeit — denn er entsteht bei der Wiederkehr der

   Sonne (Hes. 1, 28 Luth.);

 

  ') Wie es scheint, hat es, nach 1. Mose 9, 12-17, vor der Sintflut noch keinen

Regenbogen gegeben. Die tellurischen Verhältnisse sind offenbar durch die Flut

gänzlich umgestaltet worden.

  ') Vgl. Off. 4,3 Der Smaragd ist grün. Grün ist die Farbe des Lebens.

  7) 3 ist die Zahl Gottes, 4 die Zahl der Welt; 7 ist die Summe und Verbin-

dung der beiden.

  8) A. a. 0. S. 277.

 

               Die Symbolik des Regenbogens 

83

 

     die Entstehungsart — denn er erstrahlt als Verklärung der Fin-

    sternis durch das Licht (1. Mose 9, 14);

     die Siebenzahl der Farben — denn sieben ist die Zahl des Bun-

    des (z. B. 3. Mose 16,14 und oft);')

     die Vorherrschaft des Grün — denn Grün ist die Farbe des

    Lebens (Off. 4, 3);6)

     die Bogen- (d. h. Brücken-)form — denn er versinnbildlicht die

    Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung (1. Mose 9, 12-17);

     die weite Umspannung des Gesichtskreises — denn er zeigt die

    Allumfassenheit des Gnadenbundes (1. Mose 9, 12; 15; „alles

    Fleisch");

     die ewig-himmlische Kreisform — denn so wird er zum Sinnbild

    der göttlichen Vollkommenheit (Hes. 1, 28; Off. 4, 3).

 

 

 

  Anmerkung und 7) siehe vorige Seite.

6*

 

 

 

 

 

 

 

84

 

 

 6. K a p i t e 1: Das heilsgeschichtliche Rassenprogramm für die Völkerwelt

             (Der Segen Noahs)

 

   Noahs Segen über Japhet und Sem und sein Fluch über Kanaan, den

 Sohn Hams, ist das nächste Ereignis von heilsgeschichtlicher Bedeutung.

 Während aber der Bund Gottes mit Noah die Grundlage der folgenden

 Natur-, Welt- und Heilsgeschichte war, ist sein Segen und Fluch ihr pro-

 phetischer Grundriß und ihr heilsgeschichtliches Rassenprogramm.

 

 I. Die Verfluchung und Segenlosigkeit der Hamiten

   „Verflucht sei Kanaan; er sei ein Knecht aller Knechte unter seinen

Brüdern" (1. Mose 9, 25). Hier wird, aus Anlaß der schändlichen Sünde

Harns (Vers 22-24), in Kanaan, seinem Sohne, als ihrem Ahnherrn, die

Stammesgruppe der Kanaaniter verflucht und überhaupt die hamitische

Rasse der Segenlosigkeit einheimgegeben.

   In schicksalsschwerster Weise hat die Weltgeschichte dieser Pro-

phetie entsprochen. Die Kanaaniter wurden in Palästina durch die

semitischen Juden, besonders durch Josua (Jos. 9, 21-27; Richt. 1, 28 bis

30; 33; 35) und Salomo (1. Kön. 9, 20; 21) unterjocht und in Syrien und

Nordafrika als „Phönizier" und „Karthager" von den japhetitischen

Persern, Griechen und Römern besiegt. Die anderen Hamiten aber,

denen zwar nicht der Fluch, wohl aber die Segenlosigkeit mit auf den

Weg gegeben war, haben — nach anfänglichen Gegenentwicklungen') -

immer wieder unter dem Joch der Unterdrückung zu seufzen gehabt,

besonders die Neger, letztere namentlich in Amerika seit der Einführung

der Sklaverei.2)

 

II. Das geistliche Erlösungsmittlertum de,r Semiten

  Anders erging es Sem. Ihm wurde der herrlichste Segen zuteil. „Ge-

priesen sei Jahwe, der Gott Sems" (1. Mose 9, 26). Diese Form der Lob-

 

  ') Besonders in Nimrod, ferner den Phöniziern und Ägyptern. Näheres siehe

unten.

  2) Erst nach dem Nordamerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) wurde in den

Vereinigten Staaten die Sklaverei abgeschafft. Doch herrscht sie noch heute in

großen Teilen Innerafrikas, besonders in den mohammedanischen Staaten.

 

 

 

 

               Die Stellung der Semiten im Heilsplan

 85

 

preisung, die den Segen nicht eigentlich als „Segen", sondern als Lob-

preis des segnenden Gottes ausspricht, hat, wie schon Luther bemerkt')

ihren Grund in der Höhe und Überschwenglichkeit der semitischen Ver-

heißung.

    „Jahwe" (Jehova) ist „Sems Gott" — das heißt: Die semitische Rasse

ist der Träger seiner besonderen Offenbarung. Für Japhet ist Gott

„Elohim", der Schöpfer, Erhalter und Weltherr ,(1. Mose 9, 27); für Sem

aber ist er „Jahwe", der Bundesgott und Erlösen') Damit aber wird

Sem der Empfänger und Kanal seiner besonderen Erlösungsgnade, und

in seinem Geschlecht ist fortan die Verheißung des geistlichen Heils

konzentriert-

    In Christo ist dann dieser Segen zur Vollendung gebracht. Denn er,

der Erlöser, stammt als „Sohn Davids" durch Abraham von Sem (Luk.

3, 36); wie er selbst im Johannesevangelium gesagt hat: „Das Heil kommt

von den Juden" (Joh. 4, 22), und wie auch sein größter Apostel bezeugt:

Der „edle Ölbaum" des Gottesreiches ist „ihr" Ölbaum (Röm. 11, 24 vgl.

