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Neben der Schrift
Fakten zur Bibel
Das Morgenrot der Welterlösung Erich Sauer
Vorwort
Die Heilsgeschichte steht und fällt, nein, sie steht mit der Autorität des
HErrn Jesu. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß Christus sich gerade zu den
umstrittensten Teilen des Alten Testamentes bekannt hat, so zu der buchstäb-
lichen Geschichtlichkeit von Adam und Eva (Matth. 19, 8; Joh. 8,44), der Tat-
sächlichkeit der Sintflut (Matth. 24, 37; 38), dem Wundererlebnis des Propheten
Jona (Matth. 12, 39; 40).') Am auffälligsten bekennt er sich zum Buche Daniel;
denn gerade aus diesem, vom Unglauben heute so sehr angefochtenen Buch nimmt
er die Hauptbezeichnung seiner eigenen Person („Menschensohn". Dan. 7,13; 14;
Matth. 26, 64), ja verbindet sich gerade mit diesem Buch durch den einzigen Eid-
schwur seines Lebens (Matth. 26, 63; 64; Dan. 7, 13; 14)!') Und was die Zukunft
betrifft, so erwartet er seine persönliche Wiederkunft in Herrlichkeit (Matth.
24,
27-31) und die buchstäbliche Aufrichtung des von den Propheten geweissagten
Gottesreiches (Matth. 19, 28; 25, 31ff.; Apg. 1, 6; 7). Dasselbe tun seine
Apostel 3)
3808mal bezeugt das Alte Testament, diese Bibel des HErrn Jesu (Joh. 5, 39;
10, 35): „So spricht der HErr!"” Für Christus, das personhaft lebendige „II ort-
(Joh. 1, 1; 14; Off. 19, 13), tvar schon ein Tüttel oder Jota des geschriebenen
Wortes mehr wert als alle Sternenwelten und Sonnensysteme des gesamten Uni-
versumst „Wahrlich, ich sage euch: Bis daß Himmel und Erde zergehen, wird
nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vorn Gesetz, bis daß es
alles geschehe" (Matth. 5, 18 vgl. 24. 35; Joh. 10, 35). Und Paulus, sein
größter
Apostel, bekennt: „Ich glaube an all e s, was im Gesetz und in den Propheten
geschrieben steht" (Apg. 24, 14). Der Glaube an den Offenbarungscharakter der
Heiligen Schrift und ihre unzerstörbare Autorität ist darum keine geistlose Ver-
götterung des Buchstabens, keine kleingeistig unchristliche
Buchstabenknechtschaft,
sondern hat die größten Geister der Heilsgeschichte, ja, Christus, den Sohn Got-
tes, selber auf seiner Seite. „Die Offenbarung steht, nein, sie geschieht für
uns in der Schrift; sie geschieht — es gibt kein Ausweichen — in den biblischen
Texten, in den Worten und Sätzen, in dem, was die Propheten und Apostel als
ihre Zeugen sagen wollten und gesagt haben" (Karl Barth).
1) Vgl. auch Luk. 17, 32.
2) Vgl. auch Matth.
24, 15.
2) Z. B. Paulus: Röm. 5, 12-21; 1. Tim. 2,13; 14; 1.
Thess. 4, 16; 17; Röm. 11,
23-26. Jakobus: Kap. 3, 9; 5, 7. Johannes: 1. Joh. 3, 12; Off. 20, 2-7.
4) Nach Dr. Evans.
10
Vorwort
So lösen wir die Frage der Heilsgeschichte von dem König der Heilsgeschichte
aus. Die ganze Offenbarung ist ein Kreis, und Jesus Christus ist der Mittelpunkt
dieses Kreises. E r ist die Sonne, und von i h m aus wird der ganze Kreis
licht')
Die Bibel aber ist, als die Urkunde dieser Heilsgeschichte, ein einheitliches
Ganzes, ein lebensvoller Organismus, ein planmäßiges,
prophetisch-geschichtliches
System. Sie ist ,,ein kunstreiches Gebäude, zu welchem der Grundriß schon vor-
her entworfen ward", ein auf Christus hinzielendes, harmonisch abgestuftes Gan-
zes mit vollendetem Gleichmaß und Zusammenklang aller Teile. Das Thema vom
Reich Gottes aber und dem Rhythmus seiner stufenmäßig voranschreitenden Epo-
chen und Perioden ist die leitende Grundmelodie dieser gewaltigen, göttlichen
Gesamtsymphonie.")
Wir aber haben uns „schauend und lauschend niederzubeugen, um die Har-
monie des Gegebenen und Seienden zu erfassen". Das ist heilsgeschichtliche
Schriftauslegung. Erst sie wird dem Wesen der Bibel gerecht. Sie liest die Hei-
lige Schrift „äonenmäßig", d. h. nach Zeitaltern, Haushaltungen, Abstufungen,
Gliederungen. In ihr steht der menschliche Geist auf allerhöchster,
prophetischer
Warte. Hier weitet sich sein Blick zu weiten- und zeitalter-umspannender Schau.
;Hier sieht er hinaus über den engen Kreis seiner Persönlichkeit, hinaus über
die
Grenzen des Volkstums und der Kultur, ja hinaus über alle Schranken der Gegen-
wart und Zeit. Hier faßt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen,
überblickt das Werdende und Seiende zugleich, ja tut Lichtblicke hinein in das
Herz des Allerhöchsten, in die Tiefen der Gottheit selbst.
In diesem Sinne wollen wir nun an unsere Aufgabe herantreten: den Versuch
einer umrißartigen Schilderung der durch die Jahrtausende hindurch wandernden
"Pilgerreise" der göttlichen Heilsentfaltung von der Weltschöpfung an bis zu
Christus, dem Welterlöser.
Auf Vollständigkeit ist es nirgends im Folgenden abgesehen. Auch eine Aus-
einandersetzung zwischen dem biblischen und dem modern-philosophischen Welt-
bild konnte naturgemäß nicht in Frage kommen, ebensowenig eine Auseinander-
setzung
zwischen der positiven und der liberal-kritischen Einstellung zur Bibel
überhaupt.
Das Buch ist keine Glaubensverteidigung, sondern eine Heilsgeschichte.
Ein
Zuweitfassen seiner Aufgabe hätte den Rahmen des Ganzen gesprengt. Wohl
5) Wer aber insonderheit in bezug auf die ersten Kapitel der Bibel, die da-
nielischen
Weissagungen, die Bedeutung des Kreuzes, die leibliche Auferstehung
und
die persönliche Wiederkunft Christi eine durch Unglauben oder Halbglauben
gebrochene
Stellung zur Schrift einnimmt, dem wird A n f an g, Mitte und
Ende
des göttlichen Erlösungsplanes unklar sein, und der wundersame Gottes-
tempel
der Heilsgeschichte wird ihm ein verschlossener Bau bleiben.
5) In der evangelischen Kirche betonten dies vor allem Männer wie Coccejus,
Bengel,
Oetinger, Hahn, Rooß, Collenbusch, Crusius, Hasenkamp, Menken, Blum-
hardt,
Franz Delitzsch, Thomasius, Frank, Krafft, M. Baumgarten und namentlich
v.
Hofmann, Beck, Auberlen. Besonders das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert
der
Geschichte, wurde auch das Jahrhundert der heilsgeschichtlichen Theologie.
Vgl.
G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, Gütersloh
1923;
G. Weth, Die Heilsgeschichte, München 1931.
Vorwort
11
aber handelt es sich darum, mit der Geschichtseinheit der Bibel vollen Ernst zu
machen und den biblischen Geschichtsplan und die Menschheitsentwicklung so an-
zuschauen, wie sie sich in ihrer harmonischen Mannigfaltigkeit, ihrer kosmischen
Weltweite und ihrer etappenmäßigen Ordnung, von Gott aus gesehen, darstellen,
wenn die Bibel recht hat.
Was
das Äußere der vorliegenden Arbeit betrifft, so ist angestrebt: Allge-
meinverständlichkeit des Ausdrucks sowie Einteilung des Ganzen in viele kleine
Abschnitte. Besonders für solche, die das Folgende zu Vorbereitungen für die
Wortverkündigung bzw. zu persönlichem Schrift st u d i u m benutzen wollen,
sind die zahlreichen Bibelstellen (über 1600) berechnet. Vielfach sind sie
zugleich
eine Erweiterung des Gedankengangs. Die Bibelstellen sind, wo nicht anders
vermerkt, nach der Luther- oder Menge-Bibel wiedergegeben.
Der großen Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit des hier Vorliegenden
bin ich mir sehr bewußt. Doch befehle ich die Arbeit dein HErrn und seiner
Gnade. Mein Gebet zu ihm ist, daß er sie gebrauchen möge zum Dienst an seinen
Heiligen. Ihm selbst aber, „dem Könige der Zeitalter, dem unverweslichen, un-
sichtbaren, alleinigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Amen" (1. Tim. 1, 17).
Bibelschule Wiedenest, im August 1937
Erich Sauer
so.
Vorwort zur 2. Auflage
Dankbaren
Herzens sende ich hiermit diese 2. Auflage hinaus. Die freund-
iche Aufnahme, die das Buch in den Kreisen der Gläubigen hin und her gefunden
iat, ist mir eine große Freude gewesen. Schon während des Druckes der 1. Auflage
nußte die Zahl von 3000 auf 5000 erhöht werden. Auch dies zeigt von neuem,
vie die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Alten Testaments bei vielen
reute mit im Brennpunkt ihres Interesses steht. Möge der HErr das Buch auch
Luf seinem zweiten Gang gebrauchen, von der Christusbotschaft und Christus-
ierrlichkeit dieser „Bibel des HErrn Jesu" zu zeugen. Denn „das Alte Testament
;chmeckt nicht, wenn Christus darin nicht erkannt wird" (Augustinus); aber wenn
.7.r in diesem seinem eigenen Wort geschaut wird (1. Petr. 1,11), ist es voller
Le-
)endigkeit und Kraft. Denn es bleibt nun einmal bei der Wahrheit des Wortes
inseres großen deutschen Reformators: „Das Alte Testament ist die Quelle des
Neuen, und das Neue ist das Licht des Alten" (Luther).
Bibelschule
Wiedenest, im März 1938
Erich Sauer
Vorwort zur 4. Auflage
In
einer Zeit gewaltigster, weltgeschichtlicher Erschütterungen sende ich diese
Auflage hinaus. Mitten in Zusammenbrüchen des Menschlichen und Dämoni-
chen steht Gottes Wort — auch die Botschaft des Alten Testaments — fest wie
:in Fels in der Brandung. Es bewährt auch in der Gegenwart seine ZeitgemäiSheit
ind Ewigkeitskraft. Alle Feindschaft der Welt gegen die alttestamentliche
Gottes-
-ffenbarung jedoch erweist ihre Ohnmacht. „Wahrlich, ich sage euch: Bis daß
iimmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein
['üttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe" (Matth. 5,18).
Im
Wesentlichen ist der Text derselbe geblieben wie in den vorigen Aul-
agen. Nur an wenigen Stellen sind Textverbesserungen-vorgenommen worden.
.:inige Anhänge wurden gekürzt bzw. ausgelassen, weil die darin behandelten Fra-
en in dem inzwischen herausgekommenen Buch des Verfassers „Vom Adel des
vlenschen. Gedanken über Zweck und Ziel der Menschenschöpfung" (Gütersloh
947) eine genauere Bearbeitung erfahren haben.
Der
Herr wolle das Buch auch weiterhin segnen. Von der Herrlichkeit seines
Nortes, der Zielstrebigkeit seiner Geschichtsführungen, dem inneren Sinn seiner
chon von Anfang an auf Christus hin angelegten, alttestamentlichen Gottesoffen-
›arung zu zeugen — das ist die Aufgabe der hier vorliegenden Arbeit.
Bibelschule
Wiedenest, im Juli 1947
Erich Sauer
Inhalt und Aufbau
Vorwort .
Sei te
Inhalt und Aufbau .
13
Einleitung .
.
1 5
Erster Teil: Die Grundlagen der biblischen Offenbarungsgeschichte
1. Kapitel: Die vorweltliche Ewigkeit .
17
2. Kapitel: Die Weltschöpfung . .
24
3. Kapitel: Der Ursprung des Bösen
34
Zweiter Teil: Die Uroffenbarung
1. Kapitel: Die paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit
41
2. Kapitel: Sünde und Gnade .
54
3. Kapitel: Das Frührot des Heils
61
4. Kapitel: Zwei Menschheitswege .
71
5. Kapitel: Naturbund und Weltgeschichte (Der Bund Gottes
mit Noah) ..
79
6. Kapitel: Das heilsgeschichtliche Rassenprogramm
(Der Segen Noahs) . .
84
7. Kapitel: Das babylonische Menschheitsgericht .
91
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
A. Das Verheißungsfundament des Evangeliums
I. Kapitel: Der Heilsumfang des Alten Testaments . . . .
100
2. Kapitel: Die überragende Herrlichkeit des Abrahamsbundes
108
B. Das Geheimnis des Volkes Israel
3. Kapital: Israels Berufung und Dienstauftrag .
122
4. Kapitel: Israels Abfall und Krisenweg
127
C. Warum gab Gott das mosaische Gesetz?
5. Kapitel: Der Sinn des Gesetzes .
. 136
14
Inhalt und Aufbau
Seite
6.
Kapitel: Der Todesweg des Gesetzes
.
• 141
7. Kapitel: Der Lebensweg des Gesetzes
.
. 147
D. Das Gotteszeugnis der Prophetie
8. Kapitel: Die prophetischen Namen
.
159
9. Kapitel: Die prophetische Botschaft
.
. 167
10. Kapitel: Die Messiasprophetie
..
. 176
E. Die Heilszubereitung der Völkerwelt
11.
Kapitel: Die Zeiten der Nationen (Die vier Weltreiche
Daniels)
187
12. Kapitel: Die Fülle der Zeit
199
Anhang
1. Die Namen Gottes
217
II. Die Zuverlässigkeit der biblischen Urgeschichte
.
220
III. Die geologischen Formationen (Ubersichtstabelle)
222
IV. Der Stufencharakter des Heilsplans
•
223
V. Zeittafel zur alttestamentlichen Heilsgeschichte
•
227
VI. Die Könige Israels (Tabelle)
• •
235
Stichwörter-Verzeichnis . .
. 236
Literatur-Verzeichnis .
. 242
Einleitung
„Selig sind die Fragenden, die nicht über das Ewige, sondern
nach dem Ewigen fragen." (H. v. Wolzogen)
Weltschöpfung, Welterlösung, Weltvollendung — wie drei hoch-
ragende Rätselzeichen stehen diese Worte in der Geistesgeschichte der
Menschheit da. Noch nie ist ein Volk achtlos an ihnen vorübergegangen.
Gerade die Größten aller Zeiten waren bestrebt, sie zu deuten.
Bunt, widerspruchsvoll, oft völlig ungreifbar waren seit alters die
Antworten. System auf System ist ersonnen, Weltbild auf Weltbild
gefolgt. Auf den Trümmern des einen baute der andere sein Geistes-
gebäude auf, und auch heute noch ringt die Menschheit um sie mit aller
Kraft ihrer Gedanken.
Und doch ist die Antwort schon da! Gott selbst hat sie deutlich ge-
geben. Seine ewigen Gedanken sind keineswegs bloße „Ideen", die rein
über allem irdischen Weltverlauf schwebten, sondern schöpferische Taten,
die sich zugleich unmittelbar in alle Geschichte hinein stellen, sich tief
mit ihr verweben und „in, mit und unter" aller Geschichte sich wirksam
erweisen. „Die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Mensch-
heit, und die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte — Gottes"
(Raabe).
Aber die Antwort, die Gott gibt, ist er selbe r: Sein eigenes Sein
in der Person seines Sohnes. Als das ewige „Wort" ist der Sohn die
Zentralsonne aller Gottesoffenbarung im gesamten Universum.
Aus Gott geht alles hervor; hier enthüllt sich der Urgrund der
Vergangenheit, das Wesen der Weltschöpfung (Kol. 1, 16; Joh. 1, 3).
Durch Gott wird alles vollbracht; dies deutet die Frage der
Gegenwart, das Werden einer Welter/ösung (Röm. 11, 36).
Zu Gott strebt alles zurück; hier zeigt sich das Ziel aller Zu-
kunft, das Wesen aller Weltpollendung (1. Kor. 15, 28).
16 Die Bibel —
der Schlüssel zum Weltgeschehen
So ist Gott der HErr, geoffenbart in Christo, der Fels aller Zeiten,
der personhaft lebendige Urgrund alles Seins.
Aber das ewige Wort offenbarte sich durch das gesprochene Wort,
und das gesprochene 'Wort ward zum geschriebenen, und das geschrie-
bene Wort wurde zur Bibel. So ist denn die Bibel der Schlüssel zum
Weltgeschehen, das Buch der Menschheit, d a s Buch der Geschichte.
Von ihrem Verstehen hängt darum a 11 e s ab. Ohne sie sind
wir Tappende und Tastende in einem lichtleeren, verfinsterten Kerker.
Wem aber die Bibel aufgeht, dem geht die Sofie auf und mit ihr der
Himmel und all sein Glanz. Sein Pfad wird erhellt, sein Leben wird
licht; die Zeit wird verklärt, das Göttliche siegt, und immer mehr be-
greift er das große Wort:
„Jetzt ist Ewigkeit."1)
1) Letztes Wort Söderbloms.
ER S T E R TEIL
Die Grundlagen
der biblischen Offenbarungsgeschichte
1. K a p i t e 1: Die vorweltliche Ewigkeit
„Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der Sinn."
Gott ist der einige, ewig absolute Geist (Joh. 4, 24). Geistigkeit, Ein-
heit und Ewigkeit gehören zu dem Kern seines Wesens, und er selbst
ist der Inbegriff alles höchsten, vollkommensten Lebens. Als solcher aber
ist er zugleich wirklichste Wirklichkeit, wollendes Ich, bewußte Persön-
lichkeit, ja ewige überpersönlichkeit, und alle endlichen Deutungsver-
suche seines unendlichen Seins durch den menschlichen Geist sind ewig
vergeblich.
Gottes„beweise" kann es darum nicht geben. Auch die Schrift läßt
sich gar nicht erst darauf ein. Denn der Gottesgedanke sprengt alle
menschlichen Denkmittel, und schon der bloße 'Versuch einer staub-
geborenen Kreatur, Gott (!!) „beweisen" zu wollen, ist nichts als kin-
dische Selbstüberschätzung, ja maßlose Vermessenheit kleingeistigen
Größenwahns. Gott ist als Gott der Ewige und Unendliche und als
solcher nimmermehr Denkproblem menschlicher Maulwurfsspekulation!
Dennoch haben die sogenannten „Gottesbeweise" ihren nicht zu
unterschätzenden Wert') Sie beweisen die Vernunftgemäßheit des Got-
tesglaubens und machen die sichtbare Welt zum Zeugen und Sinnbild
der ewigen. Sie zwingen den denkenden Geist zu einem letzten, unaus-
weichlichen Entweder—Oder: Entweder unser Denken beruht auf einer
unentrinnbaren, sinnlosen Einbildung, oder aber: Gott existiert, und
1) Selbst für Kant hatten der teleologische und der Moralbeweis doch ihre Be-
deutung.
2 Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung
18
Die Vernunftgemäßheit des Gottesglaubens
dann ist es der Ausdruck einer unbedingten, allumfassenden Wirklich-
keit.
Gott muß da sein — dies ist das Zeugnis der allgemeinen Natur -
als der allverursachende Urgrund der Welt; dies fordert der
Blick in die Vergangenheit, die Trage nach der U r s a c h c, dem
„Woher?" alles Seienden;)
als der schönheitsvoll kunstreiche Baumeister der Welt; dies
fordert der Blick in die Gegenwart, die Erkenntnis der 0 r d -
n u n g, des „Wie?" alles Seienden (Röm. 1, 20; Ps. 104, 24; 94, 9);3)
als der planvoll zweckgebende Zielsetzer der Welt; dies fordert
der Blick in die Zukunft, die Frage nach dem S i n n, dem „Wozu?"
alles Seienden.')
Und ferner: Gott muß da sein — dies ist das Zeugnis der mensch-
lichen Seele -
als die höchste Idee des Verstandes; denn wie könnte gerade
der höchste Gedanke wesenlos seinn
als der oberste Gesetzgeber des Willens (bzw. Gewissens);
denn wie kann das sittliche Gesetz ohne Gesetzgeber entstanden
sein?)
als der einzige Glückseligmacher des Gefühls; denn warum
findet die Seele keine Ruhe, bis daß sie ruht in Gott?')
So zeugt denn von seinem Dasein alles auf Erden: die Welt um
uns und in uns, das Außer- und Innermenschliche. Ohne ihn ist die Welt
nur ein „alles verschlingendes Grab", ein „ewig wiederkäuendes Unge-
heuer" (Goethe), ein Riesenorganismus, der zwar bis ins Kleinste und
Winzigste unfaßbar genau und zweckmäßig eingerichtet ist, selber aber
2) Dies ist der „kosmologische" Gottesbeweis (Aristoteles, Cicero, Deskartes,
Leibniz, Schleiermacher).
3) mies ist der „physiko-theologische" Gottesbeweis (Sokrates, Aristoteles,
Leibniz, Wolff).
4) Dies ist der „teleologische" Gottesbeweis (Sokrates, Plato, die Stoa, Philo,
die Scholastik). — telos (griechisch) = Ziel.
5) Dies ist der „ontologische" Gottesbeweis (Anselm, .Deskartes, Spinoza,
Schelling, Hegel).
') Dies ist der „Moralbeweis" (Kant).
7) Dies ist der „psychologische" Gottesbeweis (Tertullian, Augustin, Schleier-
macher).
Die Dreieinheit Gottes
19
als Großes und Ganzes die Ziel l o s i g k e i t und Zweck l o s i g k ei t
geradezu zum Motto hat. Ohne ihn ist aller Wert in der Welt nur we-
senlose Einbildung, und der Urgrund alles Sinn vollen ist ewig das
Sinn 1 o s e. Nein, angesichts des Vorhandenseins unübersehbarer Weis-
heit im gesamten Universum ist der Gott leugnende Unglaube nur eine
gedankenlose Phrase, eine gehirnleere, stumpfsinnige Geistlosigkeit. Nur
„die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott" (Ps. 14, 1).
Gott ist Liebe (1. Joh. 4, 16). Liebe ist der Urgrund seines Lebens,
der innerste Quellpunkt, aus dem sich sein Wesen ewig heraussetzt, das
schöpferische Zentrum, das all sein Wirken und Walten erzeugt.
Liebe aber ist Dreieinheit. Schon Augustinus sagt: „Wenn Gott die
Liebe ist, dann muß in ihm ein Liebender, ein Geliebter und ein Geist
der Liebe sein; denn es ist keine Liebe denkbar ohne einen Liebenden
und einen Geliebten." Nun mag zwar bei Menschen ein Liebesbund
schon in der Zwei heit der Personen — und gerade in ihrl — seine
Genüge finden; aber nichtsdestoweniger liegt es im Begriff der Liebe
selber, stets eine Drei einheit zu sein:
ein Aus-sich-sein der Liebe, da sie stets aus dem Liebenden
hervorgeht,
ein
Zu-sich-sein der Liebe, da sie stets zu dem Geliebten hin-
strebt, und
ein In-sich-sein der Liebe, da sie die beiden durch den gemein-
samen Geist der Verbundenheit ineinander verschlingt')
So weit gelangt, tastend, das menschliche Denken. Daß aber diesen
drei Grundbegriffen der Gottesidee auch tatsächlich drei Personen der
Gottheit entsprechen, das vermag nur die Offenbarung des ewigen Got-
tes selber kundzutun. „Der Vater ist der ‚aus' sich seiende, der Sohn der
‚zu' sich gelangende, der Geist der sich ‚in' sich bewegende Gott."9) Der
Vater ist der Liebende, der Sohn der Geliebte, der Heilige Geist der
Geist der Liebe.
Drei göttliche Personen und doch e i n Gott, Wesensgleichheit des
Sohnes mit dem Vater und doch freiwillige Unterordnung unter ihn
(1. Kor. 15, 28), Ursache aller Ursachen und doch selber u n verursacht —
wahrlich, hier sind Geheimnisse über Geheimnisse. Hier steht der end-
8) „Wo Liebe, da Dreieinigkeit" („Ubi amor, ibi trinitas"), Augustinus.
9) Ebrard, Dogmatik I, S. 173, 122-128.
20 Die heilsgeschichtliche
Offenbarung der göttlichen Dreieinheit
liehe Geist ewig vor dem Rätsel des Unendlichen. Selbst bis in endlose
Ewigkeit gelangt raumzeitliches Denken niemals in die Sphäre der Ober-
räumlichkeit und Überzeitlichkeit Gottes hinein. Denn Gleiches wird
nur von Gleichem erkannt, also Gott nur durch Gott.")
Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?
Gar verschieden ist diese Frage beantwortet worden. Die einen haben
schon ihre Berechtigung abgelehnt (Luther); die andern haben versucht,
sie philosophisch zu deuten (Origenes). Die Bibel geht einen vermitteln-
den Weg, indem sie Verhüllung und Enthüllung zugleich bringt und, in
göttlicher Herablassung, ihre Mitteilungen über das Ewige und über-
zeitliche in die Formen geschöpflichen, raum-zeitlichen Denkens einklei-
det (z. B. Jes. 43, 10).11)
In diesem Sinne gibt sie uns hier eine siebenfache Antwort:
") Erst allmählich wird in der heiligen Geschichte dies göttliche Geheimnis
geoffenbart. Zuerst offenbart Gott seine E i n h ei t, und zwar in
ausdrücklichem
Gegensatz zu der vielgötterischen Umgebung und der vielgötterischen Neigung
des alttestamentlichen Bundesvolkes (z. B. 2. Mose 20,1; 2; Jes. 45, 5; 6). Erst
nach
Ablauf von Jahrhunderten, nachdem der Glaube an die Einheit Gottes in Israel
unausrottbar festsaß — und das geschah durch die babylonische Gefangenschaft
(6. Jahrh. v. Chr.); seitdem war die Vielgötterei niemals mehr eine Versuchung
für
Israel —, offenbart Gott im Neuen Bunde in der Einheit die M e h r h ei t. Denn
ist Jesus von Nazareth mehr als Prophet, ist er Gott seinem Wesen nach, so ent-
hüllt sich hier eine göttliche Zweiheit; und ist der Geist Gottes nicht nur eine
Kraft, sondern eine göttliche Person, so offenbart sich die göttliche Drei
einheit
(vgl. Sauer, Der Triumph des Gekreuzigten, S. 61, Anm. 2). Zum ersten Male
tritt diese Dreieinheit im Neuen Testament bei der Taufe Jesu hervor (Matth. 3,
16; 17), dann besonders im Taufbefehl (Matth. 28, 19). Daher auch die vielen
„trinitarischen" Stellen im Neuen Testament (z. B. 2. Kor. 13,13; 1. Petr, 1, 2;
2. Thess. 2,13; 14; Eph. 2, 18-22; Hebr. 9, 14). — Das Wort „Trinität"
(„Dreiein-
heit" besser als „Dreieinigkeit") findet sich zwar nicht in der Schrift, wohl
aber,
wie aus Obigem hervorgeht, die Sache. Alle philosophischen Spekulationen über
den
Inhalt des „Trinitätsproblems" sind jedoch zwecklos und meist vom übel
(vgl.
die trinitarischen Streitigkeiten des 4.-6. Jahrhunderts. Arius).
") Für Gott selbst als den Ewigen gibt es überhaupt keine Schranke der Zeit,
keine
Reihenfolge eines „Vor" und „Nach". Er schaut alle Zeiten zugleich, und
daher
ist ihm auch die Welt in all ihren Ausdehnungen schon ewig gegenwärtig.
Zwar
gibt erst sein schöpferisches Wort ihr den zeitlich geschichtlichen Anfang;
aber
in seinem Denken hatte er sie doch schon von Ewigkeit her in anfangsloser
und
zeitloser Weise. Von dieser organischen Verknüpfung von Ewigkeit und Zeit
aber,
wie überhaupt von Gottes ganzem Denken, vermag kein Geschöpf sich je
eine
Vorstellung zu machen.
Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?
21
1. Gott hat vor Grundlegung der Erdwelt die Engel und Sterne ge-
schaffen. Darum spricht er zu dem nichtigen Menschen: „Wo warst du,
als ich die Erde gründete? ... Wer hat ihren Eckstein gelegt, während
die Morgensterne allesamt laut frohlockten und alle Gottessöhne jauchz-
ten?" (Hiob 38, 7; vgl. 1, 6; 2, 1.)
2. Gott hat vor Grundlegung der Gesamtwelt in ewigem Liebesver-
kehr mit seinem Sohne gestanden. Schon „v o r seinen Werken von
jeher" besaß er die ewige „Weisheit" (Spr. 8, 22; 23), das „Wort", das
dann später in Christo erschien (Joh. 1, 14). Schon damals „im Anfang"
war dieses Wort „zu Gott hin", stand ewig mit ihm in hinstrebendera
Gemeinschaftsverkehr (Joh. 1, 2). Und der Vater liebte den Sohn, der
hernach auf Erden bezeugt: „Du hast mich geliebt vor Grundlegung der
Welt" (Joh. 17, 24).1 „Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir
selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir schon besessen habe, ehe di8
Welt war" (Joh. 17, 5). So war denn der Sohn beim Vater
das ewige Wort (Joh. 1, 1; 2),
die ewige Weisheit (Spr. 8, 22; 23),
der ewig Geliebte (Joh. 17, 24),
der ewig Herrliche (Joh. 17,5).
3. Gott hat vor Grundlegung der Welt den Heilsrat für die einzelnen
beschlossen.
Darum hat er ihre Namen schon von Anbeginn der Welt
in
das Lebensbuch des Lammes geschrieben (Off. 13,8; 17, 8), ja, hat sie
in
Liebe schon v o r aller Schöpfung zur Sohnschaft und Heiligkeit be-
stimmt
(Eph. 1,4; 5). Damit aber hat er ihnen auch das Leben schon
„v
o r ewigen Zeiten" verheißen (Tit. 1, 2), und, vom Gesichtspunkt der
Überzeitlichkeit
Gottes aus, ist uns somit seine Gnade schon „v o r den
Zeiten
der Zeitalter" geschenkt (2. Tim. 1, 9).
4. Gott hat vor Grundlegung der Welt den Heilsrat der Gemeinde
gefaßt.
Der Wunderbau des „Leibes" war schon von Ewigkeit her vorn
") Grundfalsch ist die für das hier und an zehn anderen Stellen gebrauchte
griechische
Wort katabole zuweilen dargebotene Übersetzung „Herabsturz". Diese
Bedeutung
hat das betreffende Wort niemals in der griechischen Sprache. Die
richtige
Bedeutung ist „Herabsenkung der Fundamente, Grundlegung, Gründung"
(vgl.
