Home  Forum   Begriffserklärungen  Syngrammata  Lehre auf Youtube   Mal3.16 Website  Neben der Schrift

 

Glauben mit Herz und Verstand ( LOGOS)

 

Glauben mit Herz und Verstand
Eine Studienreise durch den Römerbrief


Ulrich Schlittenhardt


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Schlittenhardt, Ulrich
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 9783751953566 (Paperback)
ISBN: 9783751986861 (E-Book)
ISBN: 9783751903264 (Hardcover)
Lektor: Ina Twelker
Cover: Priscilla Du Preez; Kompass: Honey Yanibel Minaya Cruz (Unsplash.com)

Bibelzitate:

ELB - Revidierte Elberfelder Bibel
© 2006 R. Brockhaus Verlag, Wuppertal.
EÜ - Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift
© 2017 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart.
GN - Gute Nachricht Bibel
© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
LUT - Lutherbibel
© 2017 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
MENG - Menge Bibel
© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
NGÜ – Neue Genfer Übersetzung
© 2009 Genfer Bibelgesellschaft.
SCH - Schlachter 2000
© 2002 Genfer Bibelgesellschaft.
WD - Willkommen daheim
© 2009 Gerth Medien, Asslar



„Wir sind verlorener,
als wir zugeben wollen,
und wir sind tiefer erlöst,
als wir zu hoffen wagen.“


Søren Kierkegaard


Inhaltsverzeichnis


Vorwort
Einführung
... zum Römerbrief
… zur Auslegung
… zu Aufbau und Gebrauch
I. Briefanfang (1,1–17)
Der Auftrag (1,1–14)
Das Thema (1,16–17)
II. Empfangender Glaube (1,18–4,25)
Wir werden Gott nicht gerecht … (1,18–2,3)
sind aber dennoch selbstgerecht … (2,4–16)
und gesetzlich (2,17–3,20).
Wir werden unverdient gerecht … (3,21–31)
durch Vertrauen auf Gott (4,1–25).
III. Liebender Glaube (5,1–8,17)
Weil wir Gottes Liebe empfangen … (5,1–10)
erleben wir einen Neubeginn (5,12–21)..
Die Sünde hat ihre Macht verloren … (6,1–23)
weil wir nicht mehr auf uns selbst gestellt sind … (7,1–25)
sondern Gottes Geist uns beisteht (8,1–17).
IV. Hoffender Glaube (8,18–11,36)
Gottes Geist schenkt Hoffnung … (8,18–39)
auch dort, wo alles verloren scheint (9,1–33).
Weil Gott treu ist … (10,1–21)
und menschliche Erwartungen übertrifft (11,1–36).
V. Praktizierter Glaube (12,1–15,13)
Innere Verwandlung wird sichtbar (12,1–2)
… in der Gemeinde (12,3–8)
… in Beziehungen (12,9–21)
… im gesellschaftlichen Leben (13)
… im Umgang mit Gewissensfragen (14–15,13)
VI. Briefschluss (15,14–16,27)
Nachwort

Anhang
Anregungen für Gruppenleiter
Literaturangaben
Dank


VORWORT


Eine Reise ist etwas anderes als ein Urlaub. Im Urlaub suchen wir vor allem Entspannung. Auf einer Reise wollen wir etwas erleben. Sie beginnt mit sorgfältiger Planung. Wir sprechen mit Leuten, die eine ähnliche Reise bereits unternommen haben. Wir greifen zu einem Reiseführer und setzen uns mit Kultur und Sprache auseinander. Dann wählen wir Ziele aus, prüfen anhand einer Landkarte mögliche Routen und organisieren die notwendigen Mittel, mit denen wir sie erreichen können. Schließlich verlassen wir die ausgetretenen touristischen Routen und nehmen in Kauf, dass wir nun in mancher Hinsicht auf uns selbst gestellt sind. Das Abenteuer kann beginnen.

Mit diesem Buch möchte ich Sie zu einer Studienreise durch den Römerbrief einladen. Ja, man kann auch während einer Studienreise Bedeutsames erleben. Vielleicht fragen Sie sich jedoch, wozu es dafür dieses Buch braucht. Kann man sich nicht direkt mit dem Römerbrief auseinandersetzen, indem man die Bibel einfach nur an der richtigen Stelle aufschlägt? Man kann! Doch fragen Sie mal Christen in Ihrer Umgebung, ob sie den Römerbrief schon einmal komplett durchgelesen haben. Vielleicht werden Sie danach besser verstehen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Manche verlieren nämlich den roten Faden aus dem Auge, andere bleiben an weniger zentralen Aussagen hängen und wieder andere verstehen den Sinn eines ganzen Kapitels nicht, weil sie den kulturellen Graben zwischen sich und dem Text weder spüren noch einschätzen können.

