2. Der Text des Neuen Testaments - eine Übersicht
Der ursprünglich in griechischer Sprache geschriebene Text des Neuen
Testaments liegt in mehr als 5000 Kopien vor.
Originale im eigentlichen Sinn (Autografen) - z. B. Briefe direkt aus
der »Feder« des Apostels Paulus - sind nicht erhalten.
Die über die ganze Welt verstreuten Handschriften liegen zumeist in
kirchlichen und öffentlichen, aber auch in privaten Bibliothe ken -
allein in Griechenland sind es rund 2000 Texte.
Die von Kurt Aland und
dem Institut für Neutestamentliche Textforschung herausgegebene
»Kurzgefasste Liste« (21994) verzeichnet alle bis zum Erscheinungsjahr
bekannten Handschriften. Sie folgt der von C. R. Gregory (1846-1917)
eingeführten Einteilung, die die neutestamentlichen Textzeugen in vier
Gruppen aufteilt: Nach dem aktuellen Stand sind es:
● 131 Papyri (auf Papyrus geschriebene Abschriften). Der Text ist in
Großbuchstaben und in fortlaufender Schreibweise {»scriptio continua«)
geschrieben; d. h., es gibt keine Abstände zwischen den Worten und
Sätzen und keine Satzzeichen; die Struktur des Textes muss man aus der
Buchstabenfolge »herauslesen«. Ihre Entstehungszeit reicht von der
ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts bis ins 10. Jahrhundert. Was heute
noch von ihnen erhalten ist, verdanken wir dem trockenen Klima Ägyptens,
wo sie im Ausgang des 19. Jahrhunderts gefunden und später in Kairo im
Antiquitätenhandel verkauft wurden. Die älteste Handschrift des Neuen
Testaments ist der Papyrus 52 aus der Zeit um 125 n.Chr. mit einigen
Versen aus dem 18. Kapitel des Johannesevangeliums. Damit ist dieses
Fragment nur etwa 30 Jahre von der Urschrift entfernt. Zum Vergleich:
Die zeitlichen Ver hältnisse im Bereich antiker Autoren sind ganz
andere. Beispielsweise liegen zwischen der Urschrift von Homers Ilias
und der ältesten Kopie 1900 Jahre.
● 323 Majuskeln (großformatige Bücher oder deren Reste, mit reinen
Großbuchstaben auf Pergament geschrieben, gezählt als 01 bis 0323). Das
Schreibmaterial Pergament war zwar erheblich teurer als der Papyrus,
gewährleistete aber eine längere Haltbarkeit der Texte. Seit der
offiziellen Anerkennung des Christentums durch den Staat kam es als
Schreibmaterial fürEinführung biblische Handschriften stärker in
Gebrauch. So berichtet der Verfasser der ersten Kirchen geschichte, der
Bischof Eusebius von Cäsarea, in seiner Lebensbeschreibung des Kaisers
Konstantin, dieser habe ihn 331 n. Chr. beauftragt, 50 Bibeln auf
Pergament für die Kirchen in Konstantinopel herstellen zu lassen. Für
ihren Transport seien zwei staatliche Postwagen zur Verfügung gestellt
worden.
● 2931 Minuskeln (1 bis 2931), kleinere Bücher oder deren Reste,
geschrieben in Groß- und Kleinbuchstaben.
● 2465 Lektionare (€ 1 bis € 2465), Auswahltexte für den liturgischen
Gebrauch. Darüber hinaus sind für die Erfassung der Textüberlieferung
die frühen Übersetzungen und die Bibelzitate der Kirchenväter von
Belang.
Die christliche Verkündigung im Römischen Reich richtete sich zunächst
in griechischer Sprache an die Gemeinden. Aber die einheimische
Bevölkerung der umliegenden Länder konnte die Sprache des Neuen
Testaments nicht verstehen, ln Ägypten z. B. wurde zwar viel Griechisch
gesprochen. Die einfachen Leute waren jedoch nur durch eine Übersetzung
in ihre koptische Sprache erreichbar. So entstanden bereits im Ausgang
des 2. Jahrhunderts erste Übersetzungen. Die lateinischen Übersetzungen
machten den Anfang. Sie waren allerdings weniger für den Gebrauch in der
Hauptstadt Rom als für die aufstrebenden Provinzen in Nordafrika und
Gallien bestimmt, ln seiner Gesamtheit wird dieses Frühstadium der
lateinischen Textüberlieferung als VetusLatina (»Alte Lateinische«)
bezeichnet. Um zu einem einheitlichen, aligemeingültigen Text zu kommen,
beauftragte Papst Damaskus im Jahr 383 n. Chr. den Gelehrten Hieronymus
mit der Bearbeitung der bisher umlaufenden Übersetzungen.
Die damals entstandene, seit dem 13. Jahrhundert als
Vulgata
(Vg, »im Volk verbreitete«) bezeichnete Bibel galt in der katholischen
Kirche noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als verbindlicher Bibeltext.
- Die erwähnten koptischen Übersetzungen entstanden später als die
lateinischen, nämlich im 3./4. Jahrhundert.
Nicht immer wurde aus dem griechischen Ausgangstext
übersetzt. So entstand das armenische Neue Testament - für das eigens
ein Alphabet geschaffen werden musste - aus der syrischen Übersetzung;
die georgische Übersetzung fußt wiederum auf der armenischen.
Unübersehbar ist die Zahl von neutestamentlichen Zitaten in den
Schriften der Kirchenväter vom 2. Jahrhundert an. Sie sind schon
deswegen von Bedeutung, weil sie in ihrem frühen Stadi um Zeugen für
eine Entwicklung des neutestamentlichen Textes sind, die uns durch
griechische Handschriften nicht immer unmittelbar zur Verfügung stehen,
ln der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian (303-311 n.Chr.) z.B.
gingen ungezählte Bibelhandschriften verloren. Die Zitate der
Kirchenväter können bezeugen, welcher Bibeltext wann und an welchem Ort
in Ge brauch war. Ähnlich wie bei den frühesten Übersetzungen gibt es
eine Reihe von Vätertexten, die älter als die heute erhaltenen
Bibeltexte selbst sind. Oft weicht der zitierte Text von dem der
Handschriften ab. Das kann natürlich manchmal auch darauf zurückgeführt
werden, dass der Äutor eine Bibelstelle frei aus dem Gedächtnis
wiedergab. Wenn er aber eine handschriftliche Vorlage benutzte, geschah
es nicht selten, dass er einen Text vor sich hatte, den der Kopist be
reits nach ihm bekannten Texten aus dem Neuen Testament korrigiert
hatte. Äufgabe der neu testamentlichen Textforschung ist es also auch,
die neutestamentlichen Zitate jedes Kirchen vaters zu registrieren und
sorgfältig mit den Handschriften zu vergleichen.
Eine der wichtigsten Äufgaben der neutestamentlichen Textforschung
bleibt es, die erhalte nen Zeugen noch genauer kennenzulernen,
insbesondere ihren Charakter und ihre Abhängig keiten untereinander. Von
Theodorus Studites (759-826), dem Abt des berühmten Studionklosters in
Konstantinopel, ist eine Regel für die Arbeit im Skriptorium, der alten
Schreibstube der Handschriftenproduktion, überliefert. Danach hat die
Kopistentätigkeit durchaus den gle chen Stellenwert wie die
Verrichtungen im spirituellen Bereich. Das entspricht auch dem Ideal des
westlichen Mönchtums: ora et labora; »bete und arbeite«. Mit Fleiß und
Sorgfalt wurden die Abschriften angefertigt, aus der Einstellung heraus,
ein Gott gefälliges Werk zu tun.
|