2, Mkk. 2,29; Hebr. 6, 1; Josephus, Porphyrius, Polybius, Plutarch). Der Sinn
des
Wortes hat nichts mit dem Ereignis von 1. Mose 1,2 zu tun. Vgl. W. Bauer,
Griech.-deutsch. Wörterbuch zum Neuen Testament; 1925.
22
Was tat Gott vor Grundlegung der Welt?
Erlöser beschlossen. Schon „von den Äonen her" war darum auch das
Christusgeheimnis verborgen in Gott, „daß die aus den Nationen Mit-
erben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber seiner Verheißung in
Christo Jesu durch das Evangelium" (Eph. 3,9; 6 Elb.).
5. Gott hat von Grundlegung der Welt an den Seinen das Reich be-
reitet. Darum wird einst der König zu denen zu seiner Rechten sagen:
„Ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an"
(Matth. 25, 34), und darum ist auch die verborgene, geheimnisvolle Weis-
heit schon „v o r den Äonen" zu unserer Verherrlichung bestimmt
(1. Kor. 2, 7).
6. Gott hat vor Grundlegung der Welt seinen Sohn zum Mittler des
Heilsratschlusses ersehen. Der Sohn ist das Lamm, ohne Flecken und
Fehl, zuvorerkannt, ehe der Welt Grund gelegt ward (1. Petr. 1, 20).")
7. Der Sohn war aber schon von Ewigkeit her zum Erlösungswerk
willig. Darum war sein späteres Sterben am Kreuz ein Selbstopfer für
Gott „durch den e w i g en Geist" (Hebr. 9, 14), das heißt, durch den
ewigen Geist Gottes, in dem Christus auch sonst alle seine Taten vollzog
und in dem er zuletzt auch seine Selbsthingabe in den Tod — obwohl in
der Zeit ausgeführt — dennoch als eine überzeitliche Tat dem Vater dar-
brachte (vgl. Hebr. 13, 20).
So steht hinter allem Zeitverlauf Ewigkeitsgeschichte. Die Unend-
lichkeit fließt hinein in die Zeit, wie die Zeit einst wieder einmünden
soll in die Ewigkeit. Dabei ersieht der Vater, nach ewigem Plan, den
Sohn als Erlöser zuvor und beschließt, ihn als höchste, unaussprechliche
„Gabe" (Joh. 3, 16; 2. Kor. 9, 15) in die zu errettende Welt zu „senden"
(Gal. 4, 4); zugleich aber bestimmt er, nach demselben ewigen Plan, ihm,
als dem Mittler des Heils, die Schar der Erlösten zum "Erbe" (Ps. 2, 8;
13) Christus ist der Mittler der Weltschöpfung. „Denn in ihm ist alles geschaf-
fen worden, was im Himmel und auf der Erde ist" (Kol. 1, 16; Off. 3, 14; Joh.
1,3; vgl. 1. Mose 1, 1; 2).
Er ist der Mittler der Welterhallung. Denn „er trägt das All durch sein All-
machtswort" (Hebr. 1,3; Kol, I, 17).
Er ist der Mittler der Welterlösung. Denn „es war das Wohlgefallen der gan-
zen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen"
(Kol. 1,19; 20; Eph. 3, 11; 1.4; Hebr. 1, 2; 1. Petr. 1,20).
Er ist der Herr des Weltgerichts; denn „alles Gericht hat der Vater dem
Sohne gegeben" (Joh. 5, 22).
Der vorweltliche Erlösungsratschluß
23
Eph. 1, 4). So wird der Sohn die Gabe des Vaters an die Welt, und die
Welt, soweit sie erlöst ist, wird zur vorzeitlichen Gabe des Vaters an
den Sohn (Joh_ 17, 6; 9; 24). Deshalb kann dieser auch in seinem Hohen-
priesterlichen Gebet die zu seiner Erdenzeit noch nicht Wiedergeborenen,
aber einst später zum Glauben kommenden als solche bezeichnen, die
ihm der Vater schon damals gegeben hat (Joh. 17, 24 vgl. 20), und Paulus
kann sagen: „Die er gerechtfertigt hat, denen hat er auch die Herrlichkeit
verliehen" (Röm. 8, 30).
Die geschichtliche Entfaltung dieses ewigen, innergöttlichen Er-
lösungsratschlusses sind dann die Bundesschließungen und Testamente
Gottes an die Menschheit, deren Ziel der „ewige Bund" ist, den das Blut
des Gottessohnes eingeweiht hat (Hebr. 13, 20). „Vater, ich will, daß, wo
ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast" (Joh. 17, 24).
Aber nicht zur Befriedigung neugierigen Vorwitzes stehen alle diese
gewaltigen Worte in der Schrift, auch nicht nur zur lehrhaften Vervoll-
ständigung unseres heilsgeschichtlichen Weltbildes, sondern um uns die
Größe der göttlichen Liebe zu zeigen. Schon v o r allen Zeitaltern hat
sich der Höchste mit deiner und meiner Verherrlichung beschäftigt!
E h e noch das Meer wütete und wallete, e h e die Erde gebaut und ihre
Grundfesten eingesenkt wurden, ja e h e jene Morgensterne jubelten und
jene Gottessöhne jauchzten: da hat Gott, der Allmächtige, schon an
mich gedacht! An mich, den Erdenwurm, der ich ihm mit all meinen
Sünden so viel Mühe und Arbeit gemacht habe, an mich, er, der Gott der
Urzeit! \Vahrlich, das sind Tiefen, die nie zu ergründen sind und die zu
beschreiben jedes Menschen Herz und Wort versagt. Hier können wir
uns nur niederbeugen und anbeten und ihm, dem Alliebenden, unser
Leben zu Füßen legen.
2. Kapitel: Die Weltschöpfung
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Mit dem Wort seiner
Macht rief er Sonnen- und Sternensysteme hervor. „Er sprach: Da ge-
schah es; er gebot: Da stand es da!" (Ps. 33, 9 vgl. V. 6).
I. Der Ursprung der Weltschöpfung
W a r u m Gott überhaupt eine Welt schuf, vermag niemand zu
sagen. Als der absolut „selige Gott' (1. Tim. 1, 11) ist er um seiner
selbst willen da, genügt ewig sich selbst und bedarf nicht eines anderen,
der für ihn da wäre. 'Wohl ist er die Liebe, und Liebe braucht wesens-
notwendig einen Geliebten, ein anderes Ich, auf das sie sich liebend er-
streckt. Aber dies andere Ich war in Gott schon ewig vorhanden. Im
Sohne gelangte die göttliche Liebe schon anfangs- und endlos zu völliger
Entfaltung und restloser Befriedigung. „Du hast mich geliebt vor Grund-
legung der Welt" (Joh. 17, 24). Darum ist das einzige, was hier gesagt
werden kann, dies: Gott hat die Welt geschaffen, weil er sie schaffen
w oll t e. Sicher ist zwar sein Wollen und seine Freiheit nicht unbe-
herrschte Willkür, so daß auch der Schöpfungsentschluß aus ewigen,
innergöttlichen Gründen hervorgegangen sein muß; aber welche diese
sind, hat uns Gott nicht geoffenbart, und damit müssen wir uns beschei-
den (Röm. 11, 33; 34).
II. Der Zweck der Weltschöpfung
Deutlicher ist in der Schrift die Frage beantwortet, wozu Gott die
Welt schuf.
1. Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Alles, was
Gott tut, hat ewig ihn selber zum Ziel; es geschieht „um seines Namens
willen" (Ps. 23, 3), durchaus für ihn selbst (Eph. 5, 27), „zum Preise seiner
Herrlichkeit" (Eph. 1, 6; 12; 14), „auf daß Gott alles sei in allen" (1. Kor.
15, 28). Denn weil Gott, kraft seiner Vollkommenheit, stets das Höchste
wollen muß, und selber, infolge seiner Göttlichkeit, der Höchste ist, muß
Der Zweck der Weltschöpfung
25
er stets den Inhalt seines eigenen Wesens zum Ziel seines Wollens haben.
Darum
muß auch sein Werk so eingerichtet sein, daß es zu i hm hin sei
und
in i h m sein Ziel habe. Der Zweck der Weltschöpfung muß also in
der
Entfaltung, Darstellung und Offenbarung der Herrlichkeit Gottes
bestehen.
Er selbst ist ihr Anfang, ihre Mitte und ihr Endziel, der Erste
und
der Letzte, das A und das 0 (Röm. 11, 36; Kol. 1,16; Hebr. 1, 2).
2. Offenbarung der Liebe Gottes. Dieser Selbstverklä-
rungsplan
Gottes muß aber ein vollkommener sein und sich darum in
doppelter
Weise entfalten. Nicht nur seine Allmacht, Allgegenwart und
Allwissenheit,
sondern auch seine Gerechtigkeit, Liebe und Wahrhaftig-
keit
müssen in die Erscheinung treten. Ersteres kann zwar schon im
Räumlichen
und Dinglichen geschehen, das heißt im Mineralreich, Pflan-
zen-
und Tierreich; letzteres aber erfordert die Schaffung sittlich freier
Persönlichkeiten,
also ein Geist esreich innerhalb der Kreatur. Da aber
gerade
das Heilige das eigentlich Wesenhafte an Gott ist, muß auch in
seinem
Weltplan im Sittlichen der höhere Zweck des Stofflichen liegen,
und
der Hauptgrund des ganzen Schaffens einer Welt muß die Verklä-
rung
der sittlichen Eigenschaften Gottes als des Heiligen, Seligen
und
Weisen in der Schöpfung sittlich freier Persönlichkeiten sein. Erst
in
ihnen — nämlich in den Engeln und den Menschen — kann sich
Gottes
Selbstverklärung geschöpflich vollenden.
Das Wesen eines solchen Geisteslebens und überhaupt das Wesen
aller
wahren Sittlichkeit ist aber nicht etwa nur sachliche Gesetzesaus-
führung
und bloße, rein rechtliche Freiheit von Sünde und Schuld, son-
dern
personhaft organische Anteilnahme an dem sittlichen Leben der
Gottheit
selbst. Denn Gott, als der oberste Gesetzgeber, hat die sittliche
Weltordnung
nach seinem Wesen bestimmt, und er ist Lieb e, voll-
kommenste
Liebe (1. Joh. 4, 16). Darum muß auch die sittliche Bestim-
mung
der freien Kreatur eine Bestimmung zur Liebe sein, und der
oberste
Endzweck der Weltschöpfung muß in der Selbstentfaltung und
Selbstverklärung
Gottes als des Vollkommenen, Heiligen und Liebenden
durch
Aufrichtung einer Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen Schöp-
fer
und Schöpfung bestehen. Das aber heißt: Gott hat die Welt ins Da-
sein
gerufen, um sie lieben zu können, und auf daß sie ihn wiederliebe.
Sein
Ziel ist fortan, sie zum ewigen Mitgenuß seiner Heiligkeit und Liebe
und
damit zur Seligkeit und Herrlichkeit zu führen (vgl. Röm. 8, 17).
26 Der göttliche Stempel auf
dem biblischen Schöpfungsbericht
Kein
Wunder darum, daß bei einer so hohen Bestimmung der Welt-
chöpfung auch auf dem biblischen Schöpfungsbericht in besonderer
Veise der Stempel der Göttlichkeit liegt. Deutlich zerfallen die sechs
Tage" in zwei Dreiheiten, die in ihren Gliedern einander genau ent-
prechen.1) Am ersten Tage schuf Gott das Licht, am vierten die licht-
ragenden Gestirne; am zweiten die Luft und das Meer, am fünften die
7ögel in der Luft und die Fische im Meer; am dritten das Land und die
Tanzen, diese niedrigste Stufe des irdischen Lebens, am sechsten die
,andtiere und den Menschen, diese höchste Stufe des irdischen Lebens.
)as Werk der sechs Tage trägt also unverkennbar das Gepräge der gött-
ichen Dreizahl. Es holt, nachdem es in drei sich steigernden Schöpfer-
mpulsen bis zu einem gewissen Höhe- und Ruhepunkt gelangt war, von
[euern aus und beginnt, zum Ausgangspunkt zurückkehrend, gleichsam
•on vorn, um wiederum in dreifacher Steigerung sein Ziel zu erreichen.
der
Schöpfung des Lichts fängt es an, mit der Schöpfung der Lidfiter
etzt es sich fortla) So aber wird diese doppelte Dreiheit eine tiefe,
ahlensymbolische Prophetie von dem Ursprung, Charakter und Ziel der
;rdwelt überhaupt. Alles ist von ihm, durch ihn und zu ihm hin. In allem
will e r sich verklären. Alles soll göttlich sein.
III. Die Größe der Weltschöpfung
1.
Die Heerschar der Stern e. Unermeßlich und weltenweit
st der Gesichtskreis der Bibel. Sie redet nicht nur von Erde und Zeit,
ondern vor allem von Himmel und Ewigkeit, und die obere Welt be-
chreibt sie als eine Vielheit himmlischer Sphären. „Die Himmel und
Her Himmel Himmel mögen dich nicht fassen" (1. Kön. 8,27)2) Weit
lavon entfernt, in der kleinen Erde etwa „die Welt" zu sehen, die den
nathematischen Mittelpunkt und Hauptinhalt der ganzen Schöpfung
1)
Die erste Dreiheit enthält die Werke der Scheidung (des Lichts von
ler Finsternis, der oberen Wasser von den unteren, des trockenen Landes vom
leer). Die zweite Dreiheit enthält die Werke der Belebung und Aus-
chmück u n g (Sonne, Mond und Sterne; Fische und Vögel; Landtiere und
4ensch).
la)
Vgl. Franz Delitzsch, Kommentar über die Genesis, Leipzig 1860, S. 88f.
2)
So ist auch das hebräische Wort für „Himmel" stets eine Mehrzahlforrn,
die Himmel", ha-schamajim, wobei „im" die männliche Mehrzahlendung ist (vgl.
7herubim, Seraphim), Vgl. Eph. 4,10 („alle Himmel"); 2. Kor. 12, 2 (dritter
limmel).
27
Die Größe der Weltschöpfung
ausmache, sind ihr die Völker vielmehr „wie ein Tropfen am Eimer",
wie ein „Sandkorn", das in der Waagschale bleibt (Jes. 40, 15); die In-
seln sind ihr wie „Stäubchen", und die gesamte Menschheit wie „Heu-
schrecken" (Jes. 40, 22). Ja, die ganze Erde ist ihr wie eine „Fußbank" am
himmlischen Thron (Matth. 5, 35; Apg. 7, 49).3) Niemand aber wäre so
töricht zu meinen, daß die Fußbank der Mittelpunkt eines Palastes sei,
oder daß der Schemel am Königsthron diesen an Größe und Bedeutung
überträfe! Nein, „alle Völker sind wie ein Nichts vor ihm" (Jes. 40,17).
„Wenn ich anschau' den Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond
und die Sterne, die du bereitest: Was ist der Mensch, daß du sein ge-
denkst, und der Erdensohn, daß du ihn beachtest?" (Ps. 8, 4; 5).
Schon die Größe unserer eigenen Erde übersteigt alles Denken.
Sämtliche Menschenbauten der Welt, alle Schiffe, Städte und Dörfer,
würden, zusammengenommen, noch nicht einmal drei Kubikmeilen aus-
machen.{) Die Erde aber hat über 2600 Millionen solcher Kubik-
meilen! Und doch ist sie selber im Wirbel der Gestirne nur ein astro-
nomisches Atom, nur ein winziges Stäubchen im Sonnenozean des Welt-
alls! Allein schon im riesigen Glutball der Sonne hätte sie über eine und
eine Viertel Million mal Platz;') und wollte ein Schnellzug ohne Unter-
brechung in rasender Fahrt von hier bis zur Sonne gelangen, so brauchte
er über 168 Jahre dazul
Die Sonne selber aber ist auch nur ein Stern inmitten einer gewal-
tigen, kugelförmigen Gruppe von 400 Sternen,') und hier sind die Ent-
fernungen noch unermeßlicher. Allein bis zu unserer allernächsten Nach-
barsonne, dem Fixstern „Alpha Centauri",8) braucht das Licht, das doch
in einer einzigen Sekunde siebenmal die Länge des ganzen Erdäquators
3) „Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße"
(Jes. 66, 1).
') F. Bettex errechnet sogar nur eine Kubikmeile (Natur und Gesetz, 1923,
S. 46).
5) Genauer 1 297 000mal.
°) Die Erd-Sonnen-Entfernung ist 149,5 Millionen Kilometer
7) Da die Anordnung der mit bloßem Auge sichtbaren, näheren Sterne „in
keiner erkennbaren Beziehung zur Milchstraße steht, müssen alle diese Sterne
einen großen, nahezu kugelförmigen Sternhaufen bilden, zu dem auch unsere
Sonne gehört" (Prof. Klein, Die Welt der Sterne, 1919, S. 95) und der (nach
Prof.
Riem, Natur und Bibel, 1911, S. 42) aus ungefähr 400 Sonnen besteht.
8) Am südlichen Sternhimmel.
28
Die Heerschar der Sterne
Fliegt') mehr als vier Jahre und drei Monate! Und zum Stern 61 im
Schwan,- unserem drittnächsten Fixsternnachbar, müßte der schnellste
Eisenbahnzug der Welt 80 Millionen Jahre fahren.") Und doch stehen
die Sterne in einem solchen Sonnensternhaufen, verglichen mit den stern-
losen Abgründen des eigentlichen Weltraums, noch ungemein eng bei-
einander! Das beweist schon dem stern- u n kundigen, nächtlichen Wan-
derer das dicht Nebeneinander-Gedrängtsein der diamantartig blitzenden
Lichtpünktlein im Sternbild der Plejaden, unweit des Orion, die einen
ähnlichen Sternhaufen bilden, wie der „unsrige".") Wie funkelt hier
Stern neben Stern! Ja, die photographische Platte zeigt hier auf einer
Fläche des Himmels, die nicht größer ist als die Mondscheibe (!!), 1681
Sterne und in der weiteren Umgebung noch ungefähr 5000 anderen
Und
doch sind diese geradezu zu nichts zusammenschrumpfenden Ent-
fernungen zwischen den einzelnen Sternen Milliarden und Abermilliarden
von Kilometern! Und daneben — beginnt erst der „Welt"-raum!
Was müssen aber das erst für Strecken sein, die hinter und zwischen
solchen Sterngruppeninseln liegen, bis wir endlich zu dem eigentlichen
Hauptring der Milchstraßenspirale gelangen, die mit ihrem hundertmil-
lionenfachen „Sternenstaub" das Auge des Erdenbewohners entzückt!
Und dann folgen, nach weiteren, unermeßlichen Fernen, noch andere
Milchstraßensysteme, wie das Andromeda-Weltall mit seinen unzähligen
Sonnen oder gar der unergründliche Spiralnebel H 156 im Sternbild des
Großen Löwen, dessen Entfernung man auf über 500 000 Lichtjahre
schätzt!`) Ja, wahrlich, dies alles zusammengenommen beweist, daß die
Sterne im 'Weltall so dünn verteilt sind, wie wenn man auf Erden alle
9) Die Sekundengeschwindigkeit des Lichtstrahls ist 300 000 Kilometer; der
Äquator der Erde ist 40 000 Kilometer lang.
") 9,7 Lichtjahre. Vgl. Klein, a. a. 0. S. 31.
11) „Der prächtige Anblick, den die Plejaden in einem Fernglase darbieten,
wird noch erhöht, wenn man weiß, daß diese gleich funkelnden Diamanten auf
dem dunklen Himmelsgrunde leuchtenden Sterne ein großes Sternsystem für sich
bilden. Dies ist erwiesen durch die Tatsache, daß alle Sterne dieses Haufens
sich
gemeinsam durch den Weltraum fortbewegen, während zugleich auch Bewegungen
ihrer einzelnen Glieder um den gemeinsamen Schwerpunkt der ganzen Gruppe
stattfinden", so daß die Plejaden also nicht nur ein scheinbarer Sternhaufen,
son-
dern eine wirk) iche, räumlich zusammenhängende Fixsterngruppe
sind (vgl. Klein, a. a. 0. S. 66).
") Klein, a. a. 0. S. 66.
13) G. Wolf, Die Milchstraße, Leipzig 1908.
Der Weltrahmen der Heilsgeschichte
29
30 bis 100 Kilometer einen einzigen Stecknadelkopf anträfe,") oder als ob
man einen Liter Wasser über die ganze Oberfläche der Erde, das heißt
auf über 510 Millionen Quadratkilometer, aussprengen wollte!") Und
vergessen wir bei dem allem nicht: Diese „Wassertröpfchen" und „Steck-
nadelköpfe" von einem Millimeter Durchmesser sind jene Glut- und
Feuerwelten mit Millionen mal Millionen Quadratkilometern Oberfläche
und einem Rauminhalt, der selbst eine Trillion, das heißt, eine Milliarde
mal einer Milliarde Kubikkilometer noch um Hunderttausende von Mil-
lionen mal Millionen übertrifft!")
Das Ganze aber ist der die gesamte Schöpfung umspan-
nende Weltrahmen der Heilsgeschichte. „Der HErr hat
seinen Thron in den Himmeln errichtet, und sein Königtum herrscht
über das All" (Ps. 103, 19). Erst im Zusammenhang mit der Sternenwelt
wird uns der Umfang des göttlichen Heilsrates bewußt. Darum: Stellen
wir die Heilsgeschichte der Bibel in den Flammengoldgrund ihrer Welt-
all-Obergeschichte. Erst dann wird auch ihr Mittel- und Brennpunkt, das
Kreuz von Golgatha, richtig gewürdigt. Dann wölbt sich das ganze Welt-
all über dem Kreuz. „Der Fuß des Kreuzes bleibt auf der Erde, aber
sein Haupt taucht in die Ferne der Sternenwelten mit ihrer Allgeschichte
hinein."17) Und überwältigt ,vernehmen wir weiter die Verheißung des
HErrn: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es ist eures Vaters
Wohlgefallen, euch (1) das Reich (!!) zu geben" (Luk. 12, 32). „Hebet
zur Höhe eure Augen empor und sehet: wer hat diese da geschaffen? Er,
") Prof. Schwarzschild, bei Riem a. a. 0. S. 71.
") Riem a. a. 0. S. 72.
") So ist z. B. bei unserer Sonne der Durchmesser 1 390 000 Kilometer, die
Oberfläche 6 Billionen und 70 000 Millionen Quadratkilometer und ihr Rauminhalt
1 Trillion und 406 000 Billionen Kubikkilometer. — Zu der Frage, wie bei solchen
Größenverhältnissen unsere winzige Erde, wenn auch nicht stofflich und räumlich,
so doch sittlich und heilsgeschichtlich der Mittelpunkt des Weltalls sein könne,
bemerken wir mit Dr. von Gerdtell: „Sedan ist als Ortschaft unbedeutend; aber
es ist doch durch die Entscheidungsschlacht Wilhelms I. gegen Napoleon III.
welt-
berühmt und ein Hauptwendepunkt der europäischen Geschichte geworden. Es
ist somit zu einer geschichtlichen Bedeutung gekommen, die in keinem Verhältnis
zu seiner geographischen steht." Auch sonst zeigt die Weltgeschichte gar oft,
daß
Orte, in denen die gewaltigsten Kämpfe von jahrhundertelanger Bedeutung aus-
getragen worden sind, in sich selber, nach Lage und Größe, ganz klein und unbe-
deutend gewesen waren (vgl. auch S. 103).
17) v. Gerdtell, Ist das Dogma von dem stellvertretenden Sühnopfer Christi
noch haltbar? Eilenburg 1908, S. 16.
Die Heerschar der Engel
30
ihr Heer herausführt nach der Zahl, der sie alle mit Namen ruft"
es. 40, 26). „Herr der Heerscharen ist sein Name" (Jes. 51, 15).
2. Die Heerschar der Engel. Aber wozu diese Welten im
.therraum? Hat Gott etwa Gefallen am toten Stoff? Ist er nicht der
;ott der Lebendigen? Kann etwa unbeseelter Stoff ihn, den Herrn alles
ebens, lobpreisen? Oder ist nicht vielmehr das Sternenall Gottes welt-
zeit mit persönlichem Leben erfüllt?
In der Tat: Wenn nur unsere kleine Erde, dieses Stäublein im Sonnen-
virbel des Weltalls, organisches Leben trüge, „dann stünden ihr Mil-
ionen von toten Gestirnkolossen sinnlos gegenüber. Dann wäre das•
ingeheure All eine grenzenlose, erstorbene Wüste, in der nur auf der
Ninzigcn Erde, als wunderlicher Ausnahme, die einsame Blume des
Lebens blühte".") Dann wäre der Feuerglanz der Millionen von Sonnen,
die doch nichts beleuchteten, nur „ein großes, sinn- und zweckloses Feuer-
werk im toten Weltraum",") und alle Gestirne und Weltkörper wären
nur brennende oder ausgebrannte Krater!
Ganz anders redet die prophetisch-apostolische Weltanschauung der
Schrift. Sie weiß von Thronen und Herrschaften, von Fürstentiimcrn und
Gewalten (Kol. 1, 16), von Gottessöhnen und Morgensternen (Hiob 38. 7),
von der Heerschar der Höhe in der Höhe (Jes. 24, 21), von Cherubim und
Seraphim (Off. 4, 6-8; Jes. 6, 2; 3), von Erzengeln und Engeln (Jud. 9;
Off. 5, 11 ; 12, 7). Und diese alle nennt sie mit dem s e 1 b en Wort „Heer-
schar des Himmels" wie auch die Stern en
Schon diese Zusammenschau und Zusammenbenennung gibt uns ein
Ahnen einer tieferen Beziehung. Denn wie könnten anders die „Morgen-
sterne" jubeln und gleichzeitig, zusammen mit den „Gottessöhnen",
jauchzen (Hiob 38, 7)? Wie könnte das Sternenall Gottes den Schöpfer
anbeten? -Wird der Staub ihn preisen? Wird er seine Wahrheit verkün-
den? Aber „du bist, der da ist, du, HErr, allein! Du hast die Himmel
18) v. Gerdtell, a. a. 0. S. 97. lind doch gibt es schon auf der Erde über 200
000
Pflanzenarten, dazu noch 300 000 Pilzarten, ferner 80 000 Käferarten (Bettex,
Zweifel? 1922, S. 7; Natur und Gesetz, 1923, S. 131), 200 000
Schmetterlingsarten
(Prof. Dennert), und die Gesamtzahl aller Lebe-Arten ist über 2 Millionen.
") Vgl. Bettex, Symbolik, 1922, S. 201-210.
') So bezeichnet der Ausdruck „Herr des Himmels" in 5. Mose 4, 19; Jes.
34,4; Jer. 8, 2 die stofflichen Sterne, in 1. Kön. 22,19; Luk. 2,13; Off. 19,14
die
Engel; an anderen Stellen bedeutet er beide zugleich (z. B. Ps. 148, 1-6; Jes.
24,
21-23; 40, 26; Hiob 38,7).
Die Engelwelt
31
gemacht, der Himmel Himmel und all ihr Heer, die Erde und alles, was
darauf ist ... Und du machst dies alles lebendig, und das Heer des Him-
mels betet dich an!" (Neh. 9, 6). Und wie könnte anders der Psalmist
im gleichen Zusammenhang mit den Engeln auch die Sterne zur
Lobpreisung Gottes auffordern?
„Lobet den HErrn von den Himmeln her,
Lobet ihn in den Höhen!
Lobet ihn, alle seine Engel.
Lobet ihn, alle seine Heerscharen!
Lobet ihn, Sonne und Mond!
Lobet ihn, alle ihr leuchtenden Sterne!" (Ps: 148, 1-3.)
Nein, dies alles ist mehr als nur dichterischer Schwung! Es beweist
uns für Engel und Sterne eine nicht nur redebildlich vergleichende, son-
dern tatsächliche und wirkliche Beziehung, eine Beziehung, die uns im
einzelnen allerdings noch undurchschaubar ist. Dies eine jedoch
erkennen wir jetzt schon: Die Engel nehmen in ungezählten Heerscharen
(Luk. 2,13), teils einzeln (Apg. 5, 19), teils in organisierten Körperschaften
(Off. 12, 7; Kot. 1, 16) an der menschlichen Heilsgeschichte teil. In diesem
Sinne sind sie
Zuschauer unseres Wandelsn
Boten unseres Königs,")
Helfer in unsern Notlagen,")
Kämpfer für unsern Endsieg,")
Wächter der göttlichen Weltordnung,")
Vollstrecker der göttlichen Gerichte,")
Anbeter der göttlichen Erlösungstaten.")
3. 1)er Thron Gotte s. Und doch! Alles „Sichtbare ist vergäng-
lich", nur „das Unsichtbare ist ewig" (2. Kor. 4, 18). Die Sterne aber sind
sichtbar und werden darum „vergehen". „Sie werden alle veralten wie
21) 1. Kor. 4, 9; Eph. 3, 10.
22) Luk. 1,11; Matth. 1,20; Dan, 9,22; Off. 1, 1; 22, 6; 16; Hebr. 2, 2. Daher
das Wort „Engel", griechisch angelos von angello: ich schicke, ich sende.
'3) Hebr. 1,14; Apg. 12, 7; Dan. 3, 25; 27; 6,23; 2. Kön. 6, 17 (Luk. 22, 43).
24) Dan. 12,1; Off. 12, 7-9; 19,11-14; Dan. 10,13; 20.
'5) Dan. 4,14; 20; 1. Kor. 11,10.
Jes. 37, 36; Apg. 12, 23; Matth. 13, 39; Off. 14, 19; 15, 1; 6; 7; 17, 1.
27) Luk, 2,13; 14; 15,10; 1. Petr. 1,12.
32
Der Thron Gottes
3in Gewand, und wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen" (Ps.
102, 27; Hebr. 1, 12). Die ewige Welt Gottes muß darum noch höher sein,
weit über den Sternen, im U n sichtbaren über allem Sichtbaren.
Dort
ist der Thron Gottes, dort die Wohnstätten der Engel, dort
das himmlische Jerusalem, welches unser aller Mutter ist (Gal. 4, 26).
Dorthin wurde auch Christus „über alle Himmel" erhöht (Eph. 4, 10) und
ist nun zur Rechten des Vaters „höher als die Himmel geworden" (Hebr.
7, 26). Dort wohnt der Allerhöchste als der Lichtquell aller Welten, und
von ihm strahlt alles Leben in die Schöpfung hinaus (Apg. 17, 28).