Deshalb ist dieses Buch nicht nur als Einladung zu verstehen, sondern auch als Reiseführer, der Sie auf Ihrem Weg begleiten will. Er möge Ihnen nicht nur Orientierung bieten und Hintergründe erhellen, sondern auch dazu beitragen, dass Sie auf Ihrem Weg durch diesen wichtigen Brief des Neuen Testaments einen inneren Prozess durchlaufen. Seine Inhalte mögen für Sie zu einem Spiegel werden, in dem Sie Ihre innere Welt besser erkennen können.

In “Reisebilder und Reisebriefe” sinniert Heinrich Heine, dass jeder einzelne Mensch eine Welt in sich trägt, die mit ihm geboren wurde und mit ihm sterben wird. Deshalb sei unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte verborgen. Auch der französische Schriftsteller François-René meint, dass jeder Mensch in sich eine Welt trägt, die sich aus allem zusammensetzt, was er gesehen und geliebt hat und dass er in diese innere Welt immer wieder zurückkehren muss, selbst wenn er viele fremde Welten durchstreift hat.

Heute können wir mit vergleichsweise geringem Aufwand fremde Welten durchstreifen. Manchmal frage ich mich, wie vertraut uns noch unsere innere Welt ist. Für manche von uns mag diese innere Welt einladend wie ein warmes Zuhause sein. Für andere gleicht sie möglicherweise eher einem modrigen Keller, dessen Existenz sie noch nicht einmal wahrhaben wollen.

Der Brief des Paulus an die Römer wird Sie mit grundlegenden Fragen konfrontieren. Was bedeutet es, Mensch zu sein? Wie bestimme ich meine Identität? Auf welcher Grundlage kann Gott zu meinem Gegenüber werden? Wie kann ich ein Leben im Bewusstsein seiner Gegenwart führen? Wohin geht die Reise meines Lebens?

Diese Studienreise wird Sie deshalb als ganze Person herausfordern. Manchmal werden Sie Ihren Kopf anstrengen müssen, als sei Glaube nur eine Theorie. Zu anderen Zeiten werden Sie nur dann weiterkommen, wenn Sie alle Ihre Gedanken loslassen, um vor Gott wie ein Kind zu sein.

Wenn Sie am Ende dieser Studienreise mit Paulus bekennen können: „Es gibt nichts, was mich von Gottes Liebe trennen kann“ - hat sich dieses Unternehmen mehr als gelohnt.









EINFÜHRUNG

… zum Römerbrief

Als Paulus den Römerbrief um das Jahr 56 n. Chr. schrieb, war er gerade dabei, seine dritte Missionsreise zum Abschluss zu bringen. In Judäa hatten sich religiöse Fanatiker gegen ihn formiert, die ihm unter anderem vorwarfen, er verbreite eine anti-jüdische Lehre und verachte das mosaische Gesetz. Sein Leben stand sogar auf dem Spiel. Als Paulus den Römerbrief schrieb, war er ähnlich umstritten wie gut zwei Jahrzehnte zuvor Jesus Christus selbst. Er verstand sich als dessen Bote und vertrat dessen Botschaft so leidenschaftlich, dass er keiner Konfrontation aus dem Wege ging, wenn ihre Leuchtkraft auf dem Spiel stand. Einblick in seine missionarische Tätigkeit vermittelt uns das Buch “Apostelgeschichte”, das im Neuen Testament vor dem Römerbrief eingeordnet wurde. Er wird von vielen als geistliches Vermächtnis des Paulus angesehen. Er wurde bereits von den Kirchenvätern sehr geschätzt. Auch die Reformation wurde stark vom Römerbrief her inspiriert. Der englische Bibelübersetzer William Tyndale schrieb im Jahre 1534 in seinem Vorwort zum Römerbrief, dass dieser „ein Licht und ein Weg in die Schrift insgesamt“ sei. Wie Martin Luther hielt er es für angemessen, dass jeder Christ ihn nicht nur gelesen habe, sondern „seinen Text auswendig wisse“ und damit umgehe „wie mit dem täglichen Brot“. Auch Johannes Calvin sagte über den Römerbrief: “… wenn jemand diesen Brief versteht, so steht ihm die Tür zum Verständnis der ganzen Schrift offen.“

Welche Wirkung vom Römerbrief ausgehen kann, sehen wir an diesen und weiteren prägenden Gestalten der Kirchengeschichte, die durch seine Botschaft zum Glauben kamen. Ausgelöst durch Verse aus Römer 13 erlebte Augustinus eine tief greifende Lebenswende. Luthers Vorstellung von Gott wurde grundlegend verändert, als er aus Römer 1,17 plötzlich verstand, dass ihn „Gottes Gerechtigkeit“ nicht bedroht, sondern befreit. John Wesley erfuhr die Freiheit des Glaubens, nachdem ihm das Vorwort Luthers zum Römerbrief vorgelesen worden war. Karl Barth widerstand zur Zeit des Nationalsozialismus der Versuchung, seine Theologie der herrschenden politischen Ideologie zu unterwerfen. Seine Auslegung des Römerbriefs wurde zum Meilenstein in der Theologiegeschichte.