Eph. 2, 11-22; 3, 6; Röm. 15, 27; Gal. 3, 9; 14). So aber ruht der Gottes-

tempel des Christentums auf dem Felsenfundament der den alttestament-

lichen Gottespropheten gegebenen Offenbarung (Mattb. 5, 17; 18; Joh.

 10, 35b; Apg. 24, 14; 26, 22), und in Christo ist Sems Segen zum Welt-

 evangelium geworden.

 

  III. Die politische und geistige Weltherrschaft der

              Japhetiten (Indogermanen)

    Japhets Segen besteht aus drei Teilen.

    1. „Ausbreitung gebe Gott dem Ausbreiter" (1. Mose 9, 27).5) Damit

 ist Japhet, dein Vater der Meder") und Griechen') und folglich auch der

 Perser und Römer und überhaupt aller Indogermanen,8) eine besondere

 

    3) propter excellentem benedictionem (Luther).

    4) Vgl. Anhang: „Die Namen Gottes."

    5) Oder: „Weit mache es Gott dem Weiten." Das Wortspiel zwischen „Er

 mache weit" (hebräisch japht) und dem Namen „Japhet" sollte in der Ober-

 setzung wiedergegeben werden.

    6) Hebräisch „Madai", 1. Mose 10, 2.

    7) Hebräisch „Jawan"; vgl. die griechische Selbstbezeichnung „Jonier" auf der

 Westküste von Kleinasien (1. Mose 10, 2).

    8) Die Perser sind das Brudervolk der Nieder (Madai), die Römer sind

 stammverwandt mit den Griechen (Jawan); mit den Persern hängen die Inder

 

 

 

 

 

 

86         Die Weltherrschaft der Indogermanen

 

 

 

rräumliche und geistige Ausbreitung zugesichert. Das aber heißt: Nach

f

.dem Zeugnis der altlestamentlidzen Prophetie ist politische und geistige

 

Weltherrschaft das namentliche Vorrecht der Indogermanen. Sie sind

 

die Herrscherrasse in der Weltpolitik. So bestimmt es

 

das prophetische Rassenprogramm!

 

  In überwältigender Weise hat die Weltgeschichte dazu die Erfüllung

 

gebracht. Zunächst allerdings verlief sie in umgekehrter Reihenfolge:

 

denn der sündige Mensch ist in dauernder Auflehnung gegen Gott.

 

  Nicht Japhetiten, sondern Hamiten und Semiten waren im alten

 

Orient Jahrtausende hindurch die herrschenden Kulturvölker. Im Nil-

 

lande waren es die ha m i t i s c h e n Ägypter,') und am Euphrat und

 

Tigris (in Akkad und Sinear, Babel und Ninive) errichtete — nach

 

einer in Sumer vorangegangenen, grundlegenden Kulturschöpfung

 

— Nimrod der Kuschit, also ein Vertreter der h a m i t i s c h e n

 

Rasse, die in Kanaan „Knecht aller Knechte" sein sollte, als Erster sogar

 

cin Weltreich (1. Mose 10, 8-12), und in ihm gewann die Rasse der

 

Knechtschaft geradezu die Herrschaft.") Auch später, als die Macht der

 

Hamiten zurückging und anderen zuteil wurde, waren es immer noch

 

nicht sofort Japhetiten, sondern, nach dem Zeugnis der Geschichte und

 

der Schrift, erst Semiten, die die unmittelbaren Erben ihrer Weltherr-

 

schaft wurden.

 

  Im Nillande blieben die hamitischen Ägypter, in Mesopotamien

 

wurden die semitischen Elarniter (1. Mose 14, 1-4; 10, 22) und — seit

 

Hammurabi — die Babylonier (um 1900) die Herren. Darin gelangten

 

in Babel die Kassiten und in Ägypten") die Hyksos zur Macht (um 1750).

 

 

 

(„Arier") und Germanen zusammen, mit den Römern die Romanen (Italiener,

Franzosen, Spanier usw.), mit allen weiterhin die Slawen und viele andere. Sie

alle heißen, zusammengenommen, „Indogermanen (Arier)".

 

  9) Die Ägypter (hebräisch Mizraim) sind nach 1. Mose 10, 6 Hamiten (vgl.

Ps. 78, 51; 105, 23; 27). Sie selbst nannten sich Kernet. Den Übergang zu den

(hamitischen) Negern bildet die Nuba-Fulah-Rasse, die zwar sehr dunkelfarbig,

aber in ihren Gesichtszügen von den eigentlichen Negern verschieden ist.

 

  ") Nimrod war zwar, nach den genauen Worten des Textes, nicht der Er-

bauer der Stadt Babel (vgl. 1. Mose 11), wohl aber der Gründer des Weltreichs

Babel, indem er, auf der Grundlage der schon vorhandenen Städte, Babel, Erech,

Akkad und Kalne, von Sinear (Sumer?) als dem „Anfang" seines Reiches aus

seine Herrschaft nach Norden, d. h. Assur, hin erweitert hat (1. Mose 10, 8-12).

 

  ") Bis Pharao Jahmose (um 1600 v. Chr.).

 

 

 

 

           Die Aufrichtung der indogermanischen Weltherrschaft

87

 

In Vorderasien folgten die Assyrer (um 1750-612) und die Neubaby-

lonier, letztere besonders unter Nebukadnezar. Aber dies alles waren

Semiten bzw. Hamite n, und schon waren fast zwei Jahrtausende

vergangen, seit Noah seine Weissagungen gesprochen hatte (um 2350

v. Chr.), und noch immer waren seine Völkerprophetien nicht vollständig

erfüllt.