Der
Gedanke an eine solche Thronhöhe im Weltall muß dem nach-
denkenden Geist bald einleuchten. Die gesamte Schöpfung ist beherrscht
von dem Gesetz der Steigerung. Wohl ist Gott allgegenwärtig und durch-
dringt mit seinem Leben die ganze Kreatur (1. Kön. 8, 27; Apg. 17, 28;
Kol. 1,17). Dies schließt aber nicht aus, daß es über allen Gefilden des
Lichts noch einen besonderen Lichtgipfel gibt, in dem sich seine Herrlich-
keit am vollkommensten entfaltet. Schon im Stein blitzt ein Abglanz
des göttlichen Gedankens auf, noch schöner in der Rose, noch ergreifen-
der im Lied der Nachtigall, noch geistiger im Menschenauge; und unter
den Menschen: welch Stufenunterschied zwischen dem geringsten und
elendsten, bis hin zu dem Schönsten der Menschenkinder, in welchem die
Fülle der Gottheit wohnt! So gibt es auch auf Erden Wüsten und Ein-
öden mit keinem Bewohner, unwirtliche Gegenden mit nur wenigen,
fruchtbare mit vielen, schöne und schönste Gegenden mit der höchsten,
irdischen Lebensfülle. Ebenso in den himmlischen Räumen; es gibt kleine
und große Sterne, kalte und heiße, finstere und strahlende; es gibt ge-
führte und führende Planeten und Sonnen, Abgründe des Raums und
Sonnenfamilien; und so gibt es auch über dem allen einen Zentral punkt
des Weltalls, einen Ort unmittelbarster Gottesgegenwart, eine Stätte
konzentriertester Lichtherrlichkeit, eben den Thron Gottes.")
Aber
das Licht, in dem E r wohnt, ist höher als alles Sichtbare; es
ist anders als aller Sonnen und Sterne Glanz. Es ist unerschaubar dem
irdischen Auge; es ist „unzugänglich" (1. Tim. 6, 16), allem Diesseitigen
entrückt (2. Kor. 12, 4).
Nur
die Engel im Himmel können es schauen (Matth. 18, 10), nur die
")
Vgl. J. P. Lange, Das Land der Herrlichkeit, Bielefeld 1863, S.64. — Sonst
wäre ja auch die Himmelfahrt Christi nur eine Unsichtbarwerdung, nicht aber
eine „Himmelfahrt" (Mark 16, 19; Kol. 3, 1).
Die
Jenseitigkeit des Ewigen
33
Geister der Vollendeten im ewigen Licht (r'1atth. 5, 8; 1. Joh. 3, 2; Off.
22, 4), nur die Reinen und Heiligen, gleichwie er selber der Reine ist
(1. Joh. 3, 2; 3).
Darum kann es hienieden vom Himmlischen nur Bildersprache geben.
Auch das „Oben"-sein des Ewigen ist nicht rein räumlich zu verstehen
(Ps. 139). Es ist die sinnhafte Veranschaulichung der Jenseitigkeit des
Göttlichen. Es ist die raumsymbolische Darstellung der Erhabenheit des
Überräumlichen. Darum versinnbildlicht auch die Bibel dies „Über" durch
das „Ober", das geistig Überlegene durch das räumliche Höherliegen, das
„Übeezeitliche und „Über"räumliche durch das sinnhafte „Ober"räum-
liehe. Und weil Gott der Herr des Himmels, zugleich der Vollkommenste
und Allerhöchste ist, greift auch die Bibel in ihren Sinnbildern zu dem
Kostbarsten auf Erden und redet in Edelsteinsprache von dem Lichtthron
seiner Herrlichkeit.
Von himmlischem Wesen spricht der blaue Saphir (2. Mose 24,
10; Hes. 1, 26),
von Heiligkeit und Licht der kristallhelle Jaspis (Off. 4, 3 vgl. 21,
11; Off. 4, 6; 15, 2; 22, 1),
von Bundestreue und Belebung der grüne Regenbogen von Sma-
ragd (Off. 4, 3; Hes. 1, 28).20)
Wir aber beugen uns nieder und beten ihn an und sagen mit den
Schlußworten
der „Weltharmonie" des Kopernikus:
„Groß
ist unser HErr und groß seine Macht
Und
seiner Weisheit kein Ende.
Preiset
ihn, Sonne, Mond und Planeten,
In
welcher Sprache auch immer ein Loblied erklingen mag.
Preiset
ihn, ihr himmlischen Harmonien,
Und
auch ihr, die Zeugen und Bestätiger seiner enthüllten Wahrheiten,
Und
du, meine Seele, singe die Ehre des HErrn dein Leben lang! Amen."
`) Grün ist schon im Altertum das Sinnbild des Lebens (so in Ur in Chaldäa
um
2000 v. Chr.).
3
Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung
3.
K a p i t e l: Der Ursprung des Bösen
34
Und doch! In diese Welt, die zum Höchsten bestimmt war, die der
Schöpfer dazu berufen hatte, ein Gefäß seiner Herrlichkeitsoffenbarung
zu werden, ist ein Riß eingetreten. Die zusammenklingende Harmonie
der Sphären ist durch einen grellen Mißton zerstört. Die Sünde ist auf-
getreten und hat sich Gottes heilig liebenden Selbstverk-lärungsplänen
frevelnd entgegengestellt. Durch die Sünde der Menschheit ist hier unten
die Erde verheert (1. Mose 3, 17; 18; Röm. 8, 20), und in der Himmelswelt
droben hat sich, wie die Versuchungsgeschichte der Bibel voraussetzt,
schon vor dem Fall der ersten Menschen ein Sündenfall unter den Engeln
ereignet (1. Mose 3, 1-7; 2, 15).')
Wie dies jedoch möglich war und warum Gott es zuließ, vermag
niemand zu sagen. Der Ursprung des Bösen bleibt ewig ein Geheimnis.
Auch die wenigen Andeutungen, die die Schrift darüber gibt, führen über
ein Ahnen nicht hinaus.')
I. Satan vor dem Fall
Gottes weltenumspannender Schöpfungsstaat ist, wie es scheint, in eine
Anzahl von Provinzen eingeteilt, deren stoffliche und geistige Organisa-
tion je einem bestimmten Engelfürsten, gleichsam als Statthalter Gottes,
anvertraut ist.2) So gibt es Engel für Kinder (Matth. 18, 10), für Erwach-
sene (Apg. 12, 15), für ganze Länder und Nationen, wie Persien (Dan. 10,
13), Griechenland (Dan. 10, 20), Israel (Dan. 10, 21; 12, 1)1 Dies setzt
voraus, daß es — sowohl in der Welt des Lichtes als auch in der Welt
der Finsternis — Engelorganisationen gibt, die, je nach der Größe des
betreffenden Gebietes, nach verschieden hohen Rangstufen') in gewisse
1) Näheres zu der Frage: „Warum hat Gott den Sündenfall zugelassen?" In
E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940, S. 26-36.
') Ebenso z. B. Bettex, Symbolik, S. 146; 152. Haarbeck, Biblische Glaubens-
lehre. Elberfeld 1930, S. 57.
3) Hierin liegt der Wahrheitskern des nationalen Polytheismus (Vielgötterei).
') So redet die Schrift z. B. von dem „Erzengel" Michael und „seinen" Engeln
'wie auch von dein Drachen und „seinen" Engeln (Off. 12, 7).
Satan vor dem Fall
35
Herrschaftsbezirke eingesetzt sind. In der Tat spricht Paulus von „Thro-
nen, Herrschaften, Fürstentümern und Gewalten" nicht nur in der sicht-
baren, sondern auch in der unsichtbaren Welt (Kol. 1, 16; Eph. 1, 21).
Solch ein besonderer Fürst Gottes muß auch Satan vor seinem Fall
gewesen sein. Aus seiner Machtstellung, die er noch in der jetzigen Zeit
innehat, ist zu schließen, daß ihm — jedenfalls vor seinem Fall — ein
gewaltiges Gebiet zur Beherrschung rechtmäßig übergeben worden war,
und die Tatsache, daß er gerade auf der Erde wirkt, legt den Gedanken
nahe, dies Gebiet sei die Erde und die sie umgebende Luft- bzw. Äther-
region gewesen.5)
Dies findet nun auch wirklich im Worte Gottes seine Bestätigung.
Der HErr Jesus selbst bezeichnet Satan als den „Fürsten der Welt" (Joh.
14, 30).e) Paulus nennt ihn den „Fürsten über die Mächte der Luft"?)
Als Satan in der Versuchung dem HErrn alle Reiche dieser Erde anbot
und dabei sagte: „Dir will ich diese ganze Macht mit ihrer Herrlichkeit
geben; denn mir ist sie verliehen (oder „übergeben") worden, und ich
kann sie geben, wem ich will",9) hat der HErr diese Vollmacht auch inso-
fern anerkannt, als er es dem Teufel nicht bestritt, gegenwärtig über die
Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit verfügen zu können (Matth. 4, 8--
10). Und wenn es in der Offenbarung in bezug auf die Endzeit der gegen-
wärtigen Haushaltung heißt: „Die Herrschaft über die Welt ist an unsern
HErrn und seinen Gesalbten gekommen, und er wird als König in alle
Ewigkeit herrschen" (Off. 11, 15 vgl. 19, 6), so liegt in diesen Worten
ebenfalls das Zeugnis, daß das Reich der Welt bis zu jenem Augenblick
unter der Botmäßigkeit eines andern, eben des „Fürsten dieser Welt",
steht. Nun verstehen wir auch, warum der Erzengel Michael bei seinem
Streit mit dem Teufel um den Leib des Mose nicht wagte, ein lästernde
Urteil über ihn auszusprechen, sondern nur sagte: „Der HErr strafe dich"
(Jud. 9). Ja, selbst noch nach Golgatha und Pfingsten dauert das Obrig-
keitsverhältnis Satans über seinen Weltbezirk fort; denn noch im Zeit-
alter
der Gemeinde bezeugt der Apostel Johannes: „Die ganze Welt liegt
im
Argen" (1. Joh. 5, 19), und Paulus spricht verschiedentlich von der
,,Obrigkeit"
Satans (Apg. 26, 18; Kol. 1, 13; Eph. 2, 2), wobei er sich des-
5) Ebenso Godet, Lukas-Kommentar 1872, S. 107.
6) Vgl. Joh. 12, 31; 16, 11.
7) Eph. 2, 2 vgl. Luk. 22, 53; Eph. 6, 12.
8) Griechisch paradedotai.
') Luk. 4, 6.
3.
36
Der Sündenfall Satans
selben Wortes bedient, mit dem er im Römerbrief die menschlichen Be-
hörden bezeichnet (gr. exousia Röm. 13, 1; 2), und somit zum Ausdruck
bringt, daß auch die Herrschaft Satans geradezu ein „Reich" ist (vgl.
Matth. 12, 26).
II. Der Sündenfall Satans
So muß denn einmal in der vorgeschichtlichen Ewigkeit ein Augen-
blick eingetreten sein, in dem dieser Weltfürst Gottes dem Höchsten
seine Lehnspflicht aufkündigte und somit aus einem „Lucifer", einem
„Lichtträger" der göttlichen Herrlichkeit") ein „Widersacher" Gottes
(hebr. „Satan")") und „Verleumder" seiner Heiligen (gr. „diabolos" =
Teufel)12) wurde. Von da an geht ein gewaltiger Riß durch den Kosmos,
und ein organisiertes Gegenreich des Bösen steht dem Weltenstaat Got-
tes gegenüber (Matth. 12,26). Satan als Herrscher hat wiederum Fürsten
und Gewalthaber unter sich (Dan. 10, 13; 20; Eph. 6, 12), und die Aus-
einandersetzung zwischen ihm und dem Reich Gottes ist fortan das
Thema und der Grundinhalt der in der Heiligen Schrift angedeuteten
Weltall-Obergeschichte.
Den Fall dieses gewaltigen Lichtfürsten scheint, wie schon die Rab-
binen annahmen, die Schilderurig des gestürzten Königs von Babel bei
Jesaja bildhaft mit im Auge zu haben. „0, wie bist du vom Himmel
gefallen, du Glanzgestirn, Sohn der Morgenröte! ... Du dachtest in
deinem Sinn: ,In den Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über den Ster-
nen will ich meinen Thron aufrichten —, will mich dem Höchsten gleich
machen!' Nun aber bist du ins Totenreich hinabgestürzt, in den tiefsten
Winkel der Unterwelt" (Jes. 14, 12-15). Auch Hesekiel entlehnt, wie es
scheint, seine Bilder für die Beschreibung des Falles von Tyrus jenem
vorgeschichtlichen Urereignis: „Der du das Bild der Vollkommenheit
warst, voll von Weisheit und vollkommen an Schönheit, du warst ein
gesalbter Cherub, der da schirmt ... Unsträflich warst du in all deinem
") Lucifer lateinisch = „Lichtträger". Der Name „Lucif er" entstammt Jes. 14,
12 und ist zunächst ein bildlicher Ausdruck für den widergöttlichen König von
Babel, der aber seinerseits, wie es scheint, im Sinne des Propheten, ein Abbild
seines dämonischen Oberherrn, des Satans, ist.
") schatan hebräisch = Feind, Widersacher, ganz allgemein: 1. Kön. 11, 14;
23; 25; vor Gericht: Ps. 109, 6; in 4. Mose 22, 22 sogar vom „Engel des HErrn'.
") Von dia-ballo = hindurch-werfen, mit Worten „durchziehen", in feind-
licher Absicht beschuldigen, sowohl lügend (2. Makk. 4,1) als auch die Wahr-
heit sagend (Dan. 3, 8). — Lukas 16, 1 (vgl. Off. 12,10).
Das Schweigen der Bibel über den Ursprung der Sünde
37
Tun von dem Tage deiner Erschaffung an, bis Verschuldung an dir ge-
funden wurde. Dein Sinn war hochfahrend geworden infolge deiner
Schönheit. Du hattest deine Weisheit außer acht gelassen um deines
Glanzes willen" (Hes. 28, 12-15; 17).
Im allgemeinen aber spricht die Heilige Schrift fast gar nicht von
diesem Fall Satans, in direkter Weise sogar niemals. Sie will, als die Ur-
kunde des Heils, dem Menschen, prophetisch-geschichtlich, den Weg zur
Erlösung zeigen, ihm aber nicht, philosophisch, das System einer Welt-
oder Ewigkeitsanschauung geben; denn wenn sie das wollte, würde kein
Mensch sie verstehen. Darum redet sie auch über den Ursprung des
Bösen nur hintergrundartig und mittelbar, nur in gelegentlichen, bild-
haften Andeutungen, niemals aber in direkten Belehrungen und nirgends
in zusammenhängender, unverhüllter Form. „Das Geheimnis ist des
HErrn"
(5. Mose 29, 29).13)
In jedem Fall aber ist der Glaube an die Existenz eines persönlichen
Teufels
der Glaube Jesu und seiner Apostel (Matth. 4, 1-10; 12, 27; Luk.
10,
18; Röm. 16, 20; 2. Kor. 11, 14; 15; Off. 12, 7-9; 20,2; 10). Wer diesen
urchristlichen
Glauben nicht teilt, kann unmöglich Jesus und seine
Apostel
verstehen. Der moderne Mensch steht der Teufelsidee jedoch
meist
schon deshalb von vornherein ablehnend gegenüber, weil er dabei
fast
immer sofort an die populär-schauerliche und albern-groteske
Teufelsvorstellung
des Mittelalters denkt. In Wahrheit aber ist Satan ein
mit
höchster Intelligenz begabtes, zwar gefallenes, aber nichtsdestoweni-
ger überaus machtvolles Geistwesen, dessen Existenz philosophisch in
keinerlei Weise angreifbar ist.")
III.
Ursünde und Weltgestalt
Mit dem Fall Satans muß aber auch, wie der organische Zusammen-
hang von Geist und Natur und die spätere Ähnlichkeit des menschlichen
Sündenfalls — nur diese in kleinerem Umfange — beweisen (1. Mose
3, 18), ein Sturz seines Herrschaftsgebietes verbunden gewesen sein.
Welt- und Erdkatastrophen traten ein als Gegenwirkungen der Gerech-
13) 1. Tim. 3, 7 und Luk. 10, 18 sind fast die einzigen deutlicheren Stellen,
die
vorn Fall Satans sprechen, und auch bei diesen ist es nicht ganz sicher. — 2.
Petr.
2, 4 und Jud. 6 beziehen sich, u. E., auf 1. Mose 6, 1-4.
14) Vgl. den naturphilosophischen Beweis für das Dasein eines persönlichen
Teufels in E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940, S. 63-72.
38
Ursünde und Weltgestalt
tigkeit Gottes gegen diese kosmische Revolution. Die Schöpfung wurde
der Eitelkeit unterstellt (Röm. 8, 20; 21).") Alles einzelne entzieht sich
unserer Kenntnis. Nur dies ist gewiß, daß Tod und Verderben in der
Pflanzen- und Tierwelt schon lange v o r dem Menschengeschlecht seit
undenklichen Urzeiten auf der Erde gewütet haben. Dies beweisen die
geologischen Schichten und die Entwicklungsphasen der vorweltlichen
Tierwelt auf das deutlichste. Die unter uns liegenden Erdschichten sind
geradezu „ein ungeheures Leichenfeld, das von seinem steinernen Acker
umschlossen ist" (J. H. Kurtz). Ja, viele Raubtiere der Urzeit waren
schreckliche
Ungeheuer von gefräßigster und todbringendster Zerstö-
rungsge‘valt.")
Damit stimmt auch das Zeugnis des Alten Testaments überein. Denn
die
darin berichtete Beauftragung des Menschen, den Paradiesesgarten
nicht
nur zu bebauen, sondern zu „bewahren", sowie die Tatsache seiner
Versuchung
durch eine gottfeindliche, lügnerische Gegenmacht lassen
schon
im Alten Testament erkennen, daß das Böse nicht erstmalig im
Menschen,
sondern schon v o r ihm in einem anderen Geschöpf vorhan-
den
gewesen ist, daß also schon v o r der Zeit des Menschen, v o r seinem
Fall
und der damit zusammenhängenden Verfluchung des Ackers, ein
Riß
und eine Disharmonie in der Schöpfung bestanden hat.
Es hat gotterleuchtete Männer in alter und neuerer Zeit gegeben, die
in
diesem Zusammenhang die Vermutung ausgesprochen haben, das
Sechstagewerk
von 1. Mose 1 sei eigentlich ein Wiederherstellungswerk,
nicht
aber die erstmalige Erschaffung der Erde gewesen, und der Mensch
habe
ursprünglich die Aufgabe gehabt, als Diener des HErrn und Herr-
scher der Schöpfung in sittlicher Auseinandersetzung mit Satan, die
äußerlich wiederhergestellte Erde — durch Ausbreitung seines Geschlechts
und seiner Herrschaft auf ihr — für Gott zurückzugewinnen.17) Dte
15) Genaueres vergl. E. Sauer, Vorn Adel des Menschen, S. 73-80.
")., Ebenso bringt auch der Tübinger Paläontologe Prof. Dr. Frhr. V. Huene
den Tod in der präadamitischen Schöpfung mit dem Fall Satans als des von Gott
eingesetzten „Fürsten dieser Welt" in Verbindung.
") So sagt z. B. F. Bettex, der Mensch sollte ursprünglich „allmählich die
ganze Erde als Vizekönig Gottes zurückerobern" (Natur und Gesetz, 1923, s.
215f.;
Lied der Schöpfung, 1919, S. 57f.). Auch Prof. v. Huene, der ebenfalls die
Resti-
tutionstheorie vertritt, sagt, „daß vom Menschen aus die große Rückführungs-
aktion der ganzen Schöpfung zu Gott ihren Ausgang nimmt. Im Menschen treffen
sich Materie und Geist, Geist Gottes. Der Mensch Jesus Christus, Gottes Sohn,
Das
Sechstagewerk — eine „Wiederherstellung" der Erde?
39
geologischen Perioden seien dann entweder v o r dem Sechstagewerk
gewesen und die „Tage" selbst seien als buchstäbliche Vierundzwanzig-
stundentage aufzufassen,") oder aber die „Tage" von I. Mose 1 seien
als Perioden zu deuten und mit den geologischen Entwicklungszeiten der
Erdgeschichte gleichzusetzen.ig) Auf diese Weise sei es dann auch mög-
lich, eine Vermittlung zwischen der biblischen und den modern natur-
philosophischen Weltentstehungslehren zu finden.") Andere wiederum
glauben, daß das Ganze ein einkeitlider, fortgesetzter Zusammenhang
sei — ohne eine besondere, dazwischen geschaltete Vollzerstörung und
„Wiederherstellung" der Erde —, ein einzige r, in unübersehbare
Schöpfungsperioden eingeteilter, ungeheurer Werdegang. In diesem sei
es dann auf irgendeine Weise — die die Naturwissenschaft erforschen
mag — unter göttlicher Leitung und, wie es scheine, seit dem Fall Lu-
hat den Entscheidungskampf gegen Satan siegreich geführt, und die Konsequenzen
desselben müssen sich nun auswirken. Darum steht das Kreuz im Mittelpunkt der
Universalgeschichte".
11) So z. B, M. Baumgarten, G. H. Pember und — was die buchstäbliche Deu-
tung der „Tage" betrifft, wenn auch ohne die Restitutionsauffassung — Keil,
Dilimann, Gunkel.
19) So z. B. Franz Delitzsch, Keerl, Bettex, v, Huene und — allerdings ohne
die Restitutionsauffassung — Godet, Zöckler, J. P. Lange, Dennert.
") Spuren einer solchen Erklärung des Schöpfungsberichtes finden sich schon
in der altchristlichen Literatur zur Zeit des Kirchenvaters Augustinus (um 400).
Im 7. Jahrhundert wurde sie von dem angelsächsischen Dichter Caedmon vertre-
ten. Um 1000 bekennt sich König Edgar von England zu ihr. Besonders betont
wurde sie im 17. Jahrhundert durch den Mystiker Jakob Böhme. Im Jahre 1814
entwickelte sie der englische Gelehrte Dr. Chalmers, ferner 1833 der englische
Mineralogieprofessor William Buckland. Andere Vertreter sind die Geologiepro-
fessoren K. v. Raumer (gest. 1865), v. Schubert, unter den Theologen Keerl,
Oetin-
ger, M. Baumgarten, Franz Delitzsch, Hengstenberg, Kurtz, ferner Fronmüller, Fr.
v. Meyer, Bullinger, Bettex, Jakob Kroeker, der Philosoph J. a Fichte (der Sohn
des bekannten Philosophen J. Gottlieb Fichte), weiterhin Disselhof, der Nach-
folger Fliedners in der Leitung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, Johannes
Wams, Fr. Heitmüller, Fr. Füllbrandt, v. Viebahn. Bekannt ist der Engländer
G. H. Pember, auch die unter den Gläubigen aller englisch sprechenden Länder
weithin verbreitete „Reference Bible" von Scofield, Pierson, Gaebelein u. a. Von
den Katholiken seien Kardinal Wiseman und der Philosoph Friedrich v. Schlegel
genannt. Auch Dächsels Bibelwerk sieht den Fall Satans zwischen 1. Mose 1,1
und Vers 2, ebenso der Geologieprofessor Frhr. v. Huene. — Natürlich weisen
diese
in zahlreichen Einzelfragen auch wesentliche Abweichungen voneinander
auf,
namentlich in der Frage, ob die dann folgenden sechs „Tage" Vierundzwan-
zigstundentage
oder lange Perioden gewesen seien.
40 Der Ursprung des
Bösen als unergründbares Geheimnis
ifers, auch nicht ohne satanische Querwirkungen — zu einer allmählichen
iteigerung der Lebensformen gekommen. Zuletzt sei der Mensch, ohne
Abstammungszusammenhang mit der Tierwelt, auf den Schauplatz des
Weltgeschehens gestellt worden, um dann — von dem eigens für ihn
.ngelegten Paradiesesgarten aus — seine irdische Laufbahn zu beginnen.
Auf
keinen Fall jedoch kann es hier ein absolut festes Wissen geben.
denn eben dies Urereignis, da das Böse in die Welt trat und die ur-
;prünglich reine und gute Schöpfung Gottes in Unordnung brachte, ist
la gerade die alles verheerende, unser eigenes Sein verwirrende, über-
geschichtliche Ur g e g e b e n h e i t, in der wir selber stehen und die
anser ganzes gegenwärtiges Dasein in allen seinen Erscheinungsformen,
auch in seinem Denken (!), mitbedingt. Wir können uns daher weder
zeitlich noch sachlich von ihr eine zureichende Vorstellung machen, son-
dern haben lediglich die Pflicht, uns gewissensmäßig und verantwortlich
mit der Tatsachenwucht dieses Geheimnisses auseinanderzusetzen.
Im übrigen gilt es, auf alles weitere Fragen zu verzichten und den
Mut zu haben, unsere Unwissenheit offen zu bekennen, aber auch die
Demut, einzusehen, daß irdisches Denken das Weltall-übergeschichtliche
niemals zu erfassen vermag und daß unser Verstand oft nur deshalb die
Ewigkeitsdinge als widerspruchsvoll ansieht, weil er — sündhaft gefallen
und gebunden, wie er nun einmal ist — sich selbst im Widerspruch zu
den Gesetzen der anderen Welt befindet. Es gibt eben nichts Irrationa-
leres als den Rationalismus. Wer in Gottes Geheimnisse hineinschauen
will, muß mit dem dreifachen Schmuck von Demut, Ehrfurcht und Glau-
ben geziert sein, und wo diese sich finden, kann die Seele alles Nicht-
geoffenbarte in Ruhe dem Höchsten überlassen (Röm. 11, 33-35; Hiob
38, 4-7). Erst in der Ewigkeit werden alle Fragen gelöst sein. Erst dann,
wenn der HErr kommt, werden alle Schleier verschwinden (1. Kor. 13,
9-12). Bis dahin sind wir Harrende.
Z W E I T E R T E I L
41
Die Uroffenbarung
1.
Kapitel: Die paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit
Auf die Erde setzte Gott den MAschen. In Eden pflanzte er jenen
wundersamen Garten, der seines Besitzers „Wonne" und Lust sein
sollte.') Das Paradies war der Anfang der Wege Gottes mit der mensch-
lich irdischen Schöpfung.2) Es war
1. die Heimat eines unbeschreiblichen Glücks,
2. der Ausgangspunkt einer wunderbaren Aufgabe,
3. der Schauplatz eines gewaltigen Konflikts,
4. die Stätte eines tragischen Zusammenbruchs und ist fortan
5. das Sehnsuchtsziel einer wartenden Menschheit.
I. Die Heimat eines unbeschreiblichen Glücks
Majestätisch waltete der Herr der irdischen Schöpfung im Garten,
und alles Werk. seiner Hände geriet. Die Blumen blühten so schön, wie
sie hernach nie wieder ein menschliches Auge gesehen, und die Bäume
trugen die herrlichste Frucht. Irn Pflanzen- und Tierreich waltete ein
1) „Eden" = Wonneland, Lieblichkeit.
2) Für die Geschichtlichkeit und Buchstäblichkeit der ersten Kapitel der Bibel
bürgt Christus und das Neue Testament. Durchweg behandeln sie der HErr und
seine Apostel als Berichte wirklicher Ereignisse, ja ziehen sogar lehrhafte
Folge-
rungen aus ihnen: Matth. 19,4-9; Röm. 5,12-21; 1. Kor. 15,21; 22; 1. Tim. 2, 13;
14; Jak. 3, 9; 1. Joh. 3, 12; Off. 20, 2, „Ist darum das Neue Testament
Wahrheit,
so ist 1. Mose 1-3 Geschichte" (Ebrard, Dogmatik 1, S. 251f.). Wer dagegen die
Urgeschichte verwirft oder umdeutet, befindet sich damit im Widerspruch zu der
absoluten Autorität des HErrn Jesu und seiner Apostel. — Näheres vgl. Anhang:
„Die Zuverlässigkeit der biblischen Urgeschichte", S. 270. Ebenso den Abschnitt
"Das Alter des Menschengeschlechts" in E. Sauer, Vom Adel des Menschen, S. 206.
42 Die
paradiesische Berufsbestimmung der Menschheit
wunderbar himmlischer Friedenshauch, und — vor allem — Gott selbst,
der Schöpfer des Alls, verkehrte mit den Menschen in ungetrübter Weise
und gab ihnen den Genuß seiner beseligenden Gegenwart (1. Mose 3. 8).3)
Aber nicht nur zum Genießen hatte Gott den Menschen in das Para-
dies gesetzt; er sollte auch wirken und Frucht bringen; und so wurde der
Garten für ihn
II. Der Ausgangspunkt einer wunderbaren Aufgabe
1. Der Mensch als Persönlichkeit
Gott, Welt und Mensch sind der dreifache Grundinhalt alles Be-
stehenden. Sie zu erkennen, ist Aufgabe unserer Vernunft. Ein drei-
faches Bewußtsein ist darum dem Menschen verliehen: das Gottes-, das
Welt- und das Ichbewußtsein, und in entsprechender Weise hat ihm der
Schöpfer auch die Organe gegeben, die ihn zu diesem dreieinheitlichen
Bewußtseinsinhalt befähigen.
Die Welt erkennt der Mensch durch die Sinne,') deren Träger der
stoffliche Leib ist. Durch die Leiblichkeit gelangen wir zum W e 1 t - oder
Sinnen bewußtsein.
Das /ih erkennen wir durch die Seele. Denn der Mensch ist weit
')
Wo das irdische Paradies gelegen hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen.
Man hat auf Armenien oder die Syrisch-arabische Wüste hingewiesen. Jedenfalls
ist Phrat (1. Mose 2, 14) der Euphrat und Hiddekel der Tigris (vgl. Dan. 10,4;
ara
rnäisch: Diglat). Daß die Landschaft Eden hoch gelegen haben muß, beweist der
Umstand, daß sie die Geburtsstädte großer Ströme war (1. Mose 2, 10). Der Gar-
ten ist ja nicht Eden selbst, sondern „in" Eden (1. Mose 2,8; 10). Daß dann
später
Jer Name der Landschaft auf den Garten selbst überging (z. B. Hes. 28,13), ist
eine leicht begreifliche, alltägliche Erscheinung. Die Ströme Pison und Gihon
sind
licht mit Sicherheit festzustellen. Durch die Sintflut scheinen wesentliche
land-
whaftliche Veränderungen stattgefunden zu haben.
Das
Wort „Paradies" kommt vom Persischen her und bedeutet zunächst ein-
'ach einen „Park" oder „Forst", der die königliche Burg umgab. So spricht Neh.
!, 8 von einem gewissen Asaph, dem Hüter des königlichen „Forstes" (hebräisch:
)ardes). Ebenso gebraucht Salomo in dem Satz „Ich machte mir Gärten und Park-
Lnlagen" (Pred. 2, 5) für „Parkanlagen" das gleiche Wort „Paradiese".
Desgleichen
lohel. 4, 13. — Die Septuaginta setzt überall, wo im Hebräischen „Garten" Eden
teht, das Wort „Paradies". Im Neuen Testament kommt das Wort nur dreimal
,or: Luk. 23, 43; 2. Kor. 12, 4; Off. 2, 7.
4)
Fühlen, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen, deren Träger die Organe des
,eibes sind, z. B. Auge, Ohr, Gaumen, Nase, Nerven.
Der Mensch als Persönlichkeit
43
mehr als nur wahrnehmendes Glied der äußeren Natur: er ist wollendes
Selbst und eigene Persönlichkeit. Gerade dies aber wird ihm durch sein
Inneres gezeigt, und so gelangt er durch die Seele zum S e 1 b s t - oder
1 c h bewußtsein.
Und damit er sich schließlich zum Schöpfer erhebe, gab Gott ihm
den Geist. Durch ihn gelangt er zum Gottes bewußtsein.