Man kann durchaus behaupten, dass der Römerbrief entscheidende Veränderungen ausgelöst und begleitet hat. Heute jedoch scheint vielen die Geduld zu fehlen, sich mit so sperrigen Texten auseinanderzusetzen, wie wir sie im Römerbrief finden. Im Informationszeitalter werden wir ja regelrecht zugetextet. Deshalb neigen wir dazu, nur solche Informationen aufzunehmen, die sich uns schnell erschließen. Wir praktizieren geistiges Doping und hüpfen von einer oberflächlichen Inspiration zur nächsten. Aber ist unser Glaube auch krisenfest?

Karl Barth ging einen anderen Weg. In einem Brief an seinen Kollegen Eduard Thurneysen schrieb er: „Im Römerbrief knorze ich an den Felsklötzen (Römer 3,20 ff). Was steckt da alles dahinter! … Hätten wir doch früher uns zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füßen hätten!“

Paulus erklärt nicht viel. Zumindest erklärt er nicht so, wie wir es gewohnt sind. Doch setzt er anscheinend vieles voraus. Um nachvollziehen zu können, was er voraussetzt, brauchen wir das Alte Testament. Es ist also in der Tat notwendig, sich zur ganzen Bibel zu bekehren, um den Zugang zum ganzen Reichtum seines Briefs zu finden. Verstehen wir ihn, können wir umgekehrt die ganze Bibel mit einem tieferen Verständnis lesen. Scheuen wir also nicht die Auseinandersetzung mit diesem gewichtigen Teil des Neuen Testaments. Es geht dabei um nichts weniger, als um „festen Grund unter unseren Füßen“.


… zur Auslegung

Über die Auslegung biblischer Bücher ist viel geschrieben worden. Ich möchte mich hier auf zwei grundlegende und zugleich einleuchtende Aspekte beschränken. Der eine fordert unseren Verstand, der andere unser Herz.

Wenn wir einen Brief verstehen wollen, sollten wir ihn komplett lesen. Diese Einsicht ist so naheliegend, dass man eigentlich gar nicht darauf hinweisen müsste. Jeder ist sich dessen bewusst, dass man einen Brief erst dann kennt, wenn man ihn komplett gelesen hat. Doch was im alltäglichen Umgang mit Briefen, Artikeln und Büchern selbstverständlich ist, scheinen viele Christen im Umgang mit der Bibel zu vergessen. Nicht selten begnügen sie sich mit der Kenntnis einiger Verse, die üblicherweise in Predigten gebraucht werden. Gerade im Blick auf den Römerbrief lohnt sich die Mühe, den Aufbau der Gedanken über Sätze, Absätze und Sinneinheiten hinweg nachzuvollziehen. Vieles wird verständlich, wenn wir die einzelnen Aussagen im Zusammenhang des Ganzen wahrnehmen. Wir sollten also beim Lesen der Bibel unseren Verstand nicht vernachlässigen. Jesus hat einmal gesagt: „Wenn jemand die Botschaft vom Himmelreich hört und nicht versteht, ist es wie mit der Saat, die auf den Weg fällt. Der Böse kommt und raubt, was ins Herz dieses Menschen gesät worden ist.“

Die ersten Christen wussten um die Bedeutung des Verstandes. Philippus fragte den äthiopischen Finanzminister, der gerade in einer Schriftrolle las, ganz unverblümt „Verstehst du auch, was du liest?“

Aus diesem Grund sollten wir keine Angst davor haben, die Bibel, ihr kulturelles Umfeld, historische Zeugnisse und Sprachen zu erforschen. Wissenschaft muss sich mit Fakten auseinandersetzen. Der überlieferte Text selbst ist Fakt und ich meine, dass er wichtiger ist als Theorien darüber, unter welchen zeitgeschichtlichen Umständen er entstanden ist. Dies ist für die Auslegung zwar nicht unwesentlich, für das Verständnis einzelner Textstellen ist jedoch die Wahrnehmung der Zusammenhänge wichtiger. Denn wenn ein Text nicht aus sich selbst heraus zu verstehen ist, ist es unwahrscheinlich, dass er sich uns auf einer tieferen Ebene erschließt.