    Da endlich schlug die entscheidende Stunde der Japhetiten. Unter

Kores dem Perser traten die Indogermanen mit sieghafter Kraft auf den

Plan. Das semitische Babylon fiel (538); Belsazar, der Sohn und Vertreter

Nabunaids, wurde erschlagen, und die Japhetiten waren die Herren des

Orients. Nie ist es seitdem einem hamitischen oder semitischen Volke

gelungen, die indogermanische Weltherrschaft zu brechen. Die Eroberung

Babels und der Sieg des Indogermanen Kores, des „Hirten" und „Ge-

salbten" des HErrn (Jes. 45, 1; 44, 28), über Belsazar den Semiten, sowie

die schlichten Worte des Buches Daniel: „In derselben Nacht wurde

Belsazar, der König der Chaldäer, getötet" (Dan. 5, 30) umspannen ein

Ereignis von gewaltigster, weltgeschichtlicher Bedeutung: den entschei-

denden Zusammenbruch der harnifisch-semitischen Weltherrschaft und

die grundlegende Aufrichtung des arisch-japhetitischen Weltregiments.

Nur wenige Jahre später eroberte Kores' Nachfolger, Kambyses, auch

das hamitische Ägypten und richtete dort ebenfalls die indogermanische

Herrschaft auf (525). Zwar war auch das Perserreich nicht von dauern-

dem Bestand; doch wenn dann die Griechen (333 v. Chr.) und Römer

(bes. im 2. Jahrh. v. Chr.), die Germanen (476 n. Chr.) und Romanen sein

Erbe übernahmen, so blieb es, bei allem Wandel im einzelnen, doch stets

in japhetitischen Händen.

    Fortan trugen die Indogermanen die Palme der Kultur; und wie sie

geographisch und staatlich die Erde beherrschten, so auch geistig und

kulturell. Während Sems Segen in höchster Z u s a m m e n f a s s u n g

aller geistlichen und heilsgeschichtlichen Kräfte bestand, war Japhets

Segen die umfassendste Ausdehnung aller geistigen und weitge-

schichtlichen Kräfte. Der Segen des einen war himmlisches Licht, der

Segen des andern war irdische Herrlichkeit.

    Ihre Blüte aber verdankten die indogermanischen Völker dem Idealis-

mus ihrer Gesinnung: die Griechen ihrem Streben nach Schönheit") und

    12) Vgl. die griechische Kunst.

 

 

 

 

 

88       Die geistliche Segnung der Indogermanen

 

'Wahrheit") die Römer ihrer Ehrfurcht vor Ordnung") und Recht und

die Germanen ihrem Festhalten an Freiheit und Treue. Durch dies alles

wurden sie geistig die Führer der Menschheit und die Pfleger und För-

derer aller höheren Kultur.

  Aber auch geist lieh sollte Japhet zum Segen gelangen. Darum

heißt es:

  2. „Und er wohne in den Zelten Sems" (1. Mose 9, 27). Da Sem

gerade soeben als der Kanal der Offenbarung bezeichnet worden war,

kann das Wohnen in seinen Zelten nichts anderes bedeuten als die An-

teilnahme an seinem Glauben und die Aufnahme der Japhetiten in die

Gemeinschaft seines geistlichen Heils.")

  In der Tat, weniger zu hamitischen als vornehmlich zu japhetitischen

Völkern ist das Segensgut Sems im Evangelium gelangt (Gal. 3, 14).

  Grundlegender Anfang dazu war das Traumgesicht des Petrus in

Joppe (Apg. 10, 9-17), das die Hinwegnahme der Zwischenwand zwi-

schen Juden und Heiden, die am Kreuze schon grundsätzlich vollzogen

worden war (Eph. 2, 14), nun auch geschichtlich an dem Römer Kornelius

zur Durchführung brachte; und so durfte gerade ein J a p h e t i t als

Erster aus den Nationen, ohne Anschluß an das nationale Israel, was

das volle Heil betrifft, eingehen in die Zelte Sems.

  Richtungweisender Wendepunkt wurde dann weiter jenes andere

Gesicht des Paulus, in dem er in Troas einen mazedonischen Mann sah,

der ihm zurief: „Komm herüber und hilf uns!" (Apg. 16,9; 10.) Wer

weiß, wie die Welt- und Kirchengeschichte verlaufen wäre, wenn damals

der große Apostel, statt nach Westen, nach Osten, nach Indien oder

China,") gesandt worden wäre! Aber gerade dies ist die unvergleichliche

Bedeutung jenes Traumgesichts in Troas, daß mit ihm die Stunde für die

Überbringung der l-leilsbotschaft nach Europa geschlagen hatte, so daß

nunmehr das japhetitische Europa zum Hauptschauplatz der Wunder des

Evangeliums und zur Hochburg der Himmelreichsbotschaft bestimmt

 

  13) Vgl. die griechische Philosophie.

  14) Vgl. den römischen Staat,

  ") So schon Hieronymus, Calvin, Luther und fast alle Kirchenväter, ferner

Lange, Keil, Delitzsch, Dächsel u. a.

  ") Ungefähr gerade in der Zeit, in der Paulus seine Missionsreisen machte,

schickte ein wahrheitsuchender Kaiser von China, Ming-ti, eine Gesandtschaft nach

Indien, worauf von dort aus der Buddhismus seinen Einzug in China hielt (61--

67 n. Chr.).

 

 

 

 

              Der Entscheidungskampf der Rassen

89

 

worden war, und jene nächtliche Stunde von Troas wurde die Stunde des

geistlichen Sonnenaufgangs für die abendländische Völkerwelt.

   3. „Und Kanaan sei sein Knecht" (1. Mose 9, 27). Gigantisch ist um

die Erfüllung dieser Prophetie gerungen worden.