So ist der Mensch eine Dreiheit in der Einheit, und sein unsichtbares
Inneres besteht aus zwei wohl zu unterscheidenden Substanzen; ist doch
das Wort Gottes imstande, durchzudringen „bis zur Scheidung von Seele
und Geist" (Hebr. 4, 12) und bezeugt doch der Apostel: „Er aber, der
Gott
des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz,
samt Seele und Leib müsse bewahret werden unsträflich auf die Zukunft
unseres HErrn Jesu Christi" (1. Thess. 5, 23 vgl. Luk. 1,46; 47).5)
Hierbei ist „Geist" derjenige Teil unserer Persönlichkeit, der als das
höhere
Bewußtsein auf das Göttliche und über sinnliche gerichtet
ist,
während „Seele" der niedere Bestandteil unseres Inneren ist, der auf
das
Irdische und Geschöpfliche Bezug nimmt') Die Seele
erreicht
— und zwar auch nur mit Hilfe des Geistes — lediglich das
I
c h bewußtsein, der Geist aber das Gottes bewußtsein.")
Der Leib aber soll sein, nach der Schrift:
Tempel des Heiligen Geistes (1. Kor. 6, 19),
Schlachtopfer wahren Gottesdienstes (Röm. 12, 1),
Werkzeug der Gerechtigkeit (Röm. 6, 13),
Mittel zur Verherrlichung Gottes (1. Kor. 6, 20),
Samenkorn zu verklärter Geistleiblichkeit (1. Kor. 15, 43 47).8)
9 „Geist und Seele sind eins dem Wesen nach (die rechte Dichotomie), aber
verschiedene
Substanzen (die rechte Trichotomie)" (Franz Delitzsch, Genesis,
1860,
S. 142).
9 Dies erkennt man besonders an dem Gebrauch der Eigenschaftswörter
„seelisch"
und ,geistig", „Psychisch" (seelisch) kommt sechsmal im Neuen Testa-
ment
vor und ist stets niederer Gegensatz zu „geistig": 1. Kor. 15,44 (zweimal);
46;
1. Kor. 2,14; Jud. 19; Jak. 3, 15 (Luther: „natürlich").
7) Die Seele ist das Bindeglied zwischen Geist und Leib. Nur durch ihre Ver-
mittlung
kann der Geist auf den Körper einwirken; denn er ist die ihr „nach
innen
und oben hin einverwobene Substanz", gleichwie dies der Körper für sie
„nach
außen und unten hin" ist (vgl. J. T. Beck). Die Seele ist also das Band
zwischen
beiden; sie ist für den Geist gleichsam dessen „Leib", gleichwie sie
selber
vom Körper als ihrem Leibe umschlossen wird (vgl. Tertullian).
') Ohne Erlösung ist er: Einfallstor des Feindes (1. Mose 3, 6; Matth.
44
Der Mensch als Dreieinheit
Von dieser Dreieinheit der menschlichen Persönlichkeit ist die mo-
saische Stiftshütte ein Gleichnis. „In derselben Figur ist ein Christen-
mensch abgemalet. Sein Geist ist Sanctum Sanctorum, das Allerheiligste,
Gottes Wohnung, im finsteren Glauben ohne Licht; denn er glaubt, das
er nicht siehet noch fühlet noch begreift. Seine Seele ist Sanctum, das
Heilige; da sind sieben Lichter; das ist allerlei Verstand, Unterschied,
'issen und Erkenntnis der leiblichen, sichtlichen Dinge. Sein Körper
ist Atrium, der Vorhof; der ist jedermann offenbar, daß man sehen kann,
was er tut und wie er lebt" (Luther).°) So entsprechen sich im 'Wesen
des Menschen
Weltbewußtsein, Ichbewußtsein, Gottesbewußtsein,
Leib, Seele und Geist,
Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes.
Vom Allerheiligsten aber, vom Geist aus, regiert Gott über Seele
und Leib. Hier ruht, im Gewissen verwahrt, gleichsam wie in der Lade
des Bundes, das unabänderliche, göttliche Gesetz. Hier ist die eigentliche
Offenbarungsstätte des Höchsten in uns, so wie Gott in der Stiftshütte
über den Cherubim wohnte. Und wie damals die Wolke der Herrlich-
keit, die Schechina, über dem Gnadenthron schwebte, also bringt diese
Innewohnung des göttlichen Geistes in unserem Geiste auch uns das
Bewußtsein von Frieden und Freude (Röm. 8, 16). Denn der Thron Gottes
in uns ist kein Richterstuhl, sondern ein Gnadenthron, und das Zepter
seiner Herrschaft ist Heil. So dürfen wir nun, jener Stiftshütte gleich,
als Wanderzelt Gottes durch die Weltwüste gehen, bis wir dereinst ans
Ziel gelangen, zur Ewigkeit hin, zum himmlischen Kanaan (vgl. 2. Kor.
5, 1-4).
Bei einer solchen Bestimmung des Menschen begreifen wir nun auch,
daß das Wort Gottes gerade im Bericht über seine Erschaffung — als
der Krone der Schöpfung — sich zum allerersten Male zu dichterischem
Jubelgesang erhebt. Die Form der hebräischen Poesie ist der Gedanken-
reim, der Gleichlauf der Glieder und Verse. Da feiert denn nun die
Heilige Schrift die Erschaffung des dreieinheitlichen Menschen — diese
30), Leib der Sünde (Röm. 6, 6), Leib der Niedrigkeit (Phil. 3, 21),
zerfallendes,
irdisches Zeltenhaus (2. Kor. 5, 1-4), Samenkorn zu satanischer Leiblichkeit
(Dan.
12, 2 b ; Joh. 5, 29 b).
9) In seiner Erklärung zum Magnificat Luk. 1, 46 ff.
Der Mensch als Bild Gottes 45
wunderbare Tat des dreieinigen Gottes — in dichterischem Schwung,
durch einen dreifachen Reim, ein dreifaches „Gott schuf":
„Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde;
nach dem Bilde Gottes schuf er ihn;
als Mann und Weib schuf er sie" (1. Mose 1, 27).
2. Der Mensch als Bild Gottes
Nicht darin aber besteht recht eigentlich die Gottesbildlichkeit
des Menschen, daß er, als aus Geist, Seele und Leib bestehend,
eine Dreiheit in der Einheit ist und somit das dreieinige Wesen
seines Schöpfers widerspiegelt,
auch nicht in erster Linie darin, daß sein Leib schon im voraus
nach dem verklärten Auferstehungsleibe des Sohnes Gottes ge-
bildet ist, der, kraft der überzeitlichkeit Gottes, schon ewig als
Urbild im Geiste des Schöpfers gegenwärtig gewesen war (Phil.
3, 21),
sondern darin, daß er, als ein geistiges und sittliches Wesen, die
inneren Eigenschaften Gottes geschöpflich zum Ausdruck
bringt.")
") Bei der biblischen Lehre von der Gottesbildlichkeit des Menschen sind
zwei Seiten zu beachten: ein verlierbares und ein unverlierbares Gottesbild.
Denn
einerseits wird in der Schrift die Gottesbildlichkeit des Menschen als etwas
durch
den Fall Verlorenes und jetzt erst durch die Erlösung zu Gewinnendes bezeichnet
(Kol. 3,10; Eph. 4, 24; Röm. 8, 29; 1. Kor. 15,49; 2. Kor. 3, 18), und
andererseits
wird auch in dem gefallenen Menschen noch ein Bild Gottes anerkannt (1. Mose
9, 6; 1. Kor. 11,7; Apg. 17, 28; Jak. 3, 9). Zunächst ist der Mensch ein Bild
Gottes
in weiterem Sinne, sofern er überhaupt eine für die Ewigkeit bestimmte sitt-
liche Persönlichkeit ist mit Unsterblichkeit, Ichbewußtsein, Verstand, Vernunft,
sittlichem Urteilsvermögen, Gewissen und Willensfreiheit, wozu noch sein Herr-
scherberuf kommt, durch den er, als Herrscher der Erde, ein Abbild des HErrn
als des Herrschers des Weltalls sein soll (1. Mose 1, 26-28). Dies ist das
Gottes-
bild als Anlage, als Grundwesen der Menschennatur an sich, ohne die der Mensch
aufhören würde, überhaupt noch Mensch zu sein. Wesenhaftigkeit und Inhalt be-
kommt dies alles aber erst, wenn der Mensch nun auch tatsächlich durch seinen
praktischen Zustand in Heiligkeit und Liebe das geistig sittliche Wesen Gottes
wirklich widerspiegelt. Das Gottesbild in engerem Sinne, als Zustand und
Besitz. Nach dem Sündenfall ist nun das Gottesbild in ersterem, formalem Sinne
nicht untergegangen; doch als Inhalt und materialer Besitz ist es verloren. „Das
Räderwerk des Mechanismus ist zwar geblieben; aber sein Lauf ist gestört. Die
Blume mit ihrem Blütenkelch ist noch da; aber ihr Farbenschmelz und ihr Duft
ist dahin" (Ed. König). Daher die Notwendigkeit der Erlösung.
46
Heiligung und Gottesbildlichkeit
a) Die A u s r üs tun g. Gott selbst ist das Urbild. Geistigkeit,
Freiheit und Seligkeit bilden die drei Grundbestimmungen seines heilig
liebenden Wesens. Diese nun sollten im Menschen abbildartig verklärt
werden. Darum rüstete ihn Gott mit den drei Kräften seines geistigen
und seelischen Inneren aus. Er gab ihm Willen, Verstand und Gefühl.
Damit er der Freiheit der heiligen Liebe teilhaftig sein könne, verlieh er
ihm den W i 11 e n; damit er in wahrer Erkenntnis die göttliche Geistig-
keit widerspiegele, den V e r st an d, und damit er der göttlichen Selig-
keit sich erfreue, das G e f ü h 1.
b) Die Heiligun g. In entsprechender Weise wird darum auch
im Neuen Testament das Ziel aller Heiligung beschrieben. Hinsichtlich
des geistlichen Denkvermögens heißt es, daß wir den neuen Menschen
angezogen haben, „der zur vollen E r k e n n t n i s erneuert wird nach
dem ‚Bilde' dessen, der ihn erschaffen hat" (Kol. 3, 10). In bezug auf den
sittlichen Zustand des Willens wird gesagt, daß der neue Mensch „nach
Gottes ‚Bild' geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und
R ei n h e i t" (Eph. 4, 24). Und was schließlich das jubelnde Erleben der
Herrlichkeit Gottes betrifft, das, mit der gesamten Persönlichkeit -
ihrem Denken und Wollen — zugleich auch die Freude des Gefühls in
sich einschließt, so lesen wir: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Ange-
sicht die Herrlichkeit des HErrn anschauend, werden verwandelt nach
demselben ‚Bilde' von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als
durch den HErrn, den Geist" (2. Kor. 3, 18 Elb.).
c) Der M i t tle r. Aber alle diese drei Strahlen werden zusammen-
gefaßt in dem einen, in dem Bilde Jesu Christi, des Sohnes Gottes, un-
seres HErrn; „denn die, welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch dazu
vorausbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden: Dieser sollte
der Erstgeborene sein unter vielen Brüdern" (Röm. 8, 29). Das Bild des
Vaters ist niemand anders als der eingeborene Sohn (Kol. 1, 15; Hebr.
1, 3). In diesem Bilde schuf Gott den Menschen zu seinem Bilde.
Darum gelangt in uns das Bild des Vaters im Bilde des Sohnes zur Aus-
gestaltung. Im Sohne sind wir zu Söhnen bestimmt. Darin besteht unsere
Gottesbildlichkeit (1. Kor. 1, 9; 1. Joh. 3, 2). Christus, der geschichtliche
Heilsmittelpunkt, ist zugleich das „urbildliche Weltziel".
Aber nicht nur in sittlicher Weise ist Gleichgestaltung mit Christo
das Endziel der Erlösung, sondern auch geistleiblich. So ist auch Christus
mit einem verklärten Menschenleibe in die Herrlichkeit eingegangen (Joh.
Christus das urbildliche Weltziel
47
20, 14-29; Apg. 1, 11; Phil. 3, 21), und so erwarten wir ihn auch als Hei-
land vom Himmel zurück, als den, „der unseren Leib der Niedrigkeit
umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlich-
keit" (Phil. 3, 21 EIb.). Denn „der erste Mensch ist von der Erde, von
Staub, der zweite Mensch ist vom Himmel. Und wie der Himmlische,
so sind auch die Himmlischen. Und wie wir das Bild dessen von Staub
getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen"
(1. Kor. 15, 47-49 Elb.).
d) Das E n d z i e 1. Dann aber, wenn diese Geistleiblichkeit kommt
(Röm. 8, 23), wird das Ziel alles Heils in vollendeter Weise erreicht sein.
Als Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede wird sich das innere 'Wesen des
Reiches Gottes entfalten (Röm. 14, 17), und Herrlichkeit wird sein in
allen denen, die da erwachen im Bilde ihres Gottes. In der Heiligkeit
ihres Wollens, der Weisheit ihres Erkennens und der Seligkeit ihres
Fühlens offenbart sich dann vollkommen die Freiheit und Geistigkeit
und Seligkeit ihres Schöpfers, und ihre drei Seelenkräfte werden auf
ewig zu einer geschöpflich-dreieinheitlichen Verklärung der dreieinigen
Seinsbestimmtheiten des ewigen Gottes.
Zu diesem allem aber tritt noch etwas Besonderes hinzu. Gott hatte
offenbar bei der Menschenschöpfung nicht nur den Gedanken, daß ihn
dieser, gleich den Engeln des Himmels, als reines und glückliches Wesen
verherrliche, sondern, indem er ihm die Erde als Herrschaftsgebiet über-
gab,
erteilte er ihm auch eine spezielle Aufgabe zu, die sich auf diesen
seinen
Wohnsitz erstreckte.
3. Der Mensch als Beherrscher der Erde
„Seid fruchtbar und mehret euch, bevölkert die Erde und macht sie
euch
untertan und herrschet" (1_ Mose 1, 28). In diesen Worten ist deut-
lich
die Königsbestimmung des Menschengeschlechts ausgesprochen. Die
Befähigung
dazu ist der menschliche Geist, der sich vor allem im Worte
bekundet.
a) Der A n f an g. Was ist ein Wort? — Ein Schall, ein Laut, ein
Ton,
der aus unserem Munde hervorgeht! Aber noch mehr! Ein Träger
einer
Regung des Geistes, ein Kundgebungsorgan der Vernunft, ein Zei-
chen
und Lautsymbol einer Tätigkeit der Seele. Nur durch die Gabe des-
Geistes
und 'Wortes wird der Mensch erst zum Menschen. Erst so emp-
fängt
er die Möglichkeit innerer Entwicklung.
48
Der Mensch als Beherrscher der Erde
Mit dem Wort begann Adam im Paradiese die Vollziehung seiner
Königsgewalt. Gott selbst brachte ihm gleich zu Beginn, noch vor der
Erschaffung des Weibes,") die Tiere der Luft und der Erde, damit er -
ihr Wesen durchschauend — sie mit passendem Namen benenne (1. Mose
2,20), und so wird der „König" sofort schon am Anfang vom Schöpfer
gekrönt, und die Sprache wird geistig das „Zepter der Menschheit".
b) D er I n h a l t. Nun aber war die Erde — jedenfalls die außer-
paradiesische — ein Gebiet, das trotz seiner Erschaffung und überwal-
tung durch den Höchsten, noch nicht restlos sein Endziel erreicht hatte.
Ja, es scheint, daß der Zustand der Disharmonie, der mit dem Fall
Satans über die Erdwelt hereingebrochen war (Röm. 8, 20; 21),") in der
außer paradiesischen Erde zur Zeit der Menschenschöpfung durchaus
noch weiterbestand. Jedenfalls deutet die biblische Urgeschichte an, daß
die Erde an sich, trotz des göttlichen Neuanfangs, der mit der Erschaffung
des Menschen einsetzte, dem Wirken dämonischer Mächte noch ntcht
grundsätzlich
entzogen worden war. Dies beweist das Gebot Gottes an
den
Menschen, den Paradiesesgarten nicht nur zu bebauen, sondern zu
„bewahren",
sowie die Tatsache seiner Versuchung durch eine gottfeind-
liche,
auf der Erde auftretende, sieh eines Tieres bedienende Gegen-
macht.
Außerdem: Wenn die Erde überall eine Stätte des Lebens und
höchster
Vollkommenheit gewesen wäre, so hätte es ja überhaupt keines
Paradieses
bedurft! Offenbar aber stand der erstgeschaffene Mensch,
seiner
Anlage und Bestimmung nach, hoch übe r der Erde, und darum
mußte
für ihn auch ein besonderer Bezirk zubereitet werden, damit er
eine
Wohnstätte habe, die dem Adel seiner Stellung und der Hoheit
") Die Sprache ist also nicht, wie ungläubige Philosophen wollen, eine Erfin-
dung,
die man erst nach und nach innerhalb der menschlichen Gesellschaft zum
Zweck
des gegenseitigen Verkehrs gemacht habe. Denn Gott „sprach" schon zu
Adam,
e h e er ihm Eva als Gehilfin beigegeben hatte, und ebenso machte Adam
schon
v o r der Erschaffung des 'Weibes in der Benennung der Tiere Gebrauch
von
der Sprache. Die Sprache ist also vielmehr eine „unwillkürliche Emanation
des
Geistes", die „durch den Mund hindurchgehende, vernehmbare Offenbarung
der
Vernunft" (Plato), „hörbarer Geist" (Bettei). Als Schöpfungsanlage war die
Sprachengabe
beim Menschen schon von vornherein da; sie bedurfte aber der
Entbindung
und Lösung, und diese führte Gott herbei, indem er dem Menschen
aufgab,
den Tieren Namen zu geben. — Welches die Ursprache im Paradiese ge-
wesen
ist, kann heute nicht mehr entschieden werden.
12) Vgl. Seite 38. — Ferner E. Sauer, Vom Adel des Menschen. Gütersloh 1940.
S.
73-80.
Die
Königsbestimmung des Menschengeschlechts 49
seiner Berufung entsprach. Die Pflanzung des Paradiesesgartens ist so-
mit, vom biblischen Standpunkt aus betrachtet, ein Zeugnis von dem Un-
vollkommenheitscharakter der außerparadiesischen Erde.")
Dann aber bedeutet die Ausbreitung der Erdenherrschaft des Men-
schen, sofern er Gott untertan blieb, ein stufenweises Hineinziehen alles
Irdischen in den Bereich der sittlichen Weltzwecke, ein wachstümliches
In-Anspruch-Nehmen der Erde für Gott und damit ein fortschreitendes
Weiterführen der Schöpfung zur Erlösung und Vollendung. Das Paradies
war somit der feste Punkt, von dem aus die Emporhebung der Natur in
den Bereich des Geistes ihren Anfang nehmen sollte. Es war von Gott
dazu gesetzt, „damit von da aus die ganze Erde zum Paradiese werde.
Der Garten ist das Allerheiligste, Eden das Heilige, die ganze Erde rings-
um Vorhalle und Vorhof. Das Ziel ist, daß sie ganz in. das verherrlichte
Gleiche jenes Allerheiligsten verklärt werde."") Hierbei galt Adam selbst
nicht nur als Einzelperson, sondern zugleich auch als Stammvater und
organischer Vertreter seiner gesamten, schon damals grundsätzlich „in"
") Damit stimmt auch das Zeugnis der Geologie überein. Denn es ist natur-
wissenschaftlich klar zu erkennen, daß viele jetzige Lebeformen der Pflanzen-
und
Tierwelt eine außerordentliche Ähnlichkeit, ja teilweise fast Gleichheit mit den
entsprechenden Lebeformen der Tertiärzeit, ja zum Teil sogar Kreide- und Jura-
zeit haben, also mit ihnen offenbar in organischem Zusammenhang stehen. Wollte
man aber nun lehren, daß zur Zeit der ersten Menschen auch die außerparadie-
sische Erde von allem Tod und aller Disharmonie befreit gewesen sei — was die
Bibel nicht ausdrücklich lehrt! --, so müßte man den unvermeidlichen, aber
doch höchst u n wahrscheinlichen Schluß ziehen, daß die mit den heutigen Arten
wesens g 1 e i c h e n (I) Tierarten der Tertiärzeit — wir denken hier besonders
an die fleischfressenden Tiere — erst vernichtet oder hinsichtlich ihrer
Instinkte,
ihrer Ernährungsweise und folglich ihres ganzen Körperbaus anatomisch-physiolo-
gisch umgebildet 'worden seien, dann aber, nach dem Fall des Menschen, wieder
neu erschaffen beziehungsweise in einen Zustand zurückverwandelt worden seien,
der im wesentlichen ihrem Tertiärzustand entspricht. Dies anzunehmen ist aber
eine noch größere Schwierigkeit, als den Zusammenhang des gegenwärtigen Tier-
und Pflanzenlebens mit dem versteinerten für das Richtige zu halten. Vielmehr
empfiehlt sich die Annahme, daß die Tierarten während der Paradieseszeit auf
der außer paradiesischen Erde in ihrem bisherigen, zum Teil wilden Zustand
verblieben sind, daß es aber dann, wenn der Mensch in wachstümlicher Ausbrei-
tung seinen Herrscherdienst gottgemäß ausgeführt hätte, zu einer schließlichen,
endgültigen Befreiung der Tierwelt aus den Banden der Wildheit und des Todes
gekommen wäre. — Genaueres vgl. E. Sauer, „Vom Adel des Menschen", S. 76 ff.
Dort ist auch eine Besprechung gewisser Einwände gegeben.
") Franz Delitzsch, a. a. 0. S. 152.
4 Sauer , Das Morgenrot der Welterlössting
50
Der Zweck des Erkenntnisbaums
ihm mitgeschauten Nachkommenschaft (1. Kor. 15, 22; Röm. 5, 12-21).
Darum heißt es auch zuerst: „Seid fruchtbar und mehret euch und be-
völkert die Erde" und erst hinterher: „Und machet sie euch untertan
und herrschet" (1. Mose 1, 28). So ist denn der Paradiesesgarten Anfang
und Ende, Ausgang und Ziel, Basis, Programm und Muster der Gesamt-
aufgabe der Menschheit auf Erden.
Dies alles aber konnte nur dadurch erreicht werden, daß der Mensch
in eine sittliche Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Bösen
gestellt
wurde. Nur in einem Kampf konnte er „siegen"; nur so konnte
er
die Krone des „überwinders" erlangen. Andererseits aber wollte auch
Satan,
dieser Widersacher Gottes, das Werk seines Feindes, den rein
und
gut erschaffenen Menschen, nicht unangetastet sein lassen. Damit
aber
war sofort schon zu Anfang ein hochbedeutsamer Kampf eröffnet,
und
das Paradies wird
III. Dcr Schauplatz eines gewaltigen Konflikts
Es tritt, mit diesem seinem geheimnisvollen Hintergrund, in den
kosmischen
Rahmen der Weltall-Übergeschichte ein. Hinter dem Paradies
steht
das Sternenall Gottes und die größte Revolution, die es je gegeben
hat:
der Kampf zwischen Satan und Gott.
Der Gegenstand der Versuchung wird, dem Grundsatz der Entwick-
lung
gemäß, dem noch kindlichen Verständnis der jungen Menschheit
angepaßt;
daher das Verbot, von der Frucht eines Baumes zu essen.")
Durch
das Nichtessen von seiner Frucht, d. h. durch den Sieg in der Ver-
suchung,
sollte Adams sittliches Bewußtsein durch Betätigung seiner
Wahlfreiheit
zur Machtfreiheit gelangen, und damit sollte sich zugleich
sein
Herrscherdienst für die Erde auswirken. Jeder Sieg in der Versuchung
hätte
sein Innenleben ausgereift und vertieft. Immer mehr hätte er das
Gute
erkannt und das Böse durchschaut und wäre wachstümlich aus dem
Stande
der Kindes uns c h u 1 d in den Stand der Mannesreife einer sieg-
haften
H eiligkeit mit einer gottähnlichen Erkenntnis von Gut und
Töricht ist der Einwand, das Essen einer verbotenen Frucht sei doch nur
eine
Näscherei, also eine kleine Sünde gewesen; denn den ersten Menschen war
es
ja gar nicht um den Geschmack der Frucht zu tun, sondern sie wollten sich,
hinter
dem Rücken des Schöpfers, auf verbotenem Wege, zu gleicher Erhabenheit
emporschwingen
wie er (1. Mose 3, 5). Das Verbot, vom Baume zu essen, war
also, seinem Wesen nach, geistiger Art, indem es die absolute Herrschaft
Gottes über den Menschen und diese als das wahrhaft Gute feststellte.
Der Einbruch der Sünde
51
Böse gelangt. „Adams Altar und Predigtstuhl ist gewesen dieser Baum
des Erkenntnisses Gutes und Böses, von welchem er Gott pflichtigen
Gehorsam leisten, Gottes Wort und Willen erkennen und ihm danken
sollte, und so Adam nicht gefallen wäre, so wäre dieser Baum gleich wie
ein gemeiner Tempel und Hauptkirche gewesen" (Luther). So war denn
der Baum ein Zeichen der Herrschaft Gottes über den Menschen und
der Unterwerfung des Menschen unter Gott. Auch im Verbot wollte
Gott weit mehr geben als nehmen. In doppelter Weise hatte der Erkennt..
nisbaum demnach einen göttlichen Zweck; er war das Mittel in der Hand
Gottes zur Erziehung des Menschen und dadurch zur Verklärung der
Erde.
Dann aber kam die Sünde. In Eden verlor der Mensch sein Eden,
und das Paradies, dieser Wohnort von Wonne und Lieblichkeit, wurde
1V.
Die Stätte eines tragischen Zusammenbruchs
Die Schlange hatte dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse
verheißen, und in verzerrter Form hat sie auch Wort gehalten. Doch
',anstatt das Böse von der freien Höhe 'des Guten aus zu erkennen, er-
kannten sie nun das Gute von dem fernen Abgrund des Bösen aus". Nach
Gottes Plan hatte der Mensch durch den Sieg in der Versuchung erkennen
sollen, was gut ist und böse märe; durch die Sünde aber erkannte er her-
nach, was böse ist und gut gewesen märe. Und weil er am Erkenntnis-
baum frevelnd gesündigt hatte, mußte er nun auch vom Lebensbaum
abgeschnitten werden (1. Mose 3, 22; 23). Der Tod hielt seinen Einzug in
das Menschengeschlecht, und im Paradiese begann die Hölle des Men-
schen.
Doch nie konnte der Mensch seitdem seine Heimat vergessen. Vom
„verlorenen Paradies" haben alle Völker gesungen und hoffend und
harrend nach seiner Wiederkehr ausgeschaut. Das Paradies ist darum
V. Das Sehnsuchtsziel einer wartenden Menschheit
Und in der Tat, ihr Hoffen wird nicht enttäuscht werden. Die End-
geschichte wird wieder zur Urgeschichte sich wenden, und wie es im
Anfang der alten Erde ein irdisches Paradies gab, so wird es dereinst auf
der neuen Erde ein himmlisches Paradies geben (Off. 22, 1-5). Auch
4*
52
Menschwerdung Christi und Weltvollendung
nach dem Fall ließ der HErr die hohe Berufung der Menschheit bestehen.
Auch jetzt noch bleibt ewig die Verklärung der Erde an die Vollendung
des Menschen gebunden.") Darum „wartet das sehnsüchtige Harren der
Schöpfung auf die Offenbarung der Söhne Gottes" (Röm. 8, 19), und
darum kann sie auch erst dann „zur Teilnahme an der Freiheit" gebracht
werden, wenn „die Kinder Gottes im Stande der Verherrlichung" sind
(Röm. 8, 19-22).
In Christo gelangt dann einst die Menschheit an ihr seliges Ziel. Er
erschien auf der Erde und vollbrachte sein Werk. Er erniedrigte sich
selbst und ging an das Kreuz und trug dort die Sünden der Menschen.
Doch dann stieg er auf in den Himmel empor und sitzt nun zur Rechten
des Vaters, bis er einst den Tag herbeiführen wird, an dem er die Seinen
sich selbst und dem Vater verherrlicht darstellen wird (Eph. 5, 27;
Hebr. 2, 13).
Doch als Menschen sohn hat er das Werk, das der Vater ihm
gab, hier vollbracht. Als Mensch trug er hier die Krone der Dornen, die
der unerlöste, unter dem Fluch stehende Acker ihm bot; und als Mensch
wird er darum auch einst, als das Haupt seines Leibes, über denselben
— doch dann den erlösten, vom Fluche befreiten — Acker regieren (Eph.
1, 22). Der göttliche Erlöser ward Mensch und erlöste als solcher den
menschlichen Beherrscher der Erde, verband ihn dann mit sich zu ewig
untrennbarer Einheit und bewirkte also zugleich die Erlösung der Erde.
Das ist der Weg, den die Gnade gefunden. So bleibt denn die alte Be-
stimmung der Menschheit bestehen, und doch wird sie gänzlich mit neuem
") Darum zeigt die Schrift immer wieder einen tiefen, heilsgeschichtlichen Zu-
sammenhang zwischen der Erde und der Menschheit. „So entsprach dem Men-
schen im Unschuldstande das Paradies, so dem Gefallenen der Acker mit seinem
Fluch, so Israel, dem vorbildlichen Gottesvolk, das Gelobte Land als Vorbild des
zukünftigen Paradieses, so jedem religiös-sittlichen Verfall des Volkes eine
Ver-
dunkelung und Verödung seines Landes (5. Mose 28, 15 ff.; Joel 2; Zeph. 1, 14
ff.)
sowie jeder geistigen Heilszeit eine Erhebung der Natur (5. Mose 28, 8 ff.; Ps.
72,
16; 17; Jes. 35; Hos. 2, 23). So verdunkelte sich beim Tode Christi die Sonne
und
kündigte sich in dem Erdbeben bei seinem Tode die Erneuerung der Erde an."
So kommen in der Steigerung der Sünde in der antichristlichen Zeit gesteigerte
Nöte über die Natur (Off. 16, 1 ff.); im Tausendjährigen Reich aber wird, mit
der
gesamten Menschheit, auch die Natur gesegnet (Jes. 11 u. a.). Zuletzt jedoch
geht
mit dem Ende der Menschheitsgeschichte auch die alte Weltgestalt unter (2. Petr.
3, 10; Off. 20), um, mit der Verklärung der erlösten Menschheit, auch eine ver-
klärte „neue Erde" zu werden (Off. 21, 1). Vgl. J. P. Lange, Bibelwerk, Römer-
brief, 1880, S. 225.
Christus — der Mittelpunkt der Heilsgeschichte
53
Inhalt erfüllt. In Christo als ihrem Haupte gelangt die '1enschheit ans
Ziel ihrer Bestimmung. Er ist, als der „letzte Adam" (1. Kor. 15, 45; 21;
22; Röm. 5, 12-21), für sie Mittelpunkt, Krone und Stern. Das ganze
Menschheitsgeschlecht ist „ein Kreis, und Jesus Christus ist das im Laufe
der Heilsgeschichte immer mehr herausgearbeitete Zentrum dieses Krei-
ses" (Franz Delitzsch).
Aber gerade dies gehört mit zu den tiefsten Geheimnissen des
Gnadenrats Gottes, daß er, zur Erreichung seiner großen, weltumspan-
nenden Ziele, den Menschen auch da nicht beiseitegesetzt hat, wo sich
dieser, durch Sünde und Fall, seiner hohen Bestimmung als unwert
erwiesen. „Unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung
Gottes"
(Röm. 11, 29). So klingt es gleichsam, wie bei Israel im Kleinen,
so
hier im Großen, durch Sünde und Unheil, Verderben und Rettung
hindurch.
Die Vollendung der Schöpfung soll dennoch mit dem Menschen
verknüpft
sein. Mag ihre Entwicklung nun auch andere Wege gehen, als
es
ohne einen menschlichen Sündenfall gewesen wäre: das Endziel bleibt
dennoch
bestehen. Und weil dieses der Weg und das Ziel Gottes bleibt
—
daß der Mensch der Segenskanal für die Schöpfung wird —, kann es
ein
Werfen des Teufels in den Feuersee und einen neuen Himmel und
eine
neue Erde auch erst nach dem Großen Weißen Thron, d. h. nach
dem
Abschluß der geoffenbarten menschlidien Erlösungsgeschichte geben
(Off.
21 und 22 vgl. Off. 20, 11-15).
2. K a p i t e l: Sünde und Gnade
54
Groß war der Mensch in seinem Fall. Noch größer war Gott in
seinem Erbarmen (Röm. 5, 20). Auch dem Sünder gegenüber blieb die
göttliche Liebe bestehen (Joh. 3,16).
Trotzdem brachte der Sündenfall eine Veränderung aller Weltver-
hältnisse mit sich. Neue Grundsätze wurden erforderlich, die von nun
an die ganze Geschichte der Menschheit beherrschten.
I. Der Grundsatz der Erlösung
Ohne Fall wäre das menschliche Werden ein allmählicher Aufstieg
gewesen. Es hätte wohl eine Heilsgeschichte, aber keine Erlösungs-
geschichte gegeben. Alles wäre geradlinige Aufwärtsentwicklung gewesen.
Nun aber trat an die Stelle der Entwicklungsfähigkeit des Menschen die
Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Erlösung. Hinfort handelt es sich
nicht mehr um Evolution der in ihm ruhenden Kräfte, sondern um Re-
volutionen des Geistes in göttlichen Liebes- und Neuschöpfungstaten.
Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Sündenfalls liegt also in der
Umwandlung des entscheidenden Grundprinzips aller Menschheits-
•
entwicklung.
In der Tat, der Mensch war nicht hoffnungslos gefallen. Er blieb
erlösbar, und Gott wurde ihm zum Erlöser. Zwei Tatsachen begründen
diese Möglichkeit. Der Mensch hatte die Sünde nicht selber erfunden.
Sein Fall hatte nicht darin bestanden, daß er von innen heraus, von sich
aus, nur auf Grund völlig eigener Inspirationen gehandelt hatte,.sondern
auf Grund einer Versuchung von außen. Sonst wäre er allerdings ein
selbsteigener Urgrund der Sünde und damit ein Teufel geworden. Und
wie er das Böse weder vor noch in seinem Fall produziert hatte, so hatte
er nach seinem Fall sich mit ihm auch nicht identifiziert. Sogleich empfand
er die Sünde als etwas ihm Fremdes und machte einen Unterschied zwi-
schen sich und dem Bösen. Dies beweist sein sofortiges Schamgefühl
und das Bedecken seiner Blöße durch Feigenblätter (1. Mose 3,
10).
Die göttliche Selbstrechtfertigung in der Heilsgeschichte
55
Wohl war dieser erste Versuch zur Überwindung des Bösen vergeblich;
aber er war doch ein unverkennbarer Beweis, daß der Mensch nicht in
Schamlosigkeit und Gemeinheit untergehen wollte, daß er sein Gewissen,
gegen das er gehandelt, nun nicht noch mit Bewußtsein ertötete. Damit
aber werden jene Feigenblätter geradezu eine Verkörperung und ein
Symbol seiner Flucht vor dem Bösen, und das Schamgefühl wird eine noch
unbewußte Abwehr des Fleischesdienstes im Gefühl der Schuld und Ohn-
macht und somit die erste Gegenwirkung gegen die Macht der Sünde,
indem der Mensch, da er das Böse nicht zu überwinden vermag, ihm doch
wenigstens zu entfliehen sucht')
II. Der Grundsatz der göttlichen Selbstrechtfertigung
Aber die Sünde macht blind, und der Mensch kann sein Verderben
nicht einsehen (Eph. 4, 18; Off. 3, 17). Er glaubt an das Gute in sich und
vergöttlicht sein eigenes Wesen (2. Thess. 2, 3; 4). „Die Menschheit ist
die Gottheit von unten gesehen." Solange er das glaubt, wird er niemals
die Erlösung ergreifen (Matth. 9, 12).
Darum muß er Gelegenheit bekommen, seine Kraft nach allen Seiten
hin zu versuchen, um letzten Endes dann doch zur Erkenntnis seiner
Ohnmacht zu gelangen. Der menschliche Zusammenbruch muß die gött-
liche Methode des Wiederaufbaus werden. Daher die vielen Jahrtausende
im Heilsplan und die Vielgestaltigkeit der Offenbarungsgeschichte in
Zeitaltern und Äonen. Hierbei hat jede Periode des Heilsplans notwendig
zugleich die Offenbarung des menschlichen Versagens zum Ziel, und die
buntschillernde Verschiedenartigkeit und Stufenmäßigkeit des Ganzen
hat darin mit ihren erzieherischen Grund, daß jede dieser Haushaltungen
den Bankrott des natürlichen Menschen von einer anderen Seite aus
darlegen soll. So werden schließlich alle Seelenkräfte des einzelnen und
alle Gesellschaftsformen der Gesamtheit als unzureichend erwiesen, und
Gottes Heilsplan in Christo erscheint nicht nur als der einzige, sondern
geradezu als der einzig mögliche und notwendige. Damit aber steht Gott
vor seiner ganzen Schöpfung im Himmel und auf Erden als gerechtfertigt
da, daß er gerade diesen Heilsweg bestimmte. Die Heilsgeschichte
wird somit zu einer geschichtlichen Selbstrechtfertigung Gottes') und der
Offenbarungsverlauf zu seinem eigenen Notwendigkeitsbeweis. Wie
') Vgl. v. Gerlachs Bibelwerk zu 1. Mose 3,7.
2) Zu einer „historischen Theodizee".
56 Der Grundsatz
des menschlichen Zusammenbruchs
eschrieben steht: „Auf daß du (Gott) gerechtfertigt seiest mit deinem
lichterspruch und als Sieger dastehest, wenn man mit dir rechtet"
Röm. 3, 4 Alb.).
II.Der Grundsatz des menschlichen Zusammenbruchs
In
der Tat, restloser konnte der Mensch seinen Absturz nicht zeigen,
ils er getan hat und noch tun wird.
Gibt Gott ihm die Selbstbestimmung,
so gerät er in Zügellosigkeit:3)
im Zeitabschnitt der Freiheitsprobe.
Gibt Gott ihm die Obrigkeit,
so betreibt er Unterdrückung:4)
im Zeitabschnitt hinter Noah.
Gibt Gott ihm die Verheißung,
so versinkt er in Unglauben:5)
im Zeitabschnitt der Patriarchen und der Folgezeit.
Zeigt Gott ihm seine Ungerechtigkeit')
so versteigt er sich in Selbstgerechtigkeit:7)
im Zeitabschnitt des Gesetzes.
Gibt Gott ihm den Christus,
so erwählt er sich den Antichrist:8)
im Zeitabschnitt des Evangeliums.
Gibt Gott ihm den König,
so folgt er dem Rebellen:9)
im Zeitabschnitt des Tausendjährigen Reiches.
So ist der Mensch dauernd in Auflehnung gegen Gott und — wie
3) Besonders in Lamech (1. Mose 4, 23; 24).
s) Noch dazu in Nimrod, dem Hauriten, dem Gründer des urbabylonischen
Weltreichs (1. Mose 10, 6-12), dessen Rasse nach 1. Mose 9,25 der Segen losig-
keit anheimgegeben worden war, ja, in Kanaan sogar „Knechte aller Knechte"
sein sollte!
5) Vgl. besonders das zehnmal ungehorsame und murrende Israel in der Wüste
am Ende des Zeitabschnitts der patriarchalischen Glaubensverheißung.
6) Das Gesetz war ein Spiegel der Sünde (Röm. 3, 20; 7, 7).
7) Vgl. besonders die Pharisäer (Röm. 2,17-21).
8) Joh. 5, 43; Off. 13.
') Vgl. Gog und Magog: Off. 20, 7-10.
Der Grundsatz des heiligen „überrests"
57
Israel im Kleinen — so ist die Menschheit im Großen ein Volk, „dessen
Herz immer den Irrweg will" (Ps. 95, 10). Kein Wunder, daß darum alle
Haushaltungen mit göttlichem Gericht enden:
Der Zeitabschnitt des Paradieses -
mit der Austreibung aus dem Garten;
Der Zeitabschnitt der Freiheitsprobe -
mit dem Flutgericht;
Der Zeitabschnitt hinter Noah -
mit Babel und der Beiseitesetzung der Völkerwelt;
Der Zeitabschnitt des Gesetzes —
mit der Zerstreuung der Juden;
Der Zeitabschnitt der Gemeinde -
mit der antichristlichen Trübsal;
Der Zeitabschnitt des Herrlichkeitsreiches -
mit Vernichtung und flammendem Untergang (Off. 20, 9).
Aber dann, wenn alle nur erdenkbaren Möglichkeiten erschöpft sind
und
das Weltreich alle seine Kräfte zerarbeitet hat, wird das Gottesreich
triumphierend
erscheinen (Off. 11, 15), und im neuen Himmel und auf
der
neuen Erde wird Gerechtigkeit ewiglich wohnen (2. Petr. 3, 13).
IV. Der Grundsatz des heiligen „Überrests"")
Sollte aber dieses Endziel erreicht werden können, so durften die
dazwischenliegenden
Gerichtskatastrophen niemals -totale sein. Sonst
wäre
der Zusammenhang des Kommenden mit dem Vergangenen ver-
loren
gewesen, und das neu in Erscheinung Getretene wäre ein Selb-
ständiges
und Anderes geworden, nicht aber die Fortsetzung und Weiter-
führung
des Bisherigen. Das aber hätte nichts anderes bedeutet als die
unverhüllte
Bankrott-Erklärung Gottes vor aller Welt, daß alle seine
bisherigen
Erziehungsgrundsätze mit der Menschheit zusammengebrochen
seien.
Darum mußte stets ein „Überrest" aus den Gerichten gerettet wer-
den
(Jes. 10, 21; 22; 11, 11; Hes. 5, 1---4 bes. 3; 1. Kön. 19, 18; Röm. 11,
1-10), um somit die Grundlage für die 'Weiterentwicklung zu werden.
Mitten
im Todesgericht mußte stets über dem Bösen immer wieder ein
10) Vgl. J. Kroeker, Noah und das damalige Weltgericht, Wernigerode 1925,
S. 147 ff.
583 Die
heilsgeschichtliche Bedeutung der „kleinen Herde"
Neuleben begründet werden. Nur so konnte die Einheit des Ganzen
ewahrt und die Zukunft organisch mit der Vergangenheit und Gegen-
art verbunden werden.
Dies
ist die Bedeutung der Frommen in der Welt. Sie sind der Träger
edes Neuanfangs im Gericht und damit der gesamten Einheit des HeilS-
dans. Erst durch die „kleine Herde" empfängt die große Heilsgeschichte
hre feste Geschlossenheit und ihren organischen Zusammenhang. Erst
iie, die Geringen der Welt, sind die menschliche Grundlage für die
)urchführbarkeit der Erlösung. Ohne sie würde jede Offenbarungs-
i,eschichte in Stücke zerfallen. Scheinbar ein entbehrlicher Faktor im
Neltgesehehen, sind gerade sie „der große Mitarbeiter Gottes, durch den
lie Welt in ihrem Fortbestand und in ihrem letzten Wesen bestimmt
wird. Ihr Wandel mit Gott rettet die Zukunft der Welt".") Damit aber
werden gerade siezudenTrägernder Geschichte überhaupt
und, in der Schrift, zu den Trägern der Weltchronologie.")
So ziehen sich durch alle Zeitalter diese zwei Linien hindurch: das
Heranreifen der großen „Welt" zum Wettersturm des Gerichts und die
Zubereitung der „kleinen Herde" zur Herausrettung aus Elend und Not.
Wie ein Felsen im Meer steht dieses Volk in der Völkerwelt da.
Auch die Pforten des Totenreichs werden es nicht überwinden (Matth.
16, 18); denn mit seinem Bestand steht und fällt alle Hoffnung der
Welt, und hinter aller Hoffnung steht ewig die Bundestreue des Erlösers.
Mag darum auch immer wieder die Eiche der Weltkultur durch die
Axt des Gottesgerichts gefällt werden müssen: immer wieder bleibt den-
noch dieser. „Wurzelstock" übrig, der „heilige Same", aus dem neues
Leben ersprießt (Jes. 6, 13 vgl. 11, 1), die „kleine Herde", die das ewige
Reich empfängt (Luk. 12, 32). So flammt aus der Nacht des Gerichts
immer wieder das Frührot des jungen Tages hervor, und in den Wetter-
wolken des Zornes erscheint strahlend der Regenbogen des göttlichen
Erlösers (vgl. 1. Mose 9, 13).
") Kroeker, a. a. 0. S. 157; 158.
") Geschichtliche Zahlenangaben in den Stammbäumen gibt das erste Buch
Mose nur bei der erwählten Linie (besonders Seth-Noah: 1. Mose 5, und
Sem-Abraham: 1. Mose 11.10 ff.; vgl. ferner 1. Mose 25, 20; 37, 2). In den
Ahnen-
tafeln der nicht erwählten Linien finden sich keine Geschichtszahlen (Kahl:
1. Mose 4, 17-24; die Völkertafel: 1. Mose 10; Ismael: 1. Mose 25, 12-16; Esau:
1. Mose 36,1-8). Für Gott ist eben nur die Geschichte der kleinen Herde „Ge-
schichte".
Der Grundsatz des Zweiten vor dem Ersten
59
V. Der Grundsatz des Zweiten vor dem Ersten
Aber dazu erwählt sich Gott stets das Geringe (1. Kor. 1, 26; 27).
Nur so wird der eitle Selbstruhm des Sünders zerstört. Darum 'ist es auch
geradezu ein durchgehender Grundzug der ganzen Geschichte der Er-
lösung, daß Gott immer wieder den Jüngeren dem Alteren voranstellt,
das Kleinere vor das Größere setzt und das Zweite vor dem Ersten
erwählt:
nicht Kain, sondern Abel und dessen Ersatz Seth,
nicht Japhet, sondern Sem,
nicht Ismael, sondern Isaak,
nicht Esau, sondern Jakob,
nicht Manasse, sondern Ephraim (1. Mose 48, 14),
nicht Aaron, sondern Mose (2. Mose 7, 7),
nicht Eliab, sondern David (1. Sam. 16, 6-13),
nicht der erste König, sondern der zweite,")
nicht der Alte Bund, sondern der Neue (Hebr. 8, 13),
nicht Israel, sondern die Gemeinde.''')
So nimmt Gott immer wieder „das Erste hinweg, auf daß er das
Zweite
aufrichte" (Hebr. 10, 9). Er erwählt sich das Schwache der Welt,
auf
daß er das Starke zu Schanden mache (1. Kor. 1,27). Er beruft sich
die
Letzten und macht sie zu Ersten, und die Ersten werden die Letzten
sein
(Matth. 19, 30). Und dies alles geschieht, „auf daß sich vor ihm kein
Fleisch
rühme'', sondern: „Wer sich rühmt, der rühme sich des HErrn"
(1.
Kor, 1, 29; 31).
VI. Der Grundsatz der fortlaufenden Reformation
Und doch! Was geschah? Aus den begnadeten Anfängen von Leben
und
Kraft ging stets ein Geschlecht voller Abfall hervor. Was die Väter
im
Glauben errungen, war meist bei den Kindern in der dritten Gene-
ration
schon verloren (Richter 2, 7), und das zum Babel gewordene Jeru-
salem
mußte schließlich — genau wie die einstige „Welt" — dem Gericht
des
Verderbens verfallen.")
Sollte aber dennoch der göttliche Plan nicht versagen, so mußte not-
D. h. nicht Saul, sondern David.
") Aus der Zeitschrift "Menetekel", 1931.
") Vgl. Kroeker, a. a. 0. S. 147.
60
Die Heilsgeschichte als Werk Gottes
wendig innerhalb dieses verflachten, inzwischen groß gewordenen Kreises
— dessen Väter die Träger einer früheren Reformation gewesen waren
— nunmehr ein neuer und kleinerer Kreis berufen werden, der jetzt der
Träger der Offenbarung wurde, so daß nun in ihnen die Reformation der
Vergangenheit gleichsam eine neue Reformation erlebte. Und da sich
dies im Verlauf der Zeit immer wieder vollzieht, ist die ganze Geschichte
der Erlösung geradezu von dem Grundsatz einer fortlaufenden Refor-
mation beherrscht, und die Heilsgeschichte gleicht einer Kurve mit den
stärksten Zickzackbewegungen im einzelnen, die aber als Großes und
Ganzes dennoch unaufhaltsam nach oben geht.
VII. Der Grundsatz des heilsgeschichtlichen
Fortschritts
Aber göttlicher Neuanfang ist nie bloße Rückkehr zum Alten. In
jeder aus dem Zusammenbruch herausgeborenen Reformation lag zu-
gleich ein keimhaftes Lebensprogramm für die Zukunft. Offenbarung
und Entwicklung sind durchaus keine Gegensätze, sondern gehören zu-
sammen. Auch im Bereiche der Bibel gibt es einen Aufstieg vom Nie-
deren zum Höheren, aus der Dämmerung zur Klarheit (Matth. 13, 16; 17;
1. Petr. 1, 10; 11; Joh. 16, 12). In Abram erkor sich Gott eine Einzelperson;
in Jakob erwuchs eine Familie; am Sinai wurde diese zum Folk. Jetzt
sammelt sich Gott ein übernationales Volk aus allen Völkern (Apg. 15,
14); im kommenden Gottesreich wird es eine universale Völkergemein-
schaft sein (Jes. 2,2-4; Jes. 19, 25), und zuletzt wird es einen neuen
Himmel und eine neue Erde geben (Off. 21, 1).
Aber dies alles ist Gottes Werk, kein menschlicher „Fortschritt",
kein Aufstieg der Geschöpfe aus der Tiefe in die Höhe, sondern eine
Herablassung des Schöpfers aus der Höhe in die Tiefe; keine Entwicklung,
menschlicher Kräfte bis zur Entfaltung höchster, idealer Humanität, son-
dern eine Hinführung zu göttlichen Ewigkeitszielen, durch mächtige Taten
göttlichen Eingreifens in Liebe und Kraft. So wird denn durch göttliches
Tun von oben nach unten das irdische Sein von unten nach oben geführt,
bis zuletzt Gottes Herrlichkeit im Geschöpflichen erscheint und alles
Irdische im Himmlischen verklärt ist (Matth. 27, 51; Joh. 3, 13).
61
3.
Kapitel: Das Frührot des Heils
Einem sonnigen Morgen hatte der Anfang der Menschheit geglichen.
Aus der Ewigkeit kommend, hatte die Zeit das Glück gleichsam in Hän-
den getragen. Im Paradiesessegen hatte Gott Himmel und Erde vereint.
Doch dann kam die Sünde. Wie ein nachtschwarzer Gewittersturm
brach sie verheerend herein und vertrieb all diesen Morgenglanz aus der
Geschichte der Zeit. Fortan stand die Erde unter dem Schatten des Todes.
Folgenschwer war auch das göttliche Gericht. Der Mensch hatte in
seinem Ungehorsam das Königsein Gottes verneint und den Herrscher
des Alls von dem Thron seines Herzens gestoßen. Sünde ist Aufruhr
gegen Gott, Empörung gegen den Höchsten, Rebellion des geschöpflichen
Einzelwillens gegen die göttliche Weltordnung. Nun trat das menschliche
Ich an die Stelle des abgesetzten Gottes und wurde der König auf dem
Thron. Nach Gottes Plan hatte der Mensch gewissermaßen ein geistlicher
Kopernikaner sein sollen, der, gleich einem Punkt auf der Kreislinie, von
Gott als seiner Sonne und seinem Mittelpunkt abhängt. Anstatt dessen
war er nun in den Irrtum des ptolemäischen Systems gefallen und stellt
sein eigenes Ich in den Mittelpunkt seines Lebens, um den sich fortan
alles andere, Gott und Welt, drehen müsse. „D a r um hat ihn auch
Gott an sein Ich hingegeben. Nun ist der Mensch gänzlich
gefangen unter seinem Ich. Er erwartet sein Glück, seine Erlösung von
seinem Ich. Er rechtfertigt sein Ich. Er rühmt sein Ich, und alle seine
Gedanken kreisen um sein Ich.
Und zu dem Ich gesellt sich die Welt, die der Mensch in seiner Ver-
blendung Gott vorgezogen hatte. Mit dem Ich besteigt gleichzeitig die
Welt in ihm den Thron, und Gott gibt den M e n s c h e n auch
hin an die W e 1 t. Und da das Ich und die Welt nicht imstande sind,
den leeren Platz Gottes in ihm auszufüllen, setzt dieser rasende Hunger
der Menschenseele ein, der sie selbst zerquält, der Hunger nach Ich-
geltung
und Welt, nach Besitz und Genuß. Gerade dieser maßlose, uner-
sättliche
Hunger ist immer wieder ein Beweis, daß einst Gott das Men-
schenherz
befriedigt hatte, daß das Menschenherz auf Gott angelegt ist."
62
Das Strafurteil Gottes
Auch im einzelnen verhängt Gott über den Sünder das Gericht.
Das Weib wurde gerade in ihrem höchsten Beruf, im Mutter-
und Weibsein, erfaßt (1. Mose 3, 16). Ihr kleinerer Kreis von Familie
und Haus stand fortan unter dem Druck von allerlei Nöten.
Den Mann traf die Strafe in seinem männlichen Beruf, in dem
größeren Umkreis seiner Arbeit und seines Broterwerbs (1. Klose
3, 17-19). In dem Mann aber wurde zugleich der menschliche Beruf
ein sich betroffen, da ja Adam, als Haupt auch des Weibes, zugleich
der Vertreter des Allgemein-Menschlichen war. Mühsal der Arbeit,
Krankheit, Leiden und Tod sind von nun an das traurige Los aller
Menschen. Mit dem Augenblick des Sündigens (1. Mose 2, 17b!) war
der geistliche Tod und mit ihm auch — unter dem göttlichen Gericht
— das Aufhören der leiblichen Todeslosigkeit eingetreten. Nachdem
sich der Geist von seinem Zentrum, Gott, losgesagt hatte, rissen sich
nun auch, infolge des Strafurteils Gottes, die leiblichen-und seelischen
Lebenskräfte von ihrem Zentrum, dem Geiste, los, und das Ende
dieser Trennung von Leib, Seele und Geist ist der leibliche Tod
(Röm. 6, 23). Fortan ist das „Leben" nur ein allmähliches Sterben,
und die Geburt ist der Anfang des Todes.1)
Da aber Adam, als der Stammvater der Menschheit, zugleich auch ihr
organischer Stellvertreter war, setzte sich Tod und Verderben auch auf
alle seine Nachkommen, auf das ganze, von ihm stammende Menschen-
geschlecht fort. Der Fall war universal (Röm. 5, 12--21; 1. Kor. 15, 21).
Infolge der geistseelisch-leiblichen Fortpflanzung der Menschheit
besteht ein geheimnisvoller, organischer Zusammenhang zwischen jedem
einzelnen und der gesamten menschlichen Art, und dadurch mit Adam
als dem Stammvater und Urbild des Ganzen. Jeder einzelne ist ein Teil
seiner Vorfahren und ein Teil seiner Nachkommen, ein Durchgangs-
1) Vor dem Sündenfall war der menschliche Leib, wenn auch nicht gerade
unsterblich, so doch zum mindesten nur sterbensfähig, nicht aber sterblich. Das
Sterben war keine Unmöglichkeit, aber auch keine Notwendigkeit. Der Mensch
besaß, um mit Augustinus zu reden, sowohl die Möglichkeit, nicht zu sündigen
und nicht zu sterben (das posse non peccare et mori), wie auch die Möglichkeit.
zu sündigen und zu sterben (das posse peccare et mori). Durch den Sieg in der
Versuchung sollte er in die Unmöglichkeit, zu sündigen und zu sterben, empor-
steigen (aus dem posse non peccare et mori in das non posse peccare et mori).
Nach seiner Niederlage aber befindet er sich in der Unmöglichkeit, nicht zu sün-
digen und zu sterben, d. h. er m u ß sündigen.
Er ist im non posse non peccare et
non mori.
Die Erbsünde
63
punkt des Blutstroms seiner Eltern und Ahnen. „Die Seele alles Fleisches
ist im Blute" (3. Mose 17, 11; 14; Apg. 17, 26).
Daher die Betonung der Stammbäume in der Schrift (z. B. 1. Mogie 5;
1. Chr. 1-9) und die Bedeutung der Vererbungsgesetze in Familie und
Volk. Daher auch die artgemäßen Gleichheiten und Verschiedenheiten
der Nationen und Rassen und der gleichartige und dennoch unterschied-
liehe Erbgrund des Denkens und Empfindens von Volk zu Volk, das
heißt, von Seele zu Seele. Daher auch die tibertragung der U n vollkom-
menheiten und Charakter f e h 1 e r der Ahnen, das Weitergehen des
Bösen von Generation zu Generation, das radikale, zentrale, totale Ver-
derben aller, die Wurzelkrankheit der Menschenseele, das Verlorensein
jedes einzelnen, das Vergiftetsein des Gesamtorganismus, das heißt, die
Erbsünd e. „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer" (Ps. 14, 3
vgl. Ps. 51, 7; Joh. 3, 6; 1. Mose 8, 21 vgl. Hebr. 7, 9-10).
Die Gesamtheit aller natürlichen Menschen bildet eben einen rassisch
gegliederten, ungeheuren Organismus, und jeder einzelne ist — schon
durch seine bloße Geburt — unentrinnbar ein Glied desselben. Er ist
„in" Adam (1. Kor. 15, 22). Die Menschheit ist nicht eine bloße Zusam-
menzählungssumme vieler getrennter Einzelpersönlichkeiten, sondern ein
einziger, ungeheurer „Leib", der, seinem Ursprung und Wesen nach, nur
den einen, ins Milliardenfache vermehrten und differenzierten Stamm-
vater Adam darstellt. Daher auch die Allumfassenheit des Falls und die
Ausnahmslosigkeit der Sünde (Röm. 5, 12; 3, 10-12; 23); daher auch die
Notwendigkeit der Wiedergeburt jedes einzelnen (Joh. 3, 3) und der
Menschwerdung Christi als des Heilands und Erlösers (Röm. 5, 12-21).
Die N a t u r. Indem aber Adam durch seinen Ungehorsam die
Herrschaft des Schöpfers über sich. verneint hatte, hatte er zugleich auch
seine eigene Herrschaft über die Schöpfung zerrüttet. Zwar blieb seine
Herrschaft als solche bestehen — denn der Herrscherberuf des Menschen
gehört mit zu seinem unverlierbaren Gottesbild —;') aber die Ausübung
und Steigerung dieser Herrschaft stürzt den gottgelösten Menschen in
immer neue Nöte. Was ihm zum Segen werden sollte, wird ihm zum
Verderben,$) und gerade aus der Höhe seiner Berufung ergibt sich ein
desto tieferer Sturz.
Und noch mehr. Auch die irdische Schöpfung in sich wird betroffen.
') Vgl. S. 45, Anm. — Auch S. 74.
3) Man denke nur an die Auswirkungen vieler neuerer Erfindungen.
64
Die Zerrüttung der Natur
"Ist das Haupt bei Gott, so sind es die Glieder auch. Fällt die Krone der
Schöpfung in den Staub, so werden auch die lintertanen mit in den
Sturz hineingerissen" (A. Köberle). Dies fordert der organische Zusam-
menhang von Geist und Natur. Aus ihm folgt, beim Eintritt des Falls,
eine „Verklammerung von geistiger und leiblich-irdischer Not, von inne-
rem und äußerem Schaden, von Weltschuld und Weltleid, von Mensch-
heitssünde und seufzender Kreatur".4) Aus der Pflanzenwelt hatte der
Gegenstand der Versuchung, aus der Tierwelt das Werkzeug des Ver-
suchers gestammt. So bleiben sie nun beide, das Pflanzen- und Tierreich,
um des Menschen willen gebannt (1. Mose 3, 17), und die Schöpfung, die
durch den Menschen ihrer Erlösung und Vollendung hatte entgegen-
geführt werden sollen,) bleibt weiterhin der Nichtigkeit unterworfen. So
bietet sie noch heute jenen rätselhaften Zwitterzustand dar, der in
seinem Widerstreit von Glück und Unglück, Weisheit und Unvernunft,
Zweckmäßigkeit und Zerrüttung sowohl den Gottesglauben wie auch die
Gottes/eugnung unmöglich zu machen scheint') Jubel und Jammer, Güte
und Grausamkeit, Lebensfreude und Todesweh — das alles durchzuckt
nun den Organismus der Erdwelt. Jetzt gleicht die Natur einem groß-
artigen Tempel in trümmerhaftem Zustand, dessen tiefsinnige Inschrif-
ten von feindlicher Hand boshaft karikiert worden sind.7) Und der
Mensch, der Beherrscher der Erde, ist doppelt entartet: „Entweder wird
er, in seiner Bestialität, zu einem Satan für das Geschöpf; oder aber, er
4) A. Köberle, Christentum und modernes Naturerleben, Gütersloh 1932, S. 57.
— Hiermit stimmt auch die Erkenntnis der modernen Krankheitskunde und Psy-
chotherapie überein: „Schwere seelische Lähmungen bewirken Parallelvorgänge im
Physischen, wie auch seelische Befreiungen körperliche Hemmungen mit auflösen
können" (Köberle, a. a. 0. S. 60).
5) Vgl. Seite 49. 50.
,,Die Welt ist so schön, daß wir Gott und unsere Schuld vor ihm darüber
eine Zeitlang vergessen können, und die Welt ist so furchtbar, daß wir an Gott
deswegen oft verzweifeln möchten" (A. Köberle). „Die Welt redet zu uns wie
eine Offenbarung Gottes; sie starrt uns aber auch entgegen wie ein Rätsel
Gottes"
(Ph. Bachmann). Daher auch die Zwiespältigkeit des allgemein-menschlichen Na-
turerlebens und sein Schwanken zwischen Naturverherrlichung und Naturverach-
tung, Naturseligkeit und Naturentfremdung, Naturvergötterung und Naturpessi-
mismus. Erst das Evangelium löst diese Spannung durch die Botschaft von der
Natur verklär un g, durch die Auflösung aller Dissonanzen, die in der Jetztzeit
die Natur durchzittern, durch das Eintreten der Weltvollendung und das Kommen
der Geistleiblichkeit.