   Zu den Nachkommen Kanaans gehören die Phönizier und Sidonier

(1. Mose 10, 15).") Sie sind gleichsam die Normannen des Altertums. Ihr

Küstenstrich im Nordosten von Palästina glich, dichtbevölkert, einer

ununterbrochenen Stadt. So begannen sie, schon um 1200, teils aus Aben-

teurerlust, teils aus Handelsinteressen, auswärtige Kolonien zu gründen,

besonders im westlichen Mittelmeer. Dort blühte in Nordafrika bald

das aristokratisch-kapitalistische Karthago („Neustadt") auf.

   Zur selben Zeit entwickelte sich in Italien der römische Staat. Ein

Zusammenstoß war unvermeidlich. Er mußte mit der Vernichtung des

einen oder des andern Rivalen enden.

   Der erste Krieg führte zur Eroberung Siziliens durch die Römer

(764-241 v. Chr.). Der zweite wurde bis aufs äußerste dramatisch (218

bis 201). Denn als die Karthager, unter der Führung des heldenhaften,

genialen Hannibal, über die Alpen in Italien einbrachen und in glänzen-

den Siegen am Ticinus (218), an der Trebia (218), am Trasimenischen

See (217) und vor allem bei Cannä (216) die Römerheere vernichteten

und Hannibal schon vor den Toren der Stadt Rom erwartet wurde, da

sah es allerdings so aus, als sollte das alte Prophetenwort: „Kanaan sei

dein Knecht", das durch Kores so glänzend erfüllt worden war (538), nun

doch noch zuschanden gemacht werden; denn eine Besiegung der japheti-

tischen Römer durch die phönizischen Karthager hätte nichts anderes

bedeutet als die Aufrichtung eines hamitischen Weltreichs.

   Endlich aber fiel die Entscheidung. Bei Zama (südlich von Karthago)

stießen die Heere zusammen (202), und — Publius Cornelius Scipio, der

 

   17) Daß die Kanaaniter, Phönizier und Karthager semitische Sprache und Kul-

tur hatten, widerlegt nicht ihre in 1. Mose 10, 15-19 bezeugte hamitische Her-

kunft. Sprachenverwandtschaft beweist niemals unbedingt Rassenverwandtschaft,

und umgekehrt; denn erstens ist die Sprachenverwirrung von Babel eine ge-

schichtliche Tatsache, und zweitens haben oft Völker im Verlaufe der Geschichte

durch Wanderungen usw. einen Sprachwechsel durchgemacht (z. B. im frühen

Mittelalter z. T. die Normannen, Langobarden, Franken). Und insonderheit die

Phönizier sind, nach ihren eigenen Aussagen, vom Indischen Ozean hergekommen

(Herodot I, 1 und VII, 89), mußten also durch mittelsemitisches Sprachgebiet hin-

durch, bei dessen Durchquerung sie, im Laufe der Zeit, offenbar die semitische

 

 

 

 

90           Noah als Völkerprophet

 

Römer, blieb Sieger. Hätte Hannibal gesiegt, dann wäre vielleicht nie-

mals ein römisches Weltreich entstanden. Zugleich aber war in dein

Gegensatz Hannibal-Scipio der Rassenzusammenprall „Semito-Hamitis-

mus" und „Japhetismus" verkörpert. Denn semitisch war bei den Kar-

thagern die Sprache, Religion und Kultur, hamitisch ihre Rasse und ihr

Blut. Mit ihrer Besiegung war die politische Rassenrivalität für immer

entschieden. Daran konnten auch später nach Jahrhunderten weder der

1-lunnensturm (375-453 n. Chr.)18) noch der Arabersturm (711-732),")

weder der Mongolensturm (goldene Horde, Dschingischan, 13. Jahrh.)'")

noch die Türkenkriege') etwas ändern.

  Mit Nimrod begann, mit Hannibal endete das Drama der hamitischen

‚Weltmacht, und Scipios glänzender Sieg besiegelte endgültig das Werk

des Kores: die Aufrichtung der Weltherrschaft der japhetitischen Rasse.

„Kanaan sei dein Knecht" — das ist es, was gleichsam wie mit flammen-

den Lettern über dem Schlachtfeld von Zama geschrieben stand.

  So hat die Weltgeschichte in einzigartiger Weise der Prophetie recht

gegeben. Ihr Verlauf richtete sich genau nach dem festgesetzteji Plan.

Alle Gegenentwicklungen der Menschen waren zurückgeschlagen, und

Gott hatte recht behalten. Noah aber war sein Völkerprophet gewesen.

  Die Namen seiner Söhne waren zu Symbolen und Wahrzeichen für

die Zukunft geworden. Die Nachkommen von Ham („Hitze") bewohn-

ten die heißen Länder; die Söhne von Japhet („Ausbreitung") breiteten

sich über die Erde aus, und die Geschlechter von Kanaan („Der Unter-

würfige")") mußten sich Japhet und Sem unterwerfen. Aber in der Linie

von Sem („Der Name") wurde der „Name" und das Wesen des Erlösers

geoffenbart, und in Jesus Christus, dem HErrn, der den „Namen über

alle Namen" trägt (Phil. 2, 9), wird der „Name" des Vaters nun auf ewig

verherrlicht (Joh. 12, 28; 17, 6; Phil. 2, 9-11).

 

Sprache angenommen haben (vgl. Krämer, Die biblische Urgeschichte, 1931,

S. 302).

  18) Besonders Attila. Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden (bei Troyes),

451.

  19) Sieg Karl Martells bei Tours und Poitiers (732).

  ") Schlacht bei Liegnitz (1241).