7) Vgl. v. Gerdtell, a. a. 0. S. 13.
Die Sehnsucht der Schöpfung
65
kniet anbetend in knechtischer Furcht vor dem Geschöpf..Naturvergötte-
rung beginnt, wo die Gotteserkenntnis verschwindet" (Kroeker), und
der „Herr" wird beides: sowohl Sklave als auch Tyrann.
Durch die Schöpfung aber klingt, wie ein leises Gebet, ein schmerz-
volles Sehnen. Sie gleicht „mit ihrem von Wehmut angehauchten Zauber
einer Braut, die, schon ganz geschmückt für die Hochzeitsstunde, eben an
dem dazu bestimmten Tage den Bräutigam hat sterben sehen. Da steht
sie nun, noch den frischen Kranz auf dem Haupt, im Brautschmuck; aber
ihre Augen sind voll Tränen".')
Und doch ist sie nicht ohne Hoffnung ihrem Seufzen unterstellt
(Röm. 8, 20). Einer gefangenen, aber harrenden Jungfrau gleich, die am
Gestade des Meeres mit erhobenem Haupte nach dem Befreier aus
fernem Lande ausspät, so sehnt sie „in hochgespannter Erwartung" ihre
Erlösung aus der Knechtschaft der Nichtigkeit herbei') „Wir wissen, daß
die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen
liegt bis jetzt" (Röm. 8, 22).
Was aber soll sie denn gebären? — Den neuen Himmel und die
neue Erde!
Dann aber wird all ihre Sehnsucht gestillt, und ihr stummes Gebet
wird erhört sein. „An jenem Tage, da werde ich erhören, spricht der
HErr.
Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören.
und
die Erde wird erhören das Korn und den Most, und sie, sie werden
Jisreel
erhören" (Hosea 2, 21; 22 Elb.).
Aber gerade der Erde Leid dient mit zur Erlösung des Menschen.
Denn
gerade dadurch, daß sie ihm das nicht bieten kann, was er von ihr
erwartet,
löst sie ihn selber von seinen falschen Hoffnungen und nährt
seine
Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese. So sollen seine Ent-
täuschungen
am Irdischen den Menschen frei zu machen helfen für das
Verlangen
nach dem Himmlischen, damit er am Ende das Bekenntnis
ablegen kann: „Siehe, zum Heile ward mir bitteres Leid" (Jes. 38, 17 M.).
8) Schelling in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung"
(s. C. A. Flügge, Der Schriftforscher, 5. Aufl., Kassel, Heft 13, S. 7).
.) Röm. 8, 19. Das mit „ängstliches Harren" (Luther) wiedergegebene grie-
chische Wort apokaradokia bedeutet eigentlich ein (durch griechisch apo) ver-
stärktes Ausspähen mit erhobenem Haupte (kara = Haupt). Paulus vergleicht
die Schöpfung einer menschlichen Gestalt, die in hochgespannter Erwartung Aus-
schau hält — ein sinnreiches Motiv für eine künstlerische Darstellung der Hoff-
nung.
5 sauer, Das Morgenrot der WelterliiEung
66
Das Gericht über die Schlange
Das Ge ri cht üb er die Schlange. Am deutlichsten zeigt sich
das Frührot des Heils in dem Urteilsspruch über die Schlange (1. Mose
3, 15). Hier beweist das „Urevangelium", wie die durch das Dunkel des
Zornes hindurchstrahlende Gnade den Fluch über die Schlange zur Ver-
heißung für den Menschen gestaltet hat. In dem Augenblick, wo der
Sünder, auf das Strafurteil wartend, als Angeklagter vor Gott stand,
konnte ihm natürlich keine u n mittelbare Verheißung gegeben werden.
Dennoch mußte ihm, dem Hörenden und Zitternden, das Gerichtsurteil
des Verderbens über seinen Verderber zum Hoffnungsstrahl für ihn
selber werden. Zwar war also „die Vorderseite des Urevangeliums Ge-
richt; aber die Rückseite bedeutete Verheißung für die Menschheit."
Zunächst ist jedoch der Sinn der Weissagung noch dunkel; denn
wenn Satan durch die Schlange dargestellt war, so konnte der Schlangen-
„same” doch nichts anderes sein als die Gesamtheit aller dämonischen
und menschlichen Wesen, die, als gottfeindliche „Otternbrut" (Matth.
3, 7; 12, 34; 23, 33), auf der Seite des Teufels stehen würden — also nicht
ein einzelne r, sondern eine Viel heit von Wesen. Dann aber for-
derte die Harmonie der gleichlaufenden Gegenüberstellung, daß auch der
Weibessame nicht nur eine Einzelperson, sondern ebenfalls eine V i e 1 -
heit von Nachkommen sei, nämlich die Gesamtheit aller derer, die sich
gläubig
auf den Boden der dem Weibe gegebenen Verheißung stellen
würden.
Nur i n direkt konnten die ersten Menschen ahnen, daß auch
die
Nachkommenschaft des Weibes dereinst in einer Einzelpersönlichkeit
gipfeln
würde; denn wenn es in dem Schlußsatz der Weissagung heißt,
daß
der Weibessame nicht nur dem Schlangensamen-. sondern geradezu
dessen
Haupt, der Schlange selbst, den Kopf zertreten werde, so ließ sich
daraus
unter Umständen die Erkenntnis gewinnen, daß auch er selbst
einst
in einem Haupt, einer Einzelperson, seinen Gipfelpunkt erreichen
werde.
Erst heute sehen wir, rückwärts schauend und belehrt durch die Aus-
legung
späterer Weissagungen und Erfüllungen (bes. Jes. 7, 14; Matth.
1,
21-23; Micha 5, 2; Gal. 4, 4), daß Gott hier zum ersten Male — wenn
auch
nicht ausschließlich, so doch einschließlich, ja vornehmlich — von
Christo,
seinem Sohne, gesprochen hat (Röm. 16, 20; 1. Joh. 3, 8 b). Dieser
ist,
als der Mittelpunkt der Menschheit, zugleich Zentrum des Weibes-
samens.
Erst von hier aus verstehen wir auch, warum Gott nicht von
einem
„Mannes"samen, sondern von einem „Weibes"samen gesprochen
Das
Urevangelium
67
hat (vgl. Matth. 1, 18), und gleichzeitig eröffnet dies Weissagungswort
vom Fersenstich und vom Kopfzertreten jene wundersame Reihe von
göttlichen Aussprüchen, welche „die für Christus bestimmten Leiden')
und seine darauffolgenden Verherrlichungen") im voraus bezeugten
(1. Petr. 1, 11). Der Doppelcharakter aller späteren prophetischen Per-
spektive — nämlich das erste und zweite Kommen Christi in einem
Bilde zusammenzuschauen (z. B. Jes. 61, 1-3 vgl. Luk. 4, 17-20) — ist
somit schon hier vorhanden; und in diesem Sinne ist das Urevangelium,
nicht nur die Urwurzel, sondern auch das Urbild aller Messiasprophetie.
So ist gleich das erste Verheißungswort das umfassendste und aller-
tiefste. Die ganze Heilsgeschichte und Heilsordnung ist in ihm verborgen.
„Allgemein, unbestimmt, dunkel, wie die Urzeit, der es angehört, wie
eine Ehrfurcht gebietende Sphinx vor den Trümmern eines geheimnis-
vollen Tempels, liegt es, wunderbar und heilig, an der Schwelle des ver-
lorenen Paradieses. Erst spät") beginnt in der israelitischen Prophetie
seine Lösung anzudämmern. Aber erst der Sohn der Maria, der Jungfrau,
der für uns alle den Fersenstich der Schlange erduldete, um ihr den Kopf
zu zertreten für uns alle: erst e r hat dies für alle Heiligen und Prophe-
ten allzu schwere") Rätsel dieser Sphinx gelöst, indem er es erfiillt hat."
Erst der Höhepunkt der Verheißung — der Immanuel selber — hat den
lnhall der Verheißung ans Licht gestellt. „Erst das Neue Testament ist
der Schlüssel zu dieser Hieroglyphe des Alten Testaments; erst das
Evangelium ist die Auslegung des Urevangeliums."
Auf diese erste Ankündigung der Erlösung folgte alsbald
Die Bekleidung der Menschen mit Tierfellen. Zum
erstenmal tritt ein blutiger Tod eines unschuldigen Wesens zugunsten
des gefallenen Menschen ein. Der Grundsatz des Opfers wird aufge-
richtet (1. Mose 3, 21).1 Und wie die unzureichenden Feigenblätter Aus-
10) Vgl. den „Fersenstich".
11) Vgl. das „Kopfzertreten".
1') Erst in der Immanuelsweissagung des Jesaja (Jes. 7,14 vgl. Micha 5, 2).
also
um 700 v. Chr., d. h. über 3500 Jahre nach der ersten Verkündigung des Ur-
evangeliums
selbst (um 4200 v. Chr.).
") Matth. 13, 17; 1. Petr. 1,10-12.
14) Ebenso erklären Franz Delitzsch a. a. 0. S. 192 f.), v. Hofmann, Keil, Haar-
heck
(Bibl. Glaubenslehre, Elberfeld 1930, S. 98), W. Vischer (Das Christuszeug-
nis
des Alten Testaments, München 1935, S.82).
5•
68
Die Einsetzung des Opfers
druck und Anfang aller menschlichen Seibsierlösungsversuche gewesen
waren, so sind nun die dem göttlichen Wort glaubenden und daraufhin
von Gott selbst um den Preis eines unschuldig vergossenen Blutes be-
kleideten ersten Menschen das Urbild aller derer, die sich im Glauben
an das Opfer des Lammes Gottes (Joh. 1, 29) haben umhüllen lassen mit
den Gewändern des Heils und dem Schmuck ewiger Reinheit und Heilig-
keit (Jes. 61, 10; Matth. 22, 11; 12; Kot. 3, 12; Gal. 3, 27).") Damit aber
wird jene Bekleidung am Anfang der Menschheitsgeschichte eine Sinn-
bildliche Weissagung auf die Mitte der Heilsgeschichte, auf das Kreuz
von Golgatha, und zugleich ein Hinweis auf das selige E n d e, wenn
Gott
einst seine Erwählten bekleidet haben wird mit dem neuen Auf-
erstehungsleibe
(Phil. 3, 20; 21; 2. Kor. 5, 2-4; 1. Joh. 3, 2) und dem hoch-
zeitlichen
Kleid der Verherrlichung (Off. 19, 8).
Die Austreibung aus dem Paradiese. Aber nur außer-
halb
des Paradieses konnte der Mensch sein Paradies wiederfinden. Denn
Sünde
ist Trennung von Gott. Gott aber ist der Urquell alles Lebens.
Also
ist Sünde Trennung vom Leben, das heißt geist-seelisch-leiblicher
Tod
(Röm. 6, 23).
Soll aber dennoch eine Erlösung bewirkt werden können, so muß die
Sünde
eine Sühnung finden, und diese muß, um der Gerechtigkeit willen,
der
Schuld entsprechen, also ebenfalls in der Trennung vom Schöpfer
und
Leben, das heißt im Tode bestehen (Hebr. 9, 22). Nur so kann das
wahre
Leben wiederhergestellt werden. Die Erlösung muß darin be-
stehen,
daß der Tod, dieser große Feind des Menschen, zum Mittel seiner
Errettung
gemacht wird (4. Mose 21, 6; 9; Joh. 3, 14), und das, was die
Strafe
der Sünde ist, muß zugleich Ausweg aus der Sünde werden (vgl.
1.
Sam. 17, 51). Nur durch den Tod kann dem Tode der „Tod" bereitet
werden.")
Dann aber muß ein Sterben in der Menschheit überhaupt möglich
sein,
und auch daher die Notwendigkeit einer Austreibung aus dem
Paradiese
und eines Abgeschnittenwerdens der sündigen Menschheit
NOM
Lebensbaum (1. Mose 3, 13; 24). Ein weiteres Verbleiben im Para-
diese
und eine fortgesetzte Verjüngung seiner äußeren Lebenskraft hätte
") Ebenso Franz Delitzsch, a. a. 0. S. 192 f., v. Hofmann u. a.
") So hat Christus „durch seinen Tod" dem die Macht genommen, „der die
Gewalt
des Todes hat, dem Teufel" (Hebr. 2, 14). Sein Tod am Kreuze hat die
Feindschaft
„getötet" (Eph. 2, 16).
69 Die Austreibung aus dem
Paradiese
für den Menschen nichts anderes bedeutet als die Verewigung sein
Sünde, seine Verurteilung zur Unerlösbarkeit und damit ein nie au
hörendes Verderben. Eine leibliche Unsterblichkeit des Sünders wät
ein ewiges Sterben seiner Seele und das Paradies eine Hölle gewordei
Darum ist die Ausweisung aus dem Garten, so negativ sie auch scheine
rnag, dennoch positiv in ihrem Ziel. In allem Nehmen war Gott ar
Geben. Er überwies den Sünder dem leiblichen Tode, um ihn aus der
ewigen Tode zu retten; und so ist der Akt des Gerichts zugleich ein
Gnadenhandlung erlösender Liebe.
So hatte sich dreifach die Tür des Paradieses geschlossen, im Gerich
über den Mann, das Weib und die Schöpfung; aber dreifach hatte siel
auch das Tor der Erlösung geöffnet:
als Verheißung des Heils — im Urevangelium,
als Vorausschaltung des Heils — in der neuen Bekleidung dei
ersten Menschen und
als Ermöglichung des Heils — in ihrer Ausweisung aus dem
Paradiese.
Dreifach ist aber auch der innere Besitz, den der Mensch, nach dem
Fall, auf den Weg seiner Geschichte mitnahm:
im Blick auf die Vergangenheit — die wehmütige Erinnerung,
die noch Jahrtausende später den geschichtlichen Hintergrund und
äußersten Saum aller Völkerkunde vom verlorenen Paradiese
bildet;
im Blick auf die Gegenwart — den zuversichtlichen Glauben,
der auf den Felsen und Stern der im Urevangelium gegebenen
Verheißung schaut') und
17) Schon Adam glaubte an das Urevangelium vorn kommenden Weibessamen
(1.
Mose 3, 15). Dies beweist der Name Eva (hebräisch Chawwa, Leben), den er
seinem
Weibe (Ischa, Männin, 1. Mose 2, 23) sofort nach der Urverheißung, gerade
unmittelbar
vor der Austreibung aus dem Paradiese gab (1. Mose 3, 20, Zusam-
menhang).
„Im Tode versunken hat er seinem Weibe dennoch einen so stolzen
Namen
gegeben" (Calvin) und darin seinen Glauben an die Überwindung des
Todes
durch das Leben zum Ausdruck gebracht. So war es „eine Glaubenstat,
daß
Adam sein Weib Eva nennt" (Franz Delitzsch), und der neue Name seines
Weibes
war für den Menschen fortan das „Merkwort der verheißenen Gottes-
gnade"
(mnemosymon gratiae Dei promissae, Melanchthon), Oder wie Luther es
vom
Urevangelium in seiner Art sagt: ,,Daran glaubt Adam, davon er zum Chri-
sten
und selig geworden ist von seinem Fall." — Daß auch Eva sich glaubend auf
den
Boden des Verheißungswortes stellte, beweist ihr Ausspruch 1. Mose 4, 1.
70
Die Sehnsucht der Menschheit
im Blick auf die Zukunft — die hoffende Sehnsucht, gleichsam
als Tochter aus Erinnerung und Glauben geboren. Und nun schwebt
dies Sehnen dem Wanderer wie ein himmlischer Engel auf dem
Weg in der Wüste voran. Es zeigt ihm Oasen im Sande der Dürre,
belebt seine Kraft, beflügelt seine Schritte und lenkt fröhlich seinen
Blick auf das Ziel:
„Selig sind, die das Heimweh haben,
denn sie sollen nach Hause kommen.`•18)
18) Jung-Stilling.
4. K a p i t e 1: Zwei Menschheitswege
71
Der neue Zeitabschnitt trug ein besonderes Gepräge. Sein Haupt-
zweck war, offenbar zu machen, was die Sünde in der Menschennatur
eigentlich bewirkt hatte. Darum war er von drei leitenden Grundsätzen
beherrscht; er vollzog sich
1. ohne besondere grundsätzliche Befehlseinrichtungen Gottes
(lies 1. Mose 3, 14-19),
2. in fast lediglicher Beschränkung der Offenbarung auf das
Zeugnis von Natur, Gewissen und Geschichte') und
3. ohne grundsätzliche, irdische Kontroll- bzw. Strafinstitutionen
für den Sünder für den Fall seines Ungehorsams.
In der Paradieseszeit hatte es Verbot und Gebot gegeben (1. Mose
2,
16; 17). Dasselbe war in allen späteren Haushaltungen der Fall. Nur
hier
in der Zeit zwischen Adam und Noah, als der einzigen derartigen
Periode
im gesamten göttlichen Heilsplan, hatte die Menschheit grund-
sätzliche
Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Keine Obrigkeit
und
keine Regierungsgewalt waren von Gott eingesetzt, um den Sünder
in
der Selbstoffenbarung seiner Schlechtigkeit einzuschränken. Der
Mensch
sollte eben ungehinderte Gelegenheit bekommen, zu zeigen, was
er
leisten konnte, und zu offenbaren, was er werden würde, wenn er sich
"frei"
entwickelte. Damit aber wird dieser zweite Zeitabschnitt des
1) Man hat darum diesen Zeitabschnitt das „Zeitalter des menschlichen. Ge-
wissens"
genannt. Da aber das Gewissen nicht etwas dieser Haushaltung aus-
schließlich
Eigentümliches ist, sondern auch in allen späteren Heilsperioden weiter-
besteht
(vgl. Röm. 2, 15; 14,22; 1. Petr. 3, 16), während das Fehlen aller besonde-
ren
Anordnungen und grundsätzlichen Kontroll- bzw. Strafeinrichtungen Gottes
das
eigentlich Charakteristische dieser Zeit ist, erscheint der Name „Zeitabschnitt
der
Freiheit" schon wesentlich treffender. Da jedoch „Freiheit" ein viel zu idealer
Begriff
ist, ist „Zeitabschnitt der menschlichen Selbstbestimmung" wohl die noch
passendere
Bezeichnung. Und da Gott in jener Zeit nicht nur durch das Zeugnis
des
Gewissens, sondern durch die drei fache Offenbarung in Natur, Gewissen
und
Geschichte sich dem Menschen kundtat, wäre die Bezeichnung „Zeitabschnitt
der
allgemeinen Gottesoffenbarung" wohl die allerbeste.
Kains geistig-religiöse Natur
72
Heilsplans zum „Zeitabschnitt der menschlichen Selbstbestimmung",
oder, um mit Delitzsch zu reden, zur Zeit der „Freiheitsprobe" des.
Menschengeschlechts. Das Ende aber ist — die Sintflut!
Schöpfer der vorsintflutlichen Kultur ist Kain. Zugleich ist er Urbild
und Grundform der ganzen, aus ihm hervorkommenden Menschheits-
geschichte, sofern diese sich in Loslösung von Gott und in innerer Ge-
meinschaftslosigkeit in bezug auf den Höchsten entwickelt.
I. Kains geistig-religiöse Natur
Kain war nicht ein Vertreter religiöser Gleichgültigkeit oder gar
Gottesleugnung. Er brachte vielmehr Gott ein Opfer dar und „brannte"')
vor Neid, als er Abels, aber nicht seine Gabe anerkannt sah. Aber er
war, weil ihm die innere Frömmigkeit fehlte, trotz seines äußeren Gottes-
dienstes, der erste Mensch, der „aus dem Bösen" war (1. Joh. 3, 12).
Und aus der falschen Gesinnung des Opfernden ergab sich von selbst
ein falscher Inhalt seines Opfers. Während Abel sein Erstes und Bestes
brachte (1. Mose 4, 4), opferte Kain kein Erstlingsopfer, sondern das
„Erstebeste”, ein Irgend-Etwas, das er gerade fand. Und während Abel
ein blutiges Opfer darbrachte und damit die Todeswürdigkeit seiner
Sünde anerkannte,3) die nur durch das stellvertretende Sterben eines
unschuldigen Opfers vor Gott zugedeckt werden konnte, brachte Kain
einen lediglichen Ausdruck seiner Abhängigkeit und Dankbezeugung dar
und als diesen noch dazu ein selbsterarbeitetes Erzeugnis der eigenen
Kraft') Damit aber wird er zum Vorbild aller derer, die es wagen, dem
Heiligtum Gottes ohne Blutvergießen zu nahen (Hebr. 9, 22), die sich
wohl als ein abhängiges Geschöpf, nicht aber als todeswürdigen Sünder
bekennen.
Und von nun an gehen diese zwei „Wege" durch die Menschheit
hindurch:
auf der einen Seite d e r „W e g Kain s" (Jud. 11): die fleisch-
liche Religiosität und der eigenwillige Gottesdienst, die ichzufrie-
dene Werkgerechtigkeit und die ungebeugte Se/bsterlösung, das
3) 1. Mose 4,5 wörtlich: „Da brannte es in Kain." „Es wurde dem Kain glü-
hend."
3) Wohl im Hinblick auf die göttliche Einsetzung des Opfers bei der Beklei-
dung der ersten Menschen mit Tierfellen (1. Mose 3, 21).
4) Vgl. Franz Delitzsch, a. a. O. S. 200 f. Ebenso erklärt G. Menken.
Kains politisch-kulturelle Bedeutung
73
Vertrauen auf sich selbst und die Verwerfung der Stellvertretung,
— dieser „Idealismus" der eigenen Kraft, diese Theologie des
ersten Mörders, dieser "Glaube" des Schiangensamens (vgl. Jak.
2, 19);
auf der andern Seite aber d e r „W e g" A b els: die demütige
Anerkennung der Todeswürdigkeit der Sünde, das Vertrauen des
Schuldigen auf das von Gott selbst gestellte Opfer, das Erdulden
von Verfolgung um des ewigen Zieles willen, die Erwartung des
Triumphes der Gotteserlösung des Weibessamens.
Das Ende aber wird umgekehrt dem Anfang entsprechen: die Linie
des getöteten Abel wird zum ewigen Leben gelangen (Hebr. 11,40; 4);
aber Kains Weg wird untergehen. Die höchste Vollendung von „Abel"
ist Christus und in ihm die Menschwerdung des heiligen Gottes; die
höchste Verstiegenheit „Kains" aber ist der Antichrist und in ihm die
Selbstvergottung des fluchbeladenen Sünders (2. Thess. 2, 4). Darum
endet der Weg des einen im himmlischen Jerusalem (Hebr. 12, 22-24),
der des andern aber im Feuersee (Off. 19, 20).
Und wie der erste „Krieg" in der Menschheit gleichsam ein Reli-
gionskrieg gewesen war (1. Mose 4), so wird es — vor wie nach dem
irdischen Gottesreich der Endzeit — auch der letzte sein (Off. 16, 16; 19,
19 — Off. 20, 8; 9). Dann aber wird sich das göttliche Dulden erheben
zu frohlockender Siegesgewalt, und Abels Glaube wird triumphieren über
Kains Religion.
II. Kains politisch-kulturelle Bedeutung
Mit seinem Grundsatz der Selbsterlösung wurde Kain der Anfänger
aller
gottfernen Menschheitsentwicklung. Er, der nach dem göttlichen
Strafurteil
„unstet und flüchtig" sein sollte (1. Mose 4, 12), stemmt sich
nun
eigenwillig gegen den Fluch und wird, in trotzigstem Widerspruch
gegen
das göttliche Wort, sogar der aller erste Mensch, der eine feste
Niederlassung,
eine „Stadt", baut (1. Mose 4, 17).
Damit ist die Grundrichtung aller ferneren Menschheitsentwicklung,
sofern
sie von Gott wegführt, gegeben: Überwindung des Fluches auf
dem
Wege gottgelöster Kultur, Zurückgewinnung des Paradieses ohne
das
Erlebnis der Erlösung, Zusammenballung der Fleischeskraft ohne
Anerkennung
der Gottesherrschaft und also Selbsterlösung der Mensch-
heit
unter Ausschaltung der Gottheit.
74
Biblische Lebens- und Kulturbejahung
Bezeichnend hierfür ist schon der Name dieser ersten menschlichen
Stadt: „Henoch", „Einweihung", Neuanfang, Umstellung alles Bisherigen,
Neubeginn eines eigenherrlichen, gegen Gott revoltierenden, gemein-
schaftlichen Kulturlebens (1. Mose 4, 17).
Damit aber tritt diese erste Stadt in Gegensatz zum Urevangelium.
Beide
sind Neuanfang nach dem Zusammenbruch. Aber dort war es der
Neubeginn
Gottes auf dem Wege der Erlösung; hier ist es der Neu-
anfang
der Menschheit auf dem Wege Gott ausschaltenden „Fortschritts".
An
sich sind Kulturerrungenschaften nichts Widergöttliches, sondern,
im
Gegenteil, gehören mit zum Paradiesesadel der Menschheit. Erfin-
dungen
und Entdeckungen, Wissenschaften und Künste, Verfeinerung
und
Veredelung, kurz, das Vorwärtsschreiten des Menschengeistes sind
durchaus
Gottes Wille. Sie sind Besitzergreifung der Erde durch das
Königsgeschlecht
der Menschheit (1. Mose 1, 28), Ausführung eines
Schöpferauftrags
durch Gottes geadelte Diener, gottgeordneter Herr-
scherdienst
zum Segen der Erdwelt. Und nur völliges Mißverstehen aller-
einfachster
Offenbarungsgesetze ist imstande, der Heiligen Schrift rück-
schrittliche
Denkart und Kulturfeindschaft vorzuwerfen. Nein, was die
Bibel
ablehnt, und was das „Kainitische" ist, ist nicht die Kultur an sich,
sondern
die Gottentfremdung von Millionen ihrer Vertreter, die Him-
melsferne
der Sünder, die Unwahrheit „religiösen" Scheinwesens, die
Rücksichtslosigkeit
gegen den Nächsten, der Geist des Hochmuts und
der
Rebellion, kurz, der Aufruhr gegen den Höchsten.
Und wie Ungebrochenheit und Trotz das kainitische Wesen nach
oben,
zu Gott, hin kennzeichnete, so Unterdrückung und Gewalttat nach
unten
und außen, zur Mitmenschheit, hin. Damit aber wird Kain, der •
Brudermörder,
zum ersten Vertreter des Religionskrie-
ges
und Krieges übe rhaupt, zum Urtypus aller Tyran-
nen
und Blutherren der Welt, zum Vater alles Massen-
mordgeistes aller brutalen Barbarei. Darum ist seine
Stadt auch der erste Grundstein aller sich von Gott lossagenden Welt-
reiche, sofern in ihnen der Geist des Tieres herrscht (vgl. Dan. 7, 2-8;
8, 3-7; Off. 13, 1; 2), der in vielem verhängnisvoll richtunggebende An-
lang der an Großartigem sonst so reichen Weltgeschichte, „durch welche
sich
die Offenbarungsgeschichte hindurchwindet wie das Wasser Siloah,
das
da stille geht (Jes. 8, 6). Von Bußtränen geht diese aus, über Bruder-
blut
erhebt sich jene. Dort entfaltet Gotteskraft den verheißenen Segen;
hier
ringt Menschenkraft vergeblich gegen den göttlichen Fluch".
Die kainitische Urkultur
75
III. Die herrschenden Grundzüge
der kainitischen Kulturwelt
„Gleichwie die Tage Noahs waren, also wird auch die Ankunft des
Menschensohnes sein" (Mattb. 24,37). Wie im Heilsplan die göttlichen
Grundsätze, einem Kreislauf gleich, am Ende zum Anfang zurückkehren,
so entsprechen auch in der Geschichte der Kultur die letzten Perioden
den ersten. Darum ist die Erforschung jener alten Vergangenheit zugleich
eine Botschaft für die spätere Zeit, und insonderheit ist die kainitische
Kulturwelt das keimhafte Urbild für die Weltlage der Endzeit.
Dies ist sie durch ihre folgenden sechs Grundzüge:5)
1. Schneller Fortschritt in allen mechanischen
K ünste n. Die entscheidende Geistesrichtung der vorsintflutlichen
Menschheit war der Versuch, das verlorene Paradies gleichsam durch ein
künstliches zu ersetzen. Schneller als bei den Sethiten vollzog sich der
„Aufstieg" bei den Kainiten; denn „die Kinder dieser Welt sind klüger
als die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht" (Luk. 16, 8). Durch Kain
kam das seßhafte Leben und der Städtebau auf, durch Jabal, den „Dahin-
wallenden",5) die Nomadenkultur. Tubalkain, der „Hämmerer", wurde
der Vater der Schmiedekunst und Jubal, der „Wallende",') der Schöpfer
der Musik. Alle drei letzteren waren Söhne Lamechs. So waren bald alle
drei Hauptstände der menschlichen Gesellschaft entstanden, der Nähr-
stand, Wehrstand und Lehrstand, der Gewerbetreibende, Krieger und
Geistesarbeiter, und zwar wurden gefördert
der Nährstand durch Jabal — die materielle Seite des Lebens,
der Wehrstand durch Tubalkain — die rauhe Seite des Lebens,
der Lehrstand durch Jubal — die geistige Seite des Lebens.
Als Metallarbeiter wurde Tubalkain der Begründer der „Industrie" und
überhaupt aller Arbeit in Erz und Eisen; und Jubal, der die Töne der
Laute zur „Wallung"7) Bringende, wurde der Schöpfer aller Entspan-
nungs- und Vergeistigungsversuche in Kunst und Musik. Lamech aber,
sein Vater, wurde der erste Vertreter der Dichtkunst')
2. Große Zunahme der Bevölkerung. „Die Menschen
begannen sich zu mehren" (1. Mose 6, 1). Schon Kain kann — zweifellos
5) Vgl. G. H. Pember, Die ersten Zeitalter der Erde, Leipzig, 5. Autl., S. 194
It.
5) Von hebräisch jabal, ursprünglich strömen, wallen.
Jubal heißt „Wallung".
Vgl. Lamechs Schwertlied: 1. Mose 4, 23; 24. — Der bedeutsamste Zeuge
der vorsintflutlichen Kultur ist die Arche N o ah s. Mit ihren Riesenmaßen
76
Große Zunahme der Bevölkerung
in höherem Alter') — eine „Stadt"') bauen (1. Mose 4, 17).") Dies ist um
so weniger erstaunlich, als die Lebenskraft der jungen Menschheit im
Anfang sehr stark gewesen sein muß.") Auch muß die Zahl der Kinder
— bei dem langen Leben der Eltern — viel größer gewesen sein als
später und, aus demselben Grunde, müssen auch viele Generationen
gleichzeitig nebeneinander gelebt haben.")