  ') Eroberung Konstantinopels (1453), Schlacht bei MoLics (Ungarn, 1526).

Belagerung Wiens (1683).

  ") Vgl. das stammverwandte Zeitwort in Richter 4, 23 („beugen, unter-

werfen").

 

    

 

91

 

7. K a p i t e l: Das babylonische Menschheitsgericht

 

  aber der Menschheit lastet das babylonische Gericht. Alle Geistes-

und Kulturgeschichte steht unter dem Zeichen dieser zerschmetternden

Urkatastrophe. Vergeblich ringt die Welt gegen sie, ihren Bann mit

eigener Kraft zu überwinden.

 

1. Die urgeschichtliche Menschheitszersplitterung

  Drei Beweggründe führten nach der Schrift zum babylonischen Turm-

bau: Trotz, Vereinigungswille und Ruhmsucht. Dreifach ist darum auch

das göttliche Gericht: Der nach „oben" stürmende Trotz wurde durch

das „Hernieder"fahren des HErrn (Vers 4, 5), der Wille zur Vereinigung

durch die Zerstreuung und Zersplitterung und der ruhmsüchtige Ehrgeiz

durch den Namen der Schande gerichtet. Fortan ist gerade d i e Stadt,

durch die man sich einen "Namen" machen wollte (1. Mose 11, 4) --

gerade in ihrem Namen! — ein Symbol der Niederlage; und Babel, die

„Wirrstadt", die Stadt der „Zermengung",I) ist schon als bloßer Orts-

name ein Beweis für die Ohnmacht des Sünders und die Zwecklosigkeit

aller Rebellion gegen Gott')

 

  1) Zu Babel, „Balbel" vgl. hebräisch balal, „durcheinandermengen". Die stolze,

keilinschriftliche Deutung der Babylonier „Bab-ilu" = „Gottespforte" ist Volks-

etymologie und schon deshalb nicht stichhaltig, weil Schreibungen wie Bab-i/i und

Bab-ilam vorkommen, so daß der Name nichts mit dem babylonischen Wort „ilu"

(hebräisch El, arabisch Allah), „Gott", zu tun haben kann. Dr. Pinches (Assyrio-

loge am Britischen Museum in London) glaubt, daß das Wort „Babel" lautnach-

ahmend ist ähnlich wie das englische Zeitwort ,.to babble" (babbeln, plappern).

vgl. französisch balbutier (ebenso Urquhart, Die neueren Entdeckungen und die

Bibel, 1898, I, 256 f.).

  2) Turmbauten gehörten auch später zu den charakteristischsten Stücken der

vorderasiatischen Kultur. So sagt z. B. das Gesetzbuch des Königs Hammurahi

(um 1900 v. Chr.): „Er machte hoch die Spitze des Tempelturms von An-na (in

Erech) . . . ; er war der Schirm seines Landes, der wieder zusammenbrachte die

zerstreuten Bewohner von Isin." Im Tempelbezirk jeder babylonischen Stadt

stand ein -Turm als Mittelpunkt. So steht noch heute in Babylon eine riesige

Turmruine, der Brs Nimrud, von dem es bei Renovierungen in den altbabyloni

schen Keilschriften oft heißt, daß seine Spitze bis in den Himmel reichen solle.

 

 

 

 

 

92        Die babylonische Sprachenverwirrung

 

II.Die sprachgeschichtliche Bewußtseinsverwirrung

  Die Verwirrung der Sprachen ist zunächst etwas Vierfaches: eine

Verwirrung von Wörterbuch, Grammatik, Aussprache und Ausdrucks-

weise („Phraseologie"), und in diesem Sinne gibt es heute ungefähr ein-

tausend Sprachen und Hauptdialekte. Aber sie ist doch noch mehr.

  Ganz gleich, welches die Ursprache gewesen sein mag, ob — wie die

Rabbinen und Kirchenväter meinten — das Hebräische oder das Syrische

oder — was wohl das allein Richtige ist — keine der uns überlieferten alten

Sprachen: In jedem Fall ist die Gemeinsamkeit der Sprache mit einer

starken Einheitlichkeit des Geisteslebens verbunden gewesen. Denn da

die Sprache die lautliche Versinnlichung des Geistigen ist, muß auch das

Geistige aller Menschen so lange in besonderem Sinne einheitlich gewesen

sein, als noch der Ausdruck dieses Geistigen, die Sprache, einheitlich war.

Die Sprachenverwirrung war also zugleich eine Verwirrung der geisligen

Grundanschauunp,en der Menschheit, indem durch eine Machtwirkung

Gottes auf den menschlichen Geist. an Stelle der ursprünglichen Einheit,

eine vielfache Zersplitterung des Denkens, Empfindens und Vorstellens

eingesetzt wurde?) So aber wird die Sprachenverwirrung zugleich eine

Verwirrung des Bewußtsein s.

  „Die ursprüngliche Sprache, in der Adam im Paradiese alle Tiere

benannte (1. Mose 2, 20), war gleichsam ein großer Spiegel gewesen, in

dem sich die ganze Natur getreulich widergespiegelt hatte. Nun aber

zerbrach Gott diesen Spiegel, und jedes Volk erhielt nur eine Scherbe

davon, das eine eine größere, das andere eine kleinere, und nun sieht

jedes Volk nur ein Etwas von dem Ganzen, nimmermehr aber das Ganze

selbst. Deshalb weichen auch die Auffassungen der Nationen hinsichtlich

Zeligion und Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Geschichte so stark

wneinander ab, ja steigern sich oft bis zu gegenseitigem Widerspruch"

'Bettex).4)

  Dies alles mußte jedoch noch mehr Folgen nach sich ziehen. Mit der

...errüttung des Wehbewußtseins verband sich eine weitere Zerrüttung

les Got(esbewußtseins.