3. Nichtbeachtung des göttlichen Ehegesetzes.
Von Kains Nachkommenschaft werden drei Frauen erwähnt, während
dies im Geschlechtsregister Seths bei keiner einzigen der Fall ist. Die
Namen dieser drei kainitischen Frauen sind Ada („Schmuck", „Morgen-
oder „Schönheit"), Zilla (die ,,Schattige", vielleicht wegen ihres reichen,
(120 m lang, 20 m breit, 12 m hoch, 28 800 cbm Rauminhalt) ist sie geradezu
unse-
ren modernen Ozeanschiffen vergleichbar, wie ja auch sonst gerade die riesigsten
Bauten dem unvordenklichsten Altertum angehören (Pyramiden, Sphinx!). Im
Jahre 1609 hat der niederländische Mennonit Peter Jansen zu Hoorn in Holland
ein Schiff nach denselben Maßen bauen lassen (nur auf ein Drittel verklei-
nert: 1 Meter = 1 Fuß), und es stellte sich heraus, daß ein solches Schiff sich
zwar schwerfälliger bewegt, aber dafür ein Drittel L a s t mehr tragen kann
als ein gewöhnliches Schiff mit demselben Rauminhalt. Und zum Tragen — nicht
eigentlich zum Fahren — war ja die Arche bestimmt. — Arca (lateinisch)
Kasten.
9) Der Sohn „Henoch", den Kain während des Bauens bekam (1. Mose 4,17),
war offenbar nicht sein Erstgeborener. Auch bei den Sethiten sind nicht die
Erst-
geborenen, sondern die Träger der Geschichte (in diesem Fall die Vorfahren
Noahs) genannt. Dies beweisen die Zeugungsjahre. Denn „wie Adam nicht 130
Jahre lang ‚ehelos' war, so Seth nicht 105 und Methuschelah nicht 187 oder gar
Noah 500" (Krämer). Vgl. 1. Mose 5.
") Wohl zunächst einfach eine „feste Niederlassung".
11) Kains Weib war eine der 1. Mose 5, 4 erwähnten Töchter bzw. Enkelinnen
Adams (die Kain im Lande Nod ,.erkannte", nicht etwa erst dort „nahm"!). Solche
Verbindungen waren zunächst notwendig. Von einer „Geschwister"-Ehe zu reden,
ist schon deshalb nicht richtig, weil es in der allerersten Zeit der Menschheit
„Fa-
milien" überhaupt noch gar nicht gab und darum auch noch nicht die Besonder-
heit „geschwisterlicher" Liebe; denn da alle Glieder eines Grades sich noch
gleich
„nahe"standen, standen sie sich auch noch gleich „fern". Daher ist auch der Vor-
wurf der Unmoral dieser uranfänglichen Verbindungen hinfällig.
12) Schon bei einer durchschnittlichen Kinderzahl von nur 6 Kindern hätte
Kain im Alter von 400 Jahren weit über 100 000 Nachkommen gehabt!
13) Auch die Jetztzeit zeigt für die Gesamterde einen ungeheuren Bevölke-
rungszuwachs. So hat sich, nach Prof. Dr. Hennig („Geopolitik", Teubner, Leipzig
1928) die Menschenmenge der Erde seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts stark
verdoppelt (von ungefähr 900 Millionen auf etwa 1900 Millionen)!
Unsittlichkeit
und Unbußfertigkeit 77
sie verschattenden Haares) und Naama („Lieblichkeit"). Ihre Erwähnung,
bei den Kainiten deutet darauf hin, daß dort die Frauen stärker hervor-
traten als bei den Sethiten, und daß äußere Schönheit und sinnliche An-
ziehungskraft die Haupteigenschaften waren, die man an ihnen schätzte.
Lamech aber schließlich, der Siebente von Kain, übertrat ganz unver-
blümt das ursprüngliche Ehegesetz") und wurde der erste Vertreter der
Vielweiberei.
4. Zurückweisung der Bußpredigt des Glaubens.
Dennoch sandte Gott Zeugen in diese abtrünnige Welt mit dem Mahnruf
zur Buße und Umkehr. Aber auf diese hörte man nicht. Man achtete
weder in den Tagen des Enos auf den Zusammenschluß der
Frommen zu gemeinsamer Anbetung Jahwes des HErrn als des
Bundesgottes und Erlösers (1. Mose 4, 26),1b)
noch in den Tagen des Henoch. auf die Warnung dieses Propheten
vor dem kommenden Weltgericht (Jud. 14; 15; 1. Mose 5, 21-24;
Hebr. 11, 5; 6),
auch nicht auf Lamech, den Sethiten, der auf den verheißenen
„Tröster" und „Ruhebringer" (hebr. „Noah") wartete (1. Mose
5, 29),
und ebensowenig auf Noah, den „Prediger der Gerechtigkeit", der
120 Jahre lang wider sie zeugte (1. Mose 6, 3; 2. Petr. 2, 5).
Im Gegenteil, auch die Sethiten wurden allmählich vom Zeitgeist
überwältigt, und so kam es zuletzt zu einer allgemeinen
5. Verbindung des bekennenden Gottesvolkes mit
der Wel t. Die Kainiten werden darum, seit Lamcch, nicht weiter als
getrennter Stamm aufgeführt (1. Mose 4); und in der bald kommenden
Sintflut gehen sie alle — die Sethiten genau so wie die Kainiten — zu-
grunde. Nur Noah, der Zehnte von Adam, und seine drei Söhne werden
mit ihren Frauen gerettet (1. Petr. 3, 20).
Und doch war diese ganze, dem Untergang geweihte Welt des Eigen-
ruhms voll.
6. Selbstverherrlichung der Menschheit. Während
in Henoch, dem Siebenten (Jud. 14), die sethitische Frömmigkeit ihre
Höhe erreichte, war Lamech, der Siebente, der verkörperte Gipfel kaini-
tischer Rebellion. In ihm ist die Reihe der Kainiten an das selbstherr-
14) Matth. 19, 3-9.
19 Vgl. Anhang 1: Die Namen Gottes.
78
Selbstverherrlichung der Menschheit. Die Sintflut
liehe Ziel ihrer Entwicklung gelangt, und darum ist er auch im biblischen
Bericht der Abschluß der kainitischen Urgeschichte. An sich sind Kultur-
errungenschaften nichts Widergöttliches;") aber hier diente alles zur
Übertäubung des Gewissens.
Lamechs Lied ist „ein Triumphgesang auf die Erfindung des Schwer-
tes" (1. Mose 4, 23; 24). „Mit einer Mord t a t begann, mit einem Mord-
liede schließt die Geschichte der Kainiten. Im siebenten Gliede ist
alles vergessen; mit Musik, Gesellschaft, Üppigkeit und Pracht wird alles
übertäubt. Der Fluch der Einsamkeit ist in Stadtleben, der Fluch der
Unstetigkeit in Wanderlust, das böse Gewissen in Heldenmut verwan-
delt, der die Erinnerung an den Fluch des Ahnherrn nur zur Unterlage
seines eigenen, gotteslästerlichen Selbstgefühls macht (1. Mose 4, 24). So
ist alles Lust und Herrlichkeit, umschlungen und gekrönt von der Blume
menschlichen Witzes und der schaffenden Seelenkräfte: der Dichtkunst"
(Drechsler).11)
Zuletzt aber blieb der Höchste seine Antwort nicht schuldig, und
seine Antwort war — das Gericht. Nach über anderthalb Jahrtausenden
göttlicher Geduld,") in der zehnten Generation — zehn ist die Zahl der
Vollständigkeit und des Abschlusses einer vollendeten Entwicklung") -
vernichtete die Sintflut") die gottentfremdete, sündige Menschheit.
") Vgl. S. 74.
") Wenn mit den „Söhnen Gottes" von 1. Mose 6, 1; 2 gefallene Engel ge-
meint
sind (vgl. Hiob 1,6; 2, 1; 38, 7; Dan. 3, 25; 2. Petr. 2, 4; Jud. 6; 7), so sind
Okkultismus
und Spiritismus ebenfalls ein entscheidender Grundzug
der
kainitischen Kulturwelt. Diese Erklärung wird von den meisten vertreten,
z.
B. von Philo, Josephus, der Mehrzahl der Rabbinen, der Septuaginta, Kurtz,
Delitzsch,
Gunkel, König, Procksch, Pember. Andererseits deuten Augustinus,
Calvin,
J. P. Lange die Stelle auf Mischehen zwischen Sethiten und Kainiten. Eine
genauere
Besprechung überschreitet unseren Rahmen.
') Siehe 1. Mose 5.
") So war auch später Abraham der Zehnte von Noah, vgl, 1. Mose 11, 10-26.
20) Mittelhochdeutsch „sintfluot" = große Flut. — An Flutüberlieferungen in
der
Völkerwelt nennt Prof. Riem im Jahre 1925 nicht weniger als 35 Nachweise
und
268 eigentliche Berichte. „In diesen 268 Berichten tritt die Flut 77mal einfach
als
Flut auf, 80mal als Überschwemmung, 3mal als Schneefall, 58mal als Regen.
darunter
einmal als heißer Pechregen, 5mal als die Folge von Erdbeben; zweimal
kommt
Blut über die Erde, einmal wird die Erde durch eine Tränenflut über-
schwemmt,
und 16mal kommt der Sintbrand vor. 21mal erscheint der Regen-
bogen,
fast immer unter ausdrücklicher Betonung seiner versöhnenden Kraft"
(Riem,
Die Sintflut in Sage und Wissenschaft, Hamburg 1925).
79
5.
K a p i t e 1: Naturbund und Weltgeschichte
(Der Bund Gottes mit Noah)
Die Sintflut war beendet. Die „damalige Welt" war dahin (2. Petr.
3, 6). Eine neue Menschheitsperiode begann.
Gleich im Anfang wurden die Richtlinien für die Zukunft gegeben.
Der Bund Gottes mit Noah bildet die Grundlage aller kommenden
Natur-, Menschheits- und Heilsgeschichte.
I. Die Naturordnung
„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost
und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (1. Mose 8, 21; 22; 9, 11;
15). Eigenartig ist die Begründung: "Denn das Dichten und Trachten des
menschlichen Herzens ist böse von Jugend an." Also das, was soeben
noch Grund für die Verniditung gewesen war (1. Mose 6, 5!), wird nun-
mehr zum Hauptgrund für die Verschonung. Auch hier zeigt sich deutlich
die Notwendigkeit einer Unterscheidung der Haushaltungen. Sonst
glaubt man unter Umstiinden, „Widersprüche" zu sehen, die in Wirklich-
keit gar nicht vorhanden sind. In Wahrheit begann jetzt, nach der Flut,
die Zeit der göttlichen Geduld (vgl. Apg. 14, 15-17; 17, 30) und des
„Dahingehenlassens der Sünden unter der Nachsicht Gottes" (Röm. 3, 25
Elb.); und mit Noah, dem „Ruhebringer",') setzte für die sündige Mensch-
heit eine Jahrtausende lange Periode der „Ruhe" vom göttlichen Zorn ein.
Zugleich wird dem Menschen sein Königsrecht über die Erde be-
stätigt.
II. Die Herrschaftsordnung
Aber jetzt ist sein Verhältnis zur Natur, besonders zur Tierwelt,
nicht mehr das ursprünglich harmonische und rein sympathische, sondern
eine Beziehung mit Gewalttat, Unterdrückung und Widerstreit. Im Pa-
1) „Noah" kommt von dem Zeitwort „nuach" = "ruhen", z. B. 2. Mose 20,11;
5. Mose 5,14.
Die Einführung der menschlichen Obrigkeit
80
radiese hatte die geistige Majestät des irdischen Königs das Tier ge-
wissermaßen magisch gebunden; nun aber ist es eine Herrschaft mit
Furchtwirkung auf der einen und Scheu, ja lähmendem Schrecken (wört-
lich „Zusammenknicken") auf der andern Seite (1. Mose 9, 2). Und dazu
paßt auch das sicher schon früher von den Menschen sich selbst ange-
maßte, ihnen aber erst jetzt von Gott zugebilligte Recht, Tiere zu töten
und sie — ausgenommen ihr Blut') — zur Nahrung zu verwenden (1. Mose
9, 2-5).
Mit dieser Herrschaft des Menschen über die Natur verbindet sich
auch ein Herrschaftsrecht des Menschen über Mensdien.
III. Die bürgerliche Ordnung
„Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder durch Men-
schen vergossen werden" (1. Mose 9, 6). Damit wird für den Mörder
die Todesstrafe eingeführt. Dies aber schließt die Kontrolle des einzelnen
durch die Gesamtheit und die Einsetzung öffentlicher Gerichte und
Rechtszucht in sich und bedeutet nichts Geringeres als die Einführung
obrigkeitlicher Gemalten und damit die Grundlegung aller späteren
Staatenbildung (Röm. 13, 1-6; 1. Petr. 2, 13-17). Wenn aber die Todes-
strafe des Mörders mit der Gottesbildlichkeit des Ermordeten begründet
wird (1. Mose 9, 6), so zeigt dies, daß die Ausübung der Justiz auf der
Grundlage des menschlichen Gottesbildes und folglich des geistigen und
geistlichen Adels der Menschheit erfolgen solle, daß somit die Obrigkeit
nicht auf brutaler Gewalt, sondern auf der Anerkennung des göttlichen
Naturrechts in der menschlichen Gesellschaft beruhen müsse. Nur so
wird sie Vertreterin des Rechts und „Dienerin Gottes" zum Wohl ihrer
Untertanen (Röm. 13, 4).
Diese Einsetzung menschlicher Obrigkeit war aber zugleich eine not-
wendige Ergänzung zu der Verschonung der Menschheit vor nochmaligen)
Flutgericht. Denn wenn Gott, mit Rücksicht auf die angeborene Sünd-
haftigkeit des Menschen, hinfort kein Vertilgungsgericht mehr wie die
2) An den Bund Gottes mit Noah knüpfte die rabbinische überlieferung die
Lehre von den sieben noachischen Geboten an, die man als für alle Menschen,
auch die Nichtjuden, verbindlich betrachtete (Verbot von Gotteslästerung, G ö t-
z e n d i e n s t, Totschlag, Raub, B 1 u t s c h a n d e, Ungehorsam gegen die
Obrig-
keit, B 1 u t g e n u ß). Diese liegen — besonders die drei gesperrt gedruckten
-
der Brüderberatung in Jerusalem (Apg. 15, besonders Vers 20; 21) zugrunde.
Die
Heilsordnung
81
Flut über ihn kommen lassen wollte, so mußte er dem überhand-
nehmen der Sünde durch Einführung von Ordnung und Recht einen
Damm setzen und somit den Grund legen zu einer geordneten, bürger-
lichen und staatlichen Entwicklung. So aber gehören Naturordnung,
Herrschaftsordnung und bürgerliche Ordnung zusammen. Möglich jedoch
wurden sie erst durch das Vierte:
IV. Die Heilsordnung
„Noah baute Jahwe (Jehova) einen Altar und opferte Brandopfer
auf dem Altar; und Jahwe sprach in seinem Herzen: „Nicht mehr will
ich hinfort den Erdboden verfluchen um des Menschen willen" (1. Mose
8, 20; 21). Unverkennbar ist hier der Zusammenhang zwischen Opfer
und Naturbund gegeben, und zwar so, daß das Opfer die Grundlage des
Naturbundes ist.
Drei Dinge sind vor allem zu beachten: der Name Jahwe (Jehova),
der Altar und das Brandopfer. "Jahwe" ist der Bundesname des Höch-
sten, der Name des Gottes der Heilsgeschichte und Erlösung?) Zu ihm
müssen sich die Herzen der Frommen erheben. Zum Himmel, zur „Höhe"
müssen ihre Opfer und Gebete emporsteigen, wenn sie vor seinen Thron
gelangen sollen. Um den Opfern diese Richtung nach „oben" zu geben,
werden von nun an auf Erden erhöhte Stätten und „Altäre" errichtet,
von denen aus sie im Feuer himmelwärts „aufsteigen" sollen. Zwar ist
die Gegenwart Gottes überall und nicht durch die Grenzen eines Oben
und Unten beschränkt (Ps. 139!); aber in der Sprache der Anbetung wird
die Jenseitigkeit Gottes symbolisch durch raumhafte Vorstellungen ver-
anschaulicht, das geistig überlegene durch das räumliche Höherliegen,
das „Über"zeitliche und „über"räumliche durch das sinnhafte „Ober"-
räumliche. So wird denn an dieser Stelle zum ersten Male in der Bibel
ein „Altar" erwähnt und das Opfer „olah", d. h. das „Aufsteigende",
genannt') Die reinen Opfertiere selbst aber weisen — wie alle Opfer
von Anbeginn der Welt — auf das eine Opfer von Golgatha hin, das
Lamm ohne Fehl und ohne Flecken (1. Petr. 1, 19; 20), das in Wahrheit
die Grundlage all e r Bewahrung und Errettung der Welt ist.
3) Vgl. Anhang: „Die Namen Gottes."
4) Das Opfer Abels wird einfach ,,minchah", d. h. „Gabe", genannt (1. Mose
4,3 vgl. das Zeitwort manach = schenken).
6 Sauer, Das Morgenrot der Welterlösung
82
Das Bundeszeichen
Am deutlichsten aber leuchtet die Verbindung von Naturordnung
und Heilsordnung in dem Bundeszeichen auf, das der HErr, zum Symbol
seiner Gottestreue, in die Wolken gesetzt hat: dem Regenbogen'')
V. Das Bundeszeichen
Der Regenbogen ist „der farbige Glanz der hervorbrechenden Sonne
auf der abziehenden Wolkennacht, der Triumph der Sonne über die
Fluten" (J. P. Lange). Einer Himmelsbrücke gleich verbindet er die obere
Welt mit der unteren, und siebenfach erstrahlend — mit dem Grün des
Smaragds als der Farbe des Lebens') — bezeugt er den Bund zwischen
Schöpfer und Schöpfung.'") „Aufleuchtend auf dunklem, noch kurz zuvor
in Blitzen sich entladendem Grunde veranschaulicht er den Sieg der gött-
lichen Liebe über den finster-feurigen Zorn; entstanden aus der Wirkung
der Sonne auf das dunkle Gewölk versinnbildlicht er die Willigkeit des
Himmlischen, das Irdische zu durchwirken; ausgespannt zwischen Him-
mel und Erde verkündet er Frieden zwischen Gott und den Menschen,
den ganzen Gesichtskreis überspannend bezeugt er die allumfassende
Allgemeinheit des Gnadenbundes" (Delitzsch).8)
Damit aber wird er zum Sinnbild des Heils und der Erlösung über-
haupt und erscheint als solcher am Thron des HErrn als des Führers und
'Vollenders der Heilsgeschichte (Hes. 1, 28; Off. 4, 3). Und wie wir hie-
nieden stets nur einen halben Bogen in den Wolken erblicken — ein
Sinnbild zugleich aller Unvollkommenheit unseres jetzigen Erlösungs-
erlebens (1. Kor. 13, 9-12; 1. Joh. 3, 2) —, so werden wir einst, „rings
um den Thron", den vollen Bogen erkennen und die Treue des Bundes-
gottes in Vollendung und Herrlichkeit preisen (Hes. 1, 28; Off. 4, 3). So
aber wird der Regenbogen zum Natursymbol unserer ewigen Errettung.
So ist beim Regenbogen alles ein Sinnbild:
die Entstehungszeit — denn er entsteht bei der Wiederkehr der
Sonne (Hes. 1, 28 Luth.);
') Wie es scheint, hat es, nach 1. Mose 9, 12-17, vor der Sintflut noch keinen
Regenbogen gegeben. Die tellurischen Verhältnisse sind offenbar durch die Flut
gänzlich umgestaltet worden.
') Vgl. Off. 4,3 Der Smaragd ist grün. Grün ist die Farbe des Lebens.
7) 3 ist die Zahl Gottes, 4 die Zahl der Welt; 7 ist die Summe und Verbin-
dung der beiden.
8) A. a. 0. S. 277.
Die
Symbolik des Regenbogens
83
die Entstehungsart — denn er erstrahlt als Verklärung der Fin-
sternis durch das Licht (1. Mose 9, 14);
die Siebenzahl der Farben — denn sieben ist die Zahl des Bun-
des (z. B. 3. Mose 16,14 und oft);')
die Vorherrschaft des Grün — denn Grün ist die Farbe des
Lebens (Off. 4, 3);6)
die Bogen- (d. h. Brücken-)form — denn er versinnbildlicht die
Verbindung zwischen Schöpfer und Schöpfung (1. Mose 9, 12-17);
die weite Umspannung des Gesichtskreises — denn er zeigt die
Allumfassenheit des Gnadenbundes (1. Mose 9, 12; 15; „alles
Fleisch");
die ewig-himmlische Kreisform — denn so wird er zum Sinnbild
der göttlichen Vollkommenheit (Hes. 1, 28; Off. 4, 3).
Anmerkung und 7) siehe vorige Seite.
6*
84
6.
K a p i t e 1: Das heilsgeschichtliche Rassenprogramm für die Völkerwelt
(Der Segen Noahs)
Noahs Segen über Japhet und Sem und sein Fluch über Kanaan, den
Sohn
Hams, ist das nächste Ereignis von heilsgeschichtlicher Bedeutung.
Während
aber der Bund Gottes mit Noah die Grundlage der folgenden
Natur-,
Welt- und Heilsgeschichte war, ist sein Segen und Fluch ihr pro-
phetischer
Grundriß und ihr heilsgeschichtliches Rassenprogramm.
I.
Die Verfluchung und Segenlosigkeit der Hamiten
„Verflucht sei Kanaan; er sei ein Knecht aller Knechte unter seinen
Brüdern" (1. Mose 9, 25). Hier wird, aus Anlaß der schändlichen Sünde
Harns (Vers 22-24), in Kanaan, seinem Sohne, als ihrem Ahnherrn, die
Stammesgruppe der Kanaaniter verflucht und überhaupt die hamitische
Rasse der Segenlosigkeit einheimgegeben.
In schicksalsschwerster Weise hat die Weltgeschichte dieser Pro-
phetie entsprochen. Die Kanaaniter wurden in Palästina durch die
semitischen Juden, besonders durch Josua (Jos. 9, 21-27; Richt. 1, 28 bis
30; 33; 35) und Salomo (1. Kön. 9, 20; 21) unterjocht und in Syrien und
Nordafrika als „Phönizier" und „Karthager" von den japhetitischen
Persern, Griechen und Römern besiegt. Die anderen Hamiten aber,
denen zwar nicht der Fluch, wohl aber die Segenlosigkeit mit auf den
Weg gegeben war, haben — nach anfänglichen Gegenentwicklungen') -
immer wieder unter dem Joch der Unterdrückung zu seufzen gehabt,
besonders die Neger, letztere namentlich in Amerika seit der Einführung
der Sklaverei.2)
II. Das geistliche Erlösungsmittlertum de,r Semiten
Anders erging es Sem. Ihm wurde der herrlichste Segen zuteil. „Ge-
priesen sei Jahwe, der Gott Sems" (1. Mose 9, 26). Diese Form der Lob-
') Besonders in Nimrod, ferner den Phöniziern und Ägyptern. Näheres siehe
unten.
2) Erst nach dem Nordamerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) wurde in den
Vereinigten Staaten die Sklaverei abgeschafft. Doch herrscht sie noch heute in
großen Teilen Innerafrikas, besonders in den mohammedanischen Staaten.
Die Stellung der Semiten im Heilsplan
85
preisung, die den Segen nicht eigentlich als „Segen", sondern als Lob-
preis des segnenden Gottes ausspricht, hat, wie schon Luther bemerkt')
ihren Grund in der Höhe und Überschwenglichkeit der semitischen Ver-
heißung.
„Jahwe" (Jehova) ist „Sems Gott" — das heißt: Die semitische Rasse
ist der Träger seiner besonderen Offenbarung. Für Japhet ist Gott
„Elohim", der Schöpfer, Erhalter und Weltherr ,(1. Mose 9, 27); für Sem
aber ist er „Jahwe", der Bundesgott und Erlösen') Damit aber wird
Sem der Empfänger und Kanal seiner besonderen Erlösungsgnade, und
in seinem Geschlecht ist fortan die Verheißung des geistlichen Heils
konzentriert-
In Christo ist dann dieser Segen zur Vollendung gebracht. Denn er,
der Erlöser, stammt als „Sohn Davids" durch Abraham von Sem (Luk.
3, 36); wie er selbst im Johannesevangelium gesagt hat: „Das Heil kommt
von den Juden" (Joh. 4, 22), und wie auch sein größter Apostel bezeugt:
Der „edle Ölbaum" des Gottesreiches ist „ihr" Ölbaum (Röm. 11, 24 vgl.
Eph. 2, 11-22; 3, 6; Röm. 15, 27; Gal. 3, 9; 14). So aber ruht der Gottes-
tempel des Christentums auf dem Felsenfundament der den alttestament-
lichen Gottespropheten gegebenen Offenbarung (Mattb. 5, 17; 18; Joh.
10,
35b; Apg. 24, 14; 26, 22), und in Christo ist Sems Segen zum Welt-
evangelium
geworden.
III. Die politische und geistige Weltherrschaft der
Japhetiten (Indogermanen)
Japhets Segen besteht aus drei Teilen.
1. „Ausbreitung gebe Gott dem Ausbreiter" (1. Mose 9, 27).5) Damit
ist
Japhet, dein Vater der Meder") und Griechen') und folglich auch der
Perser
und Römer und überhaupt aller Indogermanen,8) eine besondere
3) propter excellentem benedictionem (Luther).
4) Vgl. Anhang: „Die Namen Gottes."
5) Oder: „Weit mache es Gott dem Weiten." Das Wortspiel zwischen „Er
mache
weit" (hebräisch japht) und dem Namen „Japhet" sollte in der Ober-
setzung
wiedergegeben werden.
6) Hebräisch „Madai", 1. Mose 10, 2.
7) Hebräisch „Jawan"; vgl. die griechische Selbstbezeichnung „Jonier" auf der
Westküste
von Kleinasien (1. Mose 10, 2).
8) Die Perser sind das Brudervolk der Nieder (Madai), die Römer sind
stammverwandt
mit den Griechen (Jawan); mit den Persern hängen die Inder
86
Die Weltherrschaft der Indogermanen
rräumliche und geistige Ausbreitung zugesichert. Das aber heißt: Nach
f
.dem Zeugnis der altlestamentlidzen Prophetie ist politische und geistige
Weltherrschaft das namentliche Vorrecht der Indogermanen. Sie sind
die Herrscherrasse in der Weltpolitik. So bestimmt es
das prophetische Rassenprogramm!
In überwältigender Weise hat die Weltgeschichte dazu die Erfüllung
gebracht. Zunächst allerdings verlief sie in umgekehrter Reihenfolge:
denn der sündige Mensch ist in dauernder Auflehnung gegen Gott.
Nicht Japhetiten, sondern Hamiten und Semiten waren im alten
Orient Jahrtausende hindurch die herrschenden Kulturvölker. Im Nil-
lande waren es die ha m i t i s c h e n Ägypter,') und am Euphrat und
Tigris (in Akkad und Sinear, Babel und Ninive) errichtete — nach
einer in Sumer vorangegangenen, grundlegenden Kulturschöpfung
— Nimrod der Kuschit, also ein Vertreter der h a m i t i s c h e n
Rasse, die in Kanaan „Knecht aller Knechte" sein sollte, als Erster sogar
cin Weltreich (1. Mose 10, 8-12), und in ihm gewann die Rasse der
Knechtschaft geradezu die Herrschaft.") Auch später, als die Macht der
Hamiten zurückging und anderen zuteil wurde, waren es immer noch
nicht sofort Japhetiten, sondern, nach dem Zeugnis der Geschichte und
der Schrift, erst Semiten, die die unmittelbaren Erben ihrer Weltherr-
schaft wurden.
Im Nillande blieben die hamitischen Ägypter, in Mesopotamien
wurden die semitischen Elarniter (1. Mose 14, 1-4; 10, 22) und — seit
Hammurabi — die Babylonier (um 1900) die Herren. Darin gelangten
in Babel die Kassiten und in Ägypten") die Hyksos zur Macht (um 1750).
(„Arier") und Germanen zusammen, mit den Römern die Romanen (Italiener,
Franzosen, Spanier usw.), mit allen weiterhin die Slawen und viele andere. Sie
alle heißen, zusammengenommen, „Indogermanen (Arier)".
9) Die Ägypter (hebräisch Mizraim) sind nach 1. Mose 10, 6 Hamiten (vgl.
Ps. 78, 51; 105, 23; 27). Sie selbst nannten sich Kernet. Den Übergang zu den
(hamitischen) Negern bildet die Nuba-Fulah-Rasse, die zwar sehr dunkelfarbig,
aber in ihren Gesichtszügen von den eigentlichen Negern verschieden ist.
") Nimrod war zwar, nach den genauen Worten des Textes, nicht der Er-
bauer der Stadt Babel (vgl. 1. Mose 11), wohl aber der Gründer des Weltreichs
Babel, indem er, auf der Grundlage der schon vorhandenen Städte, Babel, Erech,
Akkad und Kalne, von Sinear (Sumer?) als dem „Anfang" seines Reiches aus
seine Herrschaft nach Norden, d. h. Assur, hin erweitert hat (1. Mose 10, 8-12).
") Bis Pharao Jahmose (um 1600 v. Chr.).
Die Aufrichtung der indogermanischen Weltherrschaft
87
In Vorderasien folgten die Assyrer (um 1750-612) und die Neubaby-
lonier, letztere besonders unter Nebukadnezar. Aber dies alles waren
Semiten bzw. Hamite n, und schon waren fast zwei Jahrtausende
vergangen, seit Noah seine Weissagungen gesprochen hatte (um 2350
v. Chr.), und noch immer waren seine Völkerprophetien nicht vollständig
erfüllt.
Da endlich schlug die entscheidende Stunde der Japhetiten. Unter
Kores dem Perser traten die Indogermanen mit sieghafter Kraft auf den
Plan. Das semitische Babylon fiel (538); Belsazar, der Sohn und Vertreter
Nabunaids, wurde erschlagen, und die Japhetiten waren die Herren des
Orients. Nie ist es seitdem einem hamitischen oder semitischen Volke
gelungen, die indogermanische Weltherrschaft zu brechen. Die Eroberung
Babels und der Sieg des Indogermanen Kores, des „Hirten" und „Ge-
salbten" des HErrn (Jes. 45, 1; 44, 28), über Belsazar den Semiten, sowie
die schlichten Worte des Buches Daniel: „In derselben Nacht wurde
Belsazar, der König der Chaldäer, getötet" (Dan. 5, 30) umspannen ein
Ereignis von gewaltigster, weltgeschichtlicher Bedeutung: den entschei-
denden Zusammenbruch der harnifisch-semitischen Weltherrschaft und
die grundlegende Aufrichtung des arisch-japhetitischen Weltregiments.
Nur wenige Jahre später eroberte Kores' Nachfolger, Kambyses, auch
das hamitische Ägypten und richtete dort ebenfalls die indogermanische
Herrschaft auf (525). Zwar war auch das Perserreich nicht von dauern-
dem Bestand; doch wenn dann die Griechen (333 v. Chr.) und Römer
(bes. im 2. Jahrh. v. Chr.), die Germanen (476 n. Chr.) und Romanen sein
Erbe übernahmen, so blieb es, bei allem Wandel im einzelnen, doch stets
in japhetitischen Händen.
Fortan trugen die Indogermanen die Palme der Kultur; und wie sie
geographisch und staatlich die Erde beherrschten, so auch geistig und
kulturell. Während Sems Segen in höchster Z u s a m m e n f a s s u n g
aller geistlichen und heilsgeschichtlichen Kräfte bestand, war Japhets
Segen die umfassendste Ausdehnung aller geistigen und weitge-
schichtlichen Kräfte. Der Segen des einen war himmlisches Licht, der
Segen des andern war irdische Herrlichkeit.
Ihre Blüte aber verdankten die indogermanischen Völker dem Idealis-
mus ihrer Gesinnung: die Griechen ihrem Streben nach Schönheit") und
12) Vgl. die griechische Kunst.
88
Die geistliche Segnung der Indogermanen
'Wahrheit") die Römer ihrer Ehrfurcht vor Ordnung") und Recht und
die Germanen ihrem Festhalten an Freiheit und Treue. Durch dies alles
wurden sie geistig die Führer der Menschheit und die Pfleger und För-
derer aller höheren Kultur.
Aber auch geist lieh sollte Japhet zum Segen gelangen. Darum
heißt es:
2. „Und er wohne in den Zelten Sems" (1. Mose 9, 27). Da Sem
gerade soeben als der Kanal der Offenbarung bezeichnet worden war,
kann das Wohnen in seinen Zelten nichts anderes bedeuten als die An-
teilnahme an seinem Glauben und die Aufnahme der Japhetiten in die
Gemeinschaft seines geistlichen Heils.")
In der Tat, weniger zu hamitischen als vornehmlich zu japhetitischen
Völkern ist das Segensgut Sems im Evangelium gelangt (Gal. 3, 14).
Grundlegender Anfang dazu war das Traumgesicht des Petrus in
Joppe (Apg. 10, 9-17), das die Hinwegnahme der Zwischenwand zwi-
schen Juden und Heiden, die am Kreuze schon grundsätzlich vollzogen
worden war (Eph. 2, 14), nun auch geschichtlich an dem Römer Kornelius
zur Durchführung brachte; und so durfte gerade ein J a p h e t i t als
Erster aus den Nationen, ohne Anschluß an das nationale Israel, was
das volle Heil betrifft, eingehen in die Zelte Sems.
Richtungweisender Wendepunkt wurde dann weiter jenes andere
Gesicht des Paulus, in dem er in Troas einen mazedonischen Mann sah,
der ihm zurief: „Komm herüber und hilf uns!" (Apg. 16,9; 10.) Wer
weiß, wie die Welt- und Kirchengeschichte verlaufen wäre, wenn damals
der große Apostel, statt nach Westen, nach Osten, nach Indien oder
China,") gesandt worden wäre! Aber gerade dies ist die unvergleichliche
Bedeutung jenes Traumgesichts in Troas, daß mit ihm die Stunde für die
Überbringung der l-leilsbotschaft nach Europa geschlagen hatte, so daß
nunmehr das japhetitische Europa zum Hauptschauplatz der Wunder des
Evangeliums und zur Hochburg der Himmelreichsbotschaft bestimmt
13) Vgl. die griechische Philosophie.
14) Vgl. den römischen Staat,
") So schon Hieronymus, Calvin, Luther und fast alle Kirchenväter, ferner
Lange, Keil, Delitzsch, Dächsel u. a.
") Ungefähr gerade in der Zeit, in der Paulus seine Missionsreisen machte,
schickte ein wahrheitsuchender Kaiser von China, Ming-ti, eine Gesandtschaft
nach
Indien, worauf von dort aus der Buddhismus seinen Einzug in China hielt (61--
67 n. Chr.).
Der Entscheidungskampf der Rassen
89
worden war, und jene nächtliche Stunde von Troas wurde die Stunde des
geistlichen Sonnenaufgangs für die abendländische Völkerwelt.
3. „Und Kanaan sei sein Knecht" (1. Mose 9, 27). Gigantisch ist um
die Erfüllung dieser Prophetie gerungen worden.
Zu den Nachkommen Kanaans gehören die Phönizier und Sidonier
(1. Mose 10, 15).") Sie sind gleichsam die Normannen des Altertums. Ihr
Küstenstrich im Nordosten von Palästina glich, dichtbevölkert, einer
ununterbrochenen Stadt. So begannen sie, schon um 1200, teils aus Aben-
teurerlust, teils aus Handelsinteressen, auswärtige Kolonien zu gründen,
besonders im westlichen Mittelmeer. Dort blühte in Nordafrika bald
das aristokratisch-kapitalistische Karthago („Neustadt") auf.
Zur selben Zeit entwickelte sich in Italien der römische Staat. Ein
Zusammenstoß war unvermeidlich. Er mußte mit der Vernichtung des
einen oder des andern Rivalen enden.
Der erste Krieg führte zur Eroberung Siziliens durch die Römer
(764-241 v. Chr.). Der zweite wurde bis aufs äußerste dramatisch (218
bis 201). Denn als die Karthager, unter der Führung des heldenhaften,
genialen Hannibal, über die Alpen in Italien einbrachen und in glänzen-
den Siegen am Ticinus (218), an der Trebia (218), am Trasimenischen
See (217) und vor allem bei Cannä (216) die Römerheere vernichteten
und Hannibal schon vor den Toren der Stadt Rom erwartet wurde, da
sah es allerdings so aus, als sollte das alte Prophetenwort: „Kanaan sei
dein Knecht", das durch Kores so glänzend erfüllt worden war (538), nun
doch noch zuschanden gemacht werden; denn eine Besiegung der japheti-
tischen Römer durch die phönizischen Karthager hätte nichts anderes
bedeutet als die Aufrichtung eines hamitischen Weltreichs.
Endlich aber fiel die Entscheidung. Bei Zama (südlich von Karthago)
stießen die Heere zusammen (202), und — Publius Cornelius Scipio, der
17) Daß die Kanaaniter, Phönizier und Karthager semitische Sprache und Kul-
tur hatten, widerlegt nicht ihre in 1. Mose 10, 15-19 bezeugte hamitische Her-
kunft. Sprachenverwandtschaft beweist niemals unbedingt Rassenverwandtschaft,
und umgekehrt; denn erstens ist die Sprachenverwirrung von Babel eine ge-
schichtliche Tatsache, und zweitens haben oft Völker im Verlaufe der Geschichte
durch Wanderungen usw. einen Sprachwechsel durchgemacht (z. B. im frühen
Mittelalter z. T. die Normannen, Langobarden, Franken). Und insonderheit die
Phönizier sind, nach ihren eigenen Aussagen, vom Indischen Ozean hergekommen
(Herodot I, 1 und VII, 89), mußten also durch mittelsemitisches Sprachgebiet
hin-
durch, bei dessen Durchquerung sie, im Laufe der Zeit, offenbar die semitische
90
Noah als Völkerprophet
Römer, blieb Sieger. Hätte Hannibal gesiegt, dann wäre vielleicht nie-
mals ein römisches Weltreich entstanden. Zugleich aber war in dein
Gegensatz Hannibal-Scipio der Rassenzusammenprall „Semito-Hamitis-
mus" und „Japhetismus" verkörpert. Denn semitisch war bei den Kar-
thagern die Sprache, Religion und Kultur, hamitisch ihre Rasse und ihr
Blut. Mit ihrer Besiegung war die politische Rassenrivalität für immer
entschieden. Daran konnten auch später nach Jahrhunderten weder der
1-lunnensturm (375-453 n. Chr.)18) noch der Arabersturm (711-732),")
weder der Mongolensturm (goldene Horde, Dschingischan, 13. Jahrh.)'")
noch die Türkenkriege') etwas ändern.
Mit
Nimrod begann, mit Hannibal endete das Drama der hamitischen
‚Weltmacht, und Scipios glänzender Sieg besiegelte endgültig das Werk
des Kores: die Aufrichtung der Weltherrschaft der japhetitischen Rasse.
„Kanaan sei dein Knecht" — das ist es, was gleichsam wie mit flammen-
den Lettern über dem Schlachtfeld von Zama geschrieben stand.
So hat die Weltgeschichte in einzigartiger Weise der Prophetie recht
gegeben. Ihr Verlauf richtete sich genau nach dem festgesetzteji Plan.
Alle Gegenentwicklungen der Menschen waren zurückgeschlagen, und
Gott hatte recht behalten. Noah aber war sein Völkerprophet gewesen.
Die Namen seiner Söhne waren zu Symbolen und Wahrzeichen für
die Zukunft geworden. Die Nachkommen von Ham („Hitze") bewohn-
ten die heißen Länder; die Söhne von Japhet („Ausbreitung") breiteten
sich über die Erde aus, und die Geschlechter von Kanaan („Der Unter-
würfige")") mußten sich Japhet und Sem unterwerfen. Aber in der Linie
von Sem („Der Name") wurde der „Name" und das Wesen des Erlösers
geoffenbart, und in Jesus Christus, dem HErrn, der den „Namen über
alle Namen" trägt (Phil. 2, 9), wird der „Name" des Vaters nun auf ewig
verherrlicht (Joh. 12, 28; 17, 6; Phil. 2, 9-11).
Sprache angenommen haben (vgl. Krämer, Die biblische Urgeschichte, 1931,
S. 302).
18) Besonders Attila. Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden (bei Troyes),
451.
19) Sieg Karl Martells bei Tours und Poitiers (732).
") Schlacht bei Liegnitz (1241).
') Eroberung Konstantinopels (1453), Schlacht bei MoLics (Ungarn, 1526).
Belagerung Wiens (1683).
") Vgl. das stammverwandte Zeitwort in Richter 4, 23 („beugen, unter-
werfen").
91
7. K a p i t e l: Das babylonische Menschheitsgericht
aber der Menschheit lastet das babylonische Gericht. Alle Geistes-
und Kulturgeschichte steht unter dem Zeichen dieser zerschmetternden
Urkatastrophe. Vergeblich ringt die Welt gegen sie, ihren Bann mit
eigener Kraft zu überwinden.
1. Die urgeschichtliche Menschheitszersplitterung
Drei Beweggründe führten nach der Schrift zum babylonischen Turm-
bau: Trotz, Vereinigungswille und Ruhmsucht. Dreifach ist darum auch
das göttliche Gericht: Der nach „oben" stürmende Trotz wurde durch
das „Hernieder"fahren des HErrn (Vers 4, 5), der Wille zur Vereinigung
durch die Zerstreuung und Zersplitterung und der ruhmsüchtige Ehrgeiz
durch den Namen der Schande gerichtet. Fortan ist gerade d i e Stadt,
durch die man sich einen "Namen" machen wollte (1. Mose 11, 4) --
gerade in ihrem Namen! — ein Symbol der Niederlage; und Babel, die
„Wirrstadt", die Stadt der „Zermengung",I) ist schon als bloßer Orts-
name ein Beweis für die Ohnmacht des Sünders und die Zwecklosigkeit
aller Rebellion gegen Gott')
1) Zu Babel, „Balbel" vgl. hebräisch balal, „durcheinandermengen". Die stolze,
keilinschriftliche Deutung der Babylonier „Bab-ilu" = „Gottespforte" ist Volks-
etymologie und schon deshalb nicht stichhaltig, weil Schreibungen wie Bab-i/i
und
Bab-ilam vorkommen, so daß der Name nichts mit dem babylonischen Wort „ilu"
(hebräisch El, arabisch Allah), „Gott", zu tun haben kann. Dr. Pinches (Assyrio-
loge am Britischen Museum in London) glaubt, daß das Wort „Babel" lautnach-
ahmend ist ähnlich wie das englische Zeitwort ,.to babble" (babbeln, plappern).
vgl. französisch balbutier (ebenso Urquhart, Die neueren Entdeckungen und die
Bibel, 1898, I, 256 f.).
2) Turmbauten gehörten auch später zu den charakteristischsten Stücken der
vorderasiatischen Kultur. So sagt z. B. das Gesetzbuch des Königs Hammurahi
(um 1900 v. Chr.): „Er machte hoch die Spitze des Tempelturms von An-na (in
Erech) . . . ; er war der Schirm seines Landes, der wieder zusammenbrachte die
zerstreuten Bewohner von Isin." Im Tempelbezirk jeder babylonischen Stadt
stand ein -Turm als Mittelpunkt. So steht noch heute in Babylon eine riesige
Turmruine, der Brs Nimrud, von dem es bei Renovierungen in den altbabyloni
schen Keilschriften oft heißt, daß seine Spitze bis in den Himmel reichen solle.
92
Die babylonische Sprachenverwirrung
II.Die sprachgeschichtliche Bewußtseinsverwirrung
Die Verwirrung der Sprachen ist zunächst etwas Vierfaches: eine
Verwirrung von Wörterbuch, Grammatik, Aussprache und Ausdrucks-
weise („Phraseologie"), und in diesem Sinne gibt es heute ungefähr ein-
tausend Sprachen und Hauptdialekte. Aber sie ist doch noch mehr.
Ganz gleich, welches die Ursprache gewesen sein mag, ob — wie die
Rabbinen und Kirchenväter meinten — das Hebräische oder das Syrische
oder — was wohl das allein Richtige ist — keine der uns überlieferten alten
Sprachen: In jedem Fall ist die Gemeinsamkeit der Sprache mit einer
starken Einheitlichkeit des Geisteslebens verbunden gewesen. Denn da
die Sprache die lautliche Versinnlichung des Geistigen ist, muß auch das
Geistige aller Menschen so lange in besonderem Sinne einheitlich gewesen
sein, als noch der Ausdruck dieses Geistigen, die Sprache, einheitlich war.
Die Sprachenverwirrung war also zugleich eine Verwirrung der geisligen
Grundanschauunp,en der Menschheit, indem durch eine Machtwirkung
Gottes auf den menschlichen Geist. an Stelle der ursprünglichen Einheit,
eine vielfache Zersplitterung des Denkens, Empfindens und Vorstellens
eingesetzt wurde?) So aber wird die Sprachenverwirrung zugleich eine
Verwirrung des Bewußtsein s.
„Die ursprüngliche Sprache, in der Adam im Paradiese alle Tiere
benannte (1. Mose 2, 20), war gleichsam ein großer Spiegel gewesen, in
dem sich die ganze Natur getreulich widergespiegelt hatte. Nun aber
zerbrach Gott diesen Spiegel, und jedes Volk erhielt nur eine Scherbe
davon, das eine eine größere, das andere eine kleinere, und nun sieht
jedes Volk nur ein Etwas von dem Ganzen, nimmermehr aber das Ganze
selbst. Deshalb weichen auch die Auffassungen der Nationen hinsichtlich
Zeligion und Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Geschichte so stark
wneinander ab, ja steigern sich oft bis zu gegenseitigem Widerspruch"
'Bettex).4)
Dies alles mußte jedoch noch mehr Folgen nach sich ziehen. Mit der
...errüttung des Wehbewußtseins verband sich eine weitere Zerrüttung
les Got(esbewußtseins.
^Iebukadnezar erhöhte die Spitze des Stufenturms Etemenanki, „damit sie mit dern
Fimmel wetteifere" (vgl, A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten
)rients, Leipzig 1906, S. 278 ff.).
3)
Darum hat jede Sprache ihren besonderen Sprach„geist".
4)
Natur und Gesetz, 1923, S. 212.
Uroffenbarung und heidnische Religion
93
III. Die religionsgeschichtliche Glaubensentartung
Am Anfang der Menschheit steht der Glaube an den einen Gott
da, der sich in dreifacher Weise offenbart: in Natur (Röm. 1, 19; 20),
Gewissen (Röm. 2, 12-15) und Geschichte (1. Mose 1-11). Das spätere
Heidentum ist dann eine Verkehrung dieses seines dreifachen Ursprungs:
Verzerrung der Erinnerung an die Uroffenbarung, Mißdeutung der Natur-
offenbarung (Röm. 1, 23) und unklarer Seelenkonflikt mit der Gewissens-
offenbarung — das sind die drei Grundelemente aller heidnischen Religion.
Dennoch aber blieb die göttliche Einwirkung auf die Menschheit
durch die allgemeine Offenbarung bestehen. Gott hält den Men-
schen wie ein gewaltiger, starker Magnet. „Fürwahr, er ist nicht ferne
von einem jeglichen unter uns" (Apg. 17, 27). Gott sucht den Menschen,
um in ihm selber ein Suchen zu wecken, ein Suchen nach ihm, wie die
Mutter die Seele ihres Kindes sucht, damit es sie wieder suche, „daß sie
den HErrn suchen sollten, ob sie ihn fühlen und finden möchten" (Apg.
17, 27). Daher — von Gott selbst gewirkt — das auffallend große Fragen
und Suchen in der Völkerwelt, auch unter den Heiden. Aber das ist das
Tragische, daß dies Suchen der Menschen von Satan, dem großen Be-
trüger, auf eine falsche Spur abgelenkt wird. Fortan ist der Mensch auf
der Suche nach Gott und doch zugleich auf der Flucht vor ihm. Er will
ihn haben und stößt ihn von sich; er sucht seine Segnungen und meidet
seine Nähe; er will nichts von ihm wissen und kann doch nicht los von
ihm (Bracker).
Die menschliche Urwurzel dieser ganzen religiösen Zwiespältigkeit
und Entartung ist, nach der Belehrung des Apostels Paulus, die U n -
dankbar k e i t. Denn „obwohl sie wußten, daß ein Gott ist, haben
sie ihn nicht gepriesen als einen Gott, noch ihm gedankt, sondern sind
in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist ver-
finstert" (Röm. 1,21). Im einzelnen aber sind es besonders die folgenden
Elemente, die — unter dämonischer Irreführung — diese Umwertung
aller Werte auf dem Gebiet des religiösen Lebens hervorgebracht haben.
Zunächst die Beobachtung des T r a u m e s. Denn da handelt ein
Etwas, das sich „bewegte", „hörte" und „sah", auch wenn alle Glieder
des
Leibes in Untätigkeit waren! Da „erschienen" auch Tote, ebenfalls
„handelnd",
und „bewiesen" damit ihre „geist"-artige Weiterexistenz.5)
5) Der Gott- und Geistbegriff als solcher ist Erbbesitz aus der Uroffenbarung,
brauchte
also nicht erst auf dem Wege religionsgeschichtlicher Entwicklung her-
94
Die Entstehung des Heidentums
Dann ferner die Beobachtung des Tode s. Denn war es nicht hier
diese „Seele", dieses Unsichtbare, Innere, das nun mit dem letzten Hauch
atemartig, luftartig den Körper verließ? Und dann wurde der Tote so
still! Ist dies nicht ein Beweis, daß es keine Bewegung gibt, ohne das
Wollen eines inneren Ich, einer innewohnenden wirksamen Atemseele?
In der Natur aber draußen ist alles voll Bewegung: in den
Pflanzen und Tieren, im Lauf der Gestirne, im majestätischen Gewitter.
im Dahinbrausen der Ströme, im geheimnisvollen Magneten und im
Feuerfunken des angeschlagenen Steines! Ist dies alles nicht ein deut-
liches, überwältigendes Zeugnis von dem Dasein und Innewohnen gewal-
tiger Wesen, die in allen diesen Bewegungen um uns herum wirksam
sind? — So aber wird die Natur von Geistern beseelt gedacht. und die
animislische) Weltanschauung ist entstanden.
Da aber der Mensch keine andere „Seele" kannte als nur die seine,
ist die Ausstattung dieser Naturgeister mit den Eigenschaften der
Menschenseele nur das durchaus Folgerichtige, und da es sich ferner bei
den Naturgeistern — entsprechend der Wucht ihrer Elemente — nur
um Wesen gesteigerter Lebensform handeln konnte, mußten ihnen
auch diese menschlichen Eigenschaften in gesteigertem Maße zugeschrie-
ben werden. Dadurch jedoch entstand notwendig eine Verbindung von
Dämon und H e l d, wobei das Dämonische durch das Menschliche
ns Personhafte und das Heldische durch das Dämonische ins Uher-
nenschliche gesteigert wurde.') Dies ist aber das Wesen des heidnischen
3ottbegriffes.
Hier
nun setzt die religionsbildende Kraft der menschlichen Sprache
in. Denn es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, unwill-
.ürlich und oft unbewußt das Stoffliche und Geistige nebeneinander zu
teilen und beide gegenseitig ineinander hineinzutragen. So „vermensch-
cht" die Sprache das Außermenschliche und redet von einer „lachenden-
onne, einem „freundlichen" Zimmer, einem „munteren" Bach; und
mgekehrt überträgt sie das Außermenschliche in das Menschliche und
nicht von einer „kalten" Lieblosigkeit, einem „sonnigen" Charakter oder
isgebildet zu werden. Worum es sich handelt, ist seine Verknüpfung mit den
lementen der Natur.
Von lateinisch anima = "Seele'', der Glaube an das Beseeltsein der Natur.
7)
Vgl. Wilh. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, Leipzig 1912, S. 361 f.:
1. — Der Heide schafft sich also seinen „Gott" nach seinem Bilde (vgl. umge-
:hrt 1. Mose 1,27).
Die
religionsbildende Kraft der menschlichen Sprache 95
einer „strahlenden" Freude. Noch phantasiereicher spricht sie von den
„Pfeilen" der Sonne (den Sonnenstrahlen), dem „Stechen" des Mondes
(vgl. Ps. 121, 6), den „Fenstern des Himmels" (Mal. 3, 10), den „Wim-
pern" der Morgenröte (Hiob 3, 9).
Solange der Mensch nun an der Bildhaftigkeit dieser sprachlichen
Vergleiche festhält, besteht keine Gefahr, im Gegenteil, sogar eine Be-
reicherung seines Geistes. Im Augenblick aber, wo er, verfinstert durch
die Sünde (Eph. 4, 18; Röm. 1, 21b; 22) und irregeleitet durch dämonische
Mächte, von dieser phantasievollen Umkleidung des Wirklichen mit
Bildern fortschreitet zum Glauben an die Wirklichkeit dieser Bilder
selbst, ist auch von dieser Seite aus eine neue Welt naturvergötternder
Verstellungen am Entstehen, und die Sprache reiht sich ein unter die
Haupttriebkräfte heidnischer Religionsbildung.$)
Von Bedeutung ist hierbei auch das grammatische Geschlecht; denn
in manchen Fällen war gerade dies das Entscheidende, ob man sich eine
Gottheit männlich oder weiblich dachte!)
Dies alles beweist, daß von einem eigentlichen, national gearteten
Heidentum vor der Sprachenverwirrung nicht die Rede sein kann. Mögen
einzelne, naturvergötternde Ideen schon vor dem babylonischen Gericht
vorhanden gewesen sein: Das eigentliche, national geartete Heidentum
selbst
hat erst mit der Beiseitesetzung der Völkerwelt und der Zer-
splitterung
der Menschheit in getrennte Nationen seinen Anfang ge-
nommen
(vgl. 5. Mose 4, 19; Röm. 1, 18-32).
Dies alles aber geschah zugleich unter dämonischer Mitwir-
k
u n g. Denn die Götter der Heiden sind keine leere Einbildung. Apollo
und
Diana, Aphrodite und Istar und wie sie alle heißen, sind, nach dem
apostolischen
Zeugnis des Neuen Testaments, keine bloßen, gedanklichen
Personifikationen
von Naturkräften oder reine Idealgebilde irrender,
naturvergötternder
Phantasie, sondern in ihrem Hintergrund sind irgend-
wie
wirklich vorhandene, dämonische Geistmächte, die sich auf dem
Wege
okkulter Inspirationen, in national geartetem, mythologischem
Gewande
— teils in lichtvoll-poetischer, teils schauerlich-düsterer Ein-
8) Zu der weiteren Ausgestaltung des Gottbegriffes, besonders der Götter-
gesdhidhte (des „Mythus") und der Jenseitsvorstellung des Heidentums, haben
noch viele andere Triebkräfte mitgewirkt, z. B. das Furcht- und Wunschmotiv, das
Vergeltungsbedürfnis, das Nachdenken über die Weltursache, ferner Erinnerungen
aus der Volksgeschichte und Heldensage.
») Vgl. G. Runze, Religionsphilosophie, Leipzig 1901, S. 107 f.
96
Der dämonische Hintergrund des Heidentums
kleidung — den einzelnen Völkern offenbarten..") Sonst hätte der große
Völkerapostel auch nicht aus jener Wahrsagerin in Philippi einen „Py-
thon-Geist",") unter ausdrücklicher Berufung auf den
Namen des HErrn Jesu, „austreiben" können (Apg. 16,18);
und ebensowenig hätte er von den außerisraelitischen Religionen sagen
können, daß „die Heiden das Opfer, das sie darbringen, den bösen
Geistern darbringen" (1. Kor. 10, 20).12) So aber beruht das gesamte
Heidentum nicht nur auf Irrtum und Trug, sondern zugleich mit auf
spiritistischer Grundlage.
Durch dies alles wird der Heide, unter dämonischer Beeinflussung,
,,der Schöpfer seiner Götter.") In seinen Religionen drückt sich seine
Gott losigkeit aus. Religion ist die Sünde, nämlich die Sünde gegen
das erste Gebot, die Vertauschung Gottes mit den Götzen" (1). Alt-
haus), „der kräftigste Ausdruck des Widerspruchs des Menschen zu Gott
und mit sich selber"(K. Barth).")
10) Ebenso Joh. Warneck, Die Lebenskräfte des Evangeliums in der animisti-
schen Heidenwelt, 1922, S. 60-72.
") Wörtlich „python" (Apg. 16, 16). — „Python" war unter anderem eine Be-
zeichnung der Wahrsager des Apollodienstes. ln Delphi, der wichtigsten Orakel-
stätte Apolls, waltete als Hauptpriesterin die ,,Pythia" (ein Medium). Vgl. auch
das Medium von Endor (1. Sam. 28, 7; 8) und 3. Mose 20, 27 („Geist").
12) Hier liegt also ein gewisses Wahrheitselement des nationalen Polytheismus.
Vgl. die Engelfürsten von Persien (Dan. 10, 13; 20) und Griechenland (Dan. 10,
20).
— Ebenso Th. Oehler, Calwer Bibellexikon, 1924, S. 811; auch Besser, Menken.
") Der Verschiedenartigkeit des Nationalcharakters usw. entspricht auch eine
Verschiedenartigkeit der religiösen Grundstimmungen:
Der Grieche sagt:
„Mensch, erkenne dich selbst!"
Der Römer sagt:
„Mensch, beherrsche dich selbst!"
Der Chinese sagt:
„Mensch, bessere dich selbst!"
Der Buddhist sagt:
„Mensch, vernichte dich selbst!"
Der Brahmane sagt:
„Mensch, versenke dich selbst!"
Der Mohammedaner sagt: „Mensch, beuge dich selbst!"
Aber Christus sagt:
„Ohne mich könnt ihr nichts tun!" und
in ihm sagt der Christ: „Ich vermag alles durch den, der mich
mächtig macht, Christus" (Phil. 4, 13).
14) Andererseits liegt auch dem Götzenbegriff der Gottesgedanke zugrunde.
Jeder Abgott ist, bei aller Entstellung, ein Zerrbild des einen, wahren Gottes.
Der
Mensch ist in seinen Religionen auf der Flucht vor Gott; aber auch auf der
Flucht
wird er von Gott gehalten, kommt von dem Gottesgedanken nicht los und muß
im Verleugnen von ihm zeugen. Wahrheit und Unwahrheit, Würde und Unwür-
digkeit liegen im Heidentum nicht nebeneinander, sondern ineinander. „Darum
ist das Verhältnis der Offenbarung zur menschlichen Religion stets ein
Zwiefaches
in einem: das Evangelium bricht die Religionen, ist ihr Gericht, sofern sie
Lüge,
Sünde sind; das Evangelium erlöst, erfüllt die Religionen zu der Urwahrheit, von
Vom Wesen der Weltgeschichte
97
Dies Ganze jedoch ist der Irrweg von Milliarden von Menschen!
Jahrtausende hindurch hat er die Menschheit beherrscht. „Indem sie sich
für weise hielten, sind sie zu Narren geworden" (Röm. 1, 22). Damit aber
wird das babylonische Menschheitsgericht zu einem Gericht von unge-
heuerster Auswirkung. Denn die mit der Zersplitterung der Menschheit
und der Beiseitesetzung der Völkerwelt verbundene Bewu ßtseinsver-
wirrung hatte eine Religionsverwirrung zur Folge, die die Sprachenver-
wirrung an Bedeutung noch weit übertraf.
Auch politisch war er von den schwersten Folgen.
IV. Die weltgeschichtliche Völkerspannung
Von nun an ist die Weltgeschichte ein Ringen zwischen zwei Kräften:
der Mittelpunktsziehkraft der Weltreiche') und der Mittelpunktsflieh-
kraft der einzelnen Völker,") und zwar so, daß immer wieder die Mittel-
punktsziehkraft der Welteroberer zuschanden gemacht wird durch die
Mittelpunktsfliehkraft der einzelnen Nationen. Die bedeutsamste Form
dieser Auseinandersetzung ist der Krieg, und darum werden Kriege und
Kriegsgeschrei sein, bis daß der HErr kommt (Matth. 24, 6).17)
Zugleich aber wird all dieser `Widerstreit der Geschichtskräfte von
dem obersten Geschichtsherrn überwaltet (Am. 9, 7; Jes. 45, 1-3), und
dadurch wird die Völkergeschichte ein Völkergericht. „Gerechtigkeit
erhöht ein Volk; aber die Sünde ist Schande der Nationen" (Spr. 14, 34).
„Alle Epochen, in denen der Glaube herrscht, sind glänzend und frucht-
bar" (Goethe); aber sittlich morsche Kulturen gehen unfehlbar zugrunde.
der sie herkommen und in ihrer Weise zeugen" (nach P. Althaus, Der Wahrheits-
gehalt der Religionen und das Evangelium, Neue Allgemeine Missionszeitschrift
1934,
S. 282 f.).
15) Vertreter dieser .,Zentripetalkraft" sind z. B. Nimrod, Nebukadnezar,
Kores, Alexander der Große, Napoleon.
") Vertreter dieser „Zentrifugalkraft" sind u. a. die Kämpfer von Marathon,
Arminius, Gandhi und überhaupt alle Freiheitskriege und nationalen Erhebungen.
") Dennoch bedeutet das Zersplitterungsgericht nicht etwa die Entstehung
von
Völkern an sich, sondern von geistig, religiös, sprachlich und politisch von-
einander
getrennten Völkern. Die rassische Gliederung der Menschheit als solche
beginnt
schon sofort nach der Sintflut (Sem, Hain, Japhet) und ist durchaus kein
Gericht.
Auch auf der neuen Erde wird es noch „Völker" geben (Off. 21,24;
22,
2). Gott erstrebt eben Mannigfaltigkeit in der Einheit, d. h. eine „Völker-
familie".
7 Sauer , Das Morgenrot der Welterlösung