 

^Iebukadnezar erhöhte die Spitze des Stufenturms Etemenanki, „damit sie mit dern

Fimmel wetteifere" (vgl, A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten

)rients, Leipzig 1906, S. 278 ff.).

 3) Darum hat jede Sprache ihren besonderen Sprach„geist".

 4) Natur und Gesetz, 1923, S. 212.

 

 

 

 

 

 

             Uroffenbarung und heidnische Religion

93

 

 

III. Die religionsgeschichtliche Glaubensentartung

   Am Anfang der Menschheit steht der Glaube an den einen Gott

da, der sich in dreifacher Weise offenbart: in Natur (Röm. 1, 19; 20),

Gewissen (Röm. 2, 12-15) und Geschichte (1. Mose 1-11). Das spätere

Heidentum ist dann eine Verkehrung dieses seines dreifachen Ursprungs:

Verzerrung der Erinnerung an die Uroffenbarung, Mißdeutung der Natur-

offenbarung (Röm. 1, 23) und unklarer Seelenkonflikt mit der Gewissens-

offenbarung — das sind die drei Grundelemente aller heidnischen Religion.

   Dennoch aber blieb die göttliche Einwirkung auf die Menschheit

durch die allgemeine Offenbarung bestehen. Gott hält den Men-

schen wie ein gewaltiger, starker Magnet. „Fürwahr, er ist nicht ferne

von einem jeglichen unter uns" (Apg. 17, 27). Gott sucht den Menschen,

um in ihm selber ein Suchen zu wecken, ein Suchen nach ihm, wie die

Mutter die Seele ihres Kindes sucht, damit es sie wieder suche, „daß sie

den HErrn suchen sollten, ob sie ihn fühlen und finden möchten" (Apg.

17, 27). Daher — von Gott selbst gewirkt — das auffallend große Fragen

und Suchen in der Völkerwelt, auch unter den Heiden. Aber das ist das

Tragische, daß dies Suchen der Menschen von Satan, dem großen Be-

trüger, auf eine falsche Spur abgelenkt wird. Fortan ist der Mensch auf

der Suche nach Gott und doch zugleich auf der Flucht vor ihm. Er will

ihn haben und stößt ihn von sich; er sucht seine Segnungen und meidet

seine Nähe; er will nichts von ihm wissen und kann doch nicht los von

ihm (Bracker).

    Die menschliche Urwurzel dieser ganzen religiösen Zwiespältigkeit

und Entartung ist, nach der Belehrung des Apostels Paulus, die U n -

dankbar k e i t. Denn „obwohl sie wußten, daß ein Gott ist, haben

sie ihn nicht gepriesen als einen Gott, noch ihm gedankt, sondern sind

in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist ver-

finstert" (Röm. 1,21). Im einzelnen aber sind es besonders die folgenden

Elemente, die — unter dämonischer Irreführung — diese Umwertung

aller Werte auf dem Gebiet des religiösen Lebens hervorgebracht haben.

    Zunächst die Beobachtung des T r a u m e s. Denn da handelt ein

Etwas, das sich „bewegte", „hörte" und „sah", auch wenn alle Glieder

 des Leibes in Untätigkeit waren! Da „erschienen" auch Tote, ebenfalls

 „handelnd", und „bewiesen" damit ihre „geist"-artige Weiterexistenz.5)

 

    5) Der Gott- und Geistbegriff als solcher ist Erbbesitz aus der Uroffenbarung,

 brauchte also nicht erst auf dem Wege religionsgeschichtlicher Entwicklung her-

 

 

 

 

 

 

 

94         Die Entstehung des Heidentums

 

  Dann ferner die Beobachtung des Tode s. Denn war es nicht hier

diese „Seele", dieses Unsichtbare, Innere, das nun mit dem letzten Hauch

atemartig, luftartig den Körper verließ? Und dann wurde der Tote so

still! Ist dies nicht ein Beweis, daß es keine Bewegung gibt, ohne das

Wollen eines inneren Ich, einer innewohnenden wirksamen Atemseele?

  In der Natur aber draußen ist alles voll Bewegung: in den

Pflanzen und Tieren, im Lauf der Gestirne, im majestätischen Gewitter.

im Dahinbrausen der Ströme, im geheimnisvollen Magneten und im

Feuerfunken des angeschlagenen Steines! Ist dies alles nicht ein deut-

liches, überwältigendes Zeugnis von dem Dasein und Innewohnen gewal-

tiger Wesen, die in allen diesen Bewegungen um uns herum wirksam

sind? — So aber wird die Natur von Geistern beseelt gedacht. und die

animislische) Weltanschauung ist entstanden.

  Da aber der Mensch keine andere „Seele" kannte als nur die seine,

ist die Ausstattung dieser Naturgeister mit den Eigenschaften der

Menschenseele nur das durchaus Folgerichtige, und da es sich ferner bei

den Naturgeistern — entsprechend der Wucht ihrer Elemente — nur

um Wesen gesteigerter Lebensform handeln konnte, mußten ihnen

auch diese menschlichen Eigenschaften in gesteigertem Maße zugeschrie-

ben werden. Dadurch jedoch entstand notwendig eine Verbindung von

Dämon und H e l d, wobei das Dämonische durch das Menschliche

ns Personhafte und das Heldische durch das Dämonische ins Uher-

nenschliche gesteigert wurde.') Dies ist aber das Wesen des heidnischen

3ottbegriffes.

 Hier nun setzt die religionsbildende Kraft der menschlichen Sprache

in. Denn es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, unwill-

.ürlich und oft unbewußt das Stoffliche und Geistige nebeneinander zu

teilen und beide gegenseitig ineinander hineinzutragen. So „vermensch-

cht" die Sprache das Außermenschliche und redet von einer „lachenden-

onne, einem „freundlichen" Zimmer, einem „munteren" Bach; und

mgekehrt überträgt sie das Außermenschliche in das Menschliche und

nicht von einer „kalten" Lieblosigkeit, einem „sonnigen" Charakter oder

 

isgebildet zu werden. Worum es sich handelt, ist seine Verknüpfung mit den

lementen der Natur.

  Von lateinisch anima = "Seele'', der Glaube an das Beseeltsein der Natur.

 7) Vgl. Wilh. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, Leipzig 1912, S. 361 f.:

1. — Der Heide schafft sich also seinen „Gott" nach seinem Bilde (vgl. umge-

:hrt 1. Mose 1,27).

 

         

 

 

 

 

 

 

 Die religionsbildende Kraft der menschlichen Sprache 95

 

 

einer „strahlenden" Freude. Noch phantasiereicher spricht sie von den

„Pfeilen" der Sonne (den Sonnenstrahlen), dem „Stechen" des Mondes

(vgl. Ps. 121, 6), den „Fenstern des Himmels" (Mal. 3, 10), den „Wim-

pern" der Morgenröte (Hiob 3, 9).

    Solange der Mensch nun an der Bildhaftigkeit dieser sprachlichen

Vergleiche festhält, besteht keine Gefahr, im Gegenteil, sogar eine Be-

reicherung seines Geistes. Im Augenblick aber, wo er, verfinstert durch

die Sünde (Eph. 4, 18; Röm. 1, 21b; 22) und irregeleitet durch dämonische

Mächte, von dieser phantasievollen Umkleidung des Wirklichen mit

Bildern fortschreitet zum Glauben an die Wirklichkeit dieser Bilder

selbst, ist auch von dieser Seite aus eine neue Welt naturvergötternder

Verstellungen am Entstehen, und die Sprache reiht sich ein unter die

Haupttriebkräfte heidnischer Religionsbildung.$)

    Von Bedeutung ist hierbei auch das grammatische Geschlecht; denn

in manchen Fällen war gerade dies das Entscheidende, ob man sich eine

Gottheit männlich oder weiblich dachte!)

     Dies alles beweist, daß von einem eigentlichen, national gearteten

Heidentum vor der Sprachenverwirrung nicht die Rede sein kann. Mögen

einzelne, naturvergötternde Ideen schon vor dem babylonischen Gericht

vorhanden gewesen sein: Das eigentliche, national geartete Heidentum

 selbst hat erst mit der Beiseitesetzung der Völkerwelt und der Zer-

 splitterung der Menschheit in getrennte Nationen seinen Anfang ge-

 nommen (vgl. 5. Mose 4, 19; Röm. 1, 18-32).

     Dies alles aber geschah zugleich unter dämonischer Mitwir-

 k u n g. Denn die Götter der Heiden sind keine leere Einbildung. Apollo

 und Diana, Aphrodite und Istar und wie sie alle heißen, sind, nach dem

 apostolischen Zeugnis des Neuen Testaments, keine bloßen, gedanklichen

 Personifikationen von Naturkräften oder reine Idealgebilde irrender,

 naturvergötternder Phantasie, sondern in ihrem Hintergrund sind irgend-

 wie wirklich vorhandene, dämonische Geistmächte, die sich auf dem

 Wege okkulter Inspirationen, in national geartetem, mythologischem

 Gewande — teils in lichtvoll-poetischer, teils schauerlich-düsterer Ein-

 

     8) Zu der weiteren Ausgestaltung des Gottbegriffes, besonders der Götter-

  gesdhidhte (des „Mythus") und der Jenseitsvorstellung des Heidentums, haben

  noch viele andere Triebkräfte mitgewirkt, z. B. das Furcht- und Wunschmotiv, das

  Vergeltungsbedürfnis, das Nachdenken über die Weltursache, ferner Erinnerungen

  aus der Volksgeschichte und Heldensage.

     ») Vgl. G. Runze, Religionsphilosophie, Leipzig 1901, S. 107 f.

 

 

 

 

 

96            Der dämonische Hintergrund des Heidentums

 

kleidung — den einzelnen Völkern offenbarten..") Sonst hätte der große

Völkerapostel auch nicht aus jener Wahrsagerin in Philippi einen „Py-

thon-Geist",") unter ausdrücklicher Berufung auf den

Namen des HErrn Jesu, „austreiben" können (Apg. 16,18);

und ebensowenig hätte er von den außerisraelitischen Religionen sagen

können, daß „die Heiden das Opfer, das sie darbringen, den bösen

Geistern darbringen" (1. Kor. 10, 20).12) So aber beruht das gesamte

Heidentum nicht nur auf Irrtum und Trug, sondern zugleich mit auf

spiritistischer Grundlage.

   Durch dies alles wird der Heide, unter dämonischer Beeinflussung,

,,der Schöpfer seiner Götter.") In seinen Religionen drückt sich seine

Gott losigkeit aus. Religion ist die Sünde, nämlich die Sünde gegen

das erste Gebot, die Vertauschung Gottes mit den Götzen" (1). Alt-

haus), „der kräftigste Ausdruck des Widerspruchs des Menschen zu Gott

und mit sich selber"(K. Barth).")

 

   10) Ebenso Joh. Warneck, Die Lebenskräfte des Evangeliums in der animisti-

schen Heidenwelt, 1922, S. 60-72.

   ") Wörtlich „python" (Apg. 16, 16). — „Python" war unter anderem eine Be-

zeichnung der Wahrsager des Apollodienstes. ln Delphi, der wichtigsten Orakel-

stätte Apolls, waltete als Hauptpriesterin die ,,Pythia" (ein Medium). Vgl. auch

das Medium von Endor (1. Sam. 28, 7; 8) und 3. Mose 20, 27 („Geist").

   12) Hier liegt also ein gewisses Wahrheitselement des nationalen Polytheismus.

Vgl. die Engelfürsten von Persien (Dan. 10, 13; 20) und Griechenland (Dan. 10, 20).

— Ebenso Th. Oehler, Calwer Bibellexikon, 1924, S. 811; auch Besser, Menken.

   ") Der Verschiedenartigkeit des Nationalcharakters usw. entspricht auch eine

Verschiedenartigkeit der religiösen Grundstimmungen:

      Der Grieche sagt:       „Mensch, erkenne dich selbst!"

      Der Römer sagt:         „Mensch, beherrsche dich selbst!"

      Der Chinese sagt:       „Mensch, bessere dich selbst!"

      Der Buddhist sagt:      „Mensch, vernichte dich selbst!"

      Der Brahmane sagt:      „Mensch, versenke dich selbst!"

      Der Mohammedaner sagt: „Mensch, beuge dich selbst!"

      Aber Christus sagt:     „Ohne mich könnt ihr nichts tun!" und

      in ihm sagt der Christ: „Ich vermag alles durch den, der mich

                               mächtig macht, Christus" (Phil. 4, 13).

   14) Andererseits liegt auch dem Götzenbegriff der Gottesgedanke zugrunde.

Jeder Abgott ist, bei aller Entstellung, ein Zerrbild des einen, wahren Gottes. Der

Mensch ist in seinen Religionen auf der Flucht vor Gott; aber auch auf der Flucht

wird er von Gott gehalten, kommt von dem Gottesgedanken nicht los und muß

im Verleugnen von ihm zeugen. Wahrheit und Unwahrheit, Würde und Unwür-

digkeit liegen im Heidentum nicht nebeneinander, sondern ineinander. „Darum

ist das Verhältnis der Offenbarung zur menschlichen Religion stets ein Zwiefaches

in einem: das Evangelium bricht die Religionen, ist ihr Gericht, sofern sie Lüge,

Sünde sind; das Evangelium erlöst, erfüllt die Religionen zu der Urwahrheit, von

 

 

 

 

 

 

             Vom Wesen der Weltgeschichte

 

97

 

 

   Dies Ganze jedoch ist der Irrweg von Milliarden von Menschen!

Jahrtausende hindurch hat er die Menschheit beherrscht. „Indem sie sich

für weise hielten, sind sie zu Narren geworden" (Röm. 1, 22). Damit aber

wird das babylonische Menschheitsgericht zu einem Gericht von unge-

heuerster Auswirkung. Denn die mit der Zersplitterung der Menschheit

und der Beiseitesetzung der Völkerwelt verbundene Bewu ßtseinsver-

wirrung hatte eine Religionsverwirrung zur Folge, die die Sprachenver-

wirrung an Bedeutung noch weit übertraf.

   Auch politisch war er von den schwersten Folgen.

 

 

   IV. Die weltgeschichtliche Völkerspannung

 

   Von nun an ist die Weltgeschichte ein Ringen zwischen zwei Kräften:

der Mittelpunktsziehkraft der Weltreiche') und der Mittelpunktsflieh-

kraft der einzelnen Völker,") und zwar so, daß immer wieder die Mittel-

punktsziehkraft der Welteroberer zuschanden gemacht wird durch die

Mittelpunktsfliehkraft der einzelnen Nationen. Die bedeutsamste Form

dieser Auseinandersetzung ist der Krieg, und darum werden Kriege und

Kriegsgeschrei sein, bis daß der HErr kommt (Matth. 24, 6).17)

   Zugleich aber wird all dieser `Widerstreit der Geschichtskräfte von

dem obersten Geschichtsherrn überwaltet (Am. 9, 7; Jes. 45, 1-3), und

dadurch wird die Völkergeschichte ein Völkergericht. „Gerechtigkeit

erhöht ein Volk; aber die Sünde ist Schande der Nationen" (Spr. 14, 34).

„Alle Epochen, in denen der Glaube herrscht, sind glänzend und frucht-

bar" (Goethe); aber sittlich morsche Kulturen gehen unfehlbar zugrunde.

 

der sie herkommen und in ihrer Weise zeugen" (nach P. Althaus, Der Wahrheits-

gehalt der Religionen und das Evangelium, Neue Allgemeine Missionszeitschrift

 1934, S. 282 f.).

   15) Vertreter dieser .,Zentripetalkraft" sind z. B. Nimrod, Nebukadnezar,

Kores, Alexander der Große, Napoleon.

   ") Vertreter dieser „Zentrifugalkraft" sind u. a. die Kämpfer von Marathon,

Arminius, Gandhi und überhaupt alle Freiheitskriege und nationalen Erhebungen.

   ") Dennoch bedeutet das Zersplitterungsgericht nicht etwa die Entstehung

 von Völkern an sich, sondern von geistig, religiös, sprachlich und politisch von-

 einander getrennten Völkern. Die rassische Gliederung der Menschheit als solche

 beginnt schon sofort nach der Sintflut (Sem, Hain, Japhet) und ist durchaus kein

 Gericht. Auch auf der neuen Erde wird es noch „Völker" geben (Off. 21,24;

 22, 2). Gott erstrebt eben Mannigfaltigkeit in der Einheit, d. h. eine „Völker-

 familie".

 

7 Sauer , Das Morgenrot der Welterlösung