Damit habe ich bereits den zweiten Aspekt angedeutet, den wir im Umgang mit biblischen Texten beachten müssen, nämlich uns selbst. Der Titel dieses Buches lautet ja nicht zufällig „Glauben mit Herz und Verstand“. Wobei an dieser Stelle ergänzt werden muss, dass der Glaube eigentlich gar nicht in unserem Verstand, sondern in unserem Herzen entsteht. Erst wenn unser Herz glaubt, kann sich unser Verstand die entsprechenden Inhalte bewusst machen und sie zu einer in sich stimmigen Überzeugung formen.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie öfter, als Ihnen lieb ist, Ihre Überzeugungen verraten? Dass Sie zuweilen sogar destruktiv handeln, obwohl Sie sich damit selbst verletzen? Das hat nichts mit Ihrem Verstand zu tun. Der weiß schon, was richtig ist. Das hat sehr viel mehr mit Ihrem Herzen zu tun.

Ihr Herz reagiert nämlich nicht auf Logik, sondern auf Liebe. Es sucht Trost, Zuspruch, Wärme, Geborgenheit, Hoffnung, Bedeutung und Sinn. Es folgt Ihrer inneren Sehnsucht und lässt sich von Ihrem Verstand nicht unter Druck setzen.

Besonders in unserer schnelllebigen Zeit schenken wir unserem Herzen zu wenig Aufmerksamkeit, während unser Verstand Überstunden macht, um mit der Komplexität des Lebens fertig zu werden. Deshalb stelle ich Ihnen hier einen Zugang zur Bibel vor, der Ihnen helfen wird, mit ausgewählten Textstellen auf die tiefer liegende Ebene Ihres Herzens zu gelangen:

Nehmen Sie Geschwindigkeit aus Ihrem Leben und gönnen Sie Ihrem Verstand eine regenerative Auszeit. Schenken Sie Ihrem Herzen die Aufmerksamkeit, die es verdient.

Erster Schritt: Lesen Sie langsam einen Vers oder einen kurzen Abschnitt, der Sie innerlich irgendwie angesprochen hat. Schenken Sie diesem Vers oder Abschnitt Ihre volle Aufmerksamkeit. Versuchen Sie nicht, ihn mit Ihrem Verstand zu durchdringen. Lassen Sie ihn einfach auf sich wirken. Lesen Sie sich den Text mehrmals laut vor. Lassen Sie sich Zeit.

Zweiter Schritt: Richten Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst. Was regt sich da in Ihnen? Spüren Sie Hoffnung oder Freude? Spüren Sie einen inneren Auftrieb? Oder kommen Sie mit negativen Gefühlen in Berührung? Alles darf sein. Bitte analysieren Sie nicht, was da passiert. Grübeln Sie auch nicht. Beschränken Sie sich darauf, einfach nur wahrzunehmen.

Dritter Schritt: Kommen Sie darüber, was sich da gerade in Ihnen ereignet hat, mit dem dreieinigen Gott ins Gespräch. Danken Sie ihm für das, was Sie zu ihm hinbewegt. Vertrauen Sie ihm alles andere an: Ihre Zweifel, Ihre Fragen, Ihren Schmerz.

Vierter Schritt: Verweilen Sie noch eine gewisse Zeit aufmerksam vor Gott. Lassen Sie den Satz, der Sie besonders berührt hat, in sich nachklingen. Genießen Sie Ihr Dasein vor Gott.

Der meditative Zugang zur Bibel wurde bereits in den ersten Jahrhunderten des christlichen Glaubens praktiziert und ist heute unter der Überschrift „Lectio Divina“ bekannt.


… zu Aufbau und Gebrauch

Der Römerbrief ist in diesem Buch in sechs Sinneinheiten (I–VI) gegliedert, die jeweils mehrere Abschnitte enthalten. Die Überschriften dieser Abschnitte sind in sich unvollständig, weil sie zusammen mit anderen Überschriften einen vollständigen Satz ergeben. Verstehen Sie diese außergewöhnliche Form bitte als Einladung, den größeren Zusammenhang niemals aus den Augen zu verlieren. Das Inhaltsverzeichnis vermittelt Ihnen einen schnellen Überblick, damit Sie den roten Faden nachvollziehen können, an dem entlang Sie sich durch den Römerbrief bewegen.

Die nach den Überschriften in Klammern angegebenen Textabschnitte lesen Sie möglichst vollständig in Ihrer eigenen Bibel. Ich gebe sie in Anlehnung an gängige Bibelübersetzungen gekürzt wieder, damit sie mit ihren tragenden Aussagen präsent sind. Wenn Sie sich zum ersten Mal mit dem Römerbrief befassen, dürfen Sie sich gerne darauf beschränken, da genügend Informationen auf Sie zukommen werden.

Mein Anliegen beim Schreiben meiner Ausführungen war es, Ihnen ein Gesamtbild des vorliegenden Abschnitts zu vermitteln und aufzuzeigen, was sein spezieller Beitrag zum übergreifenden Thema des Römerbriefs ist. Wenn Sie das große Bild sehen, können Sie nämlich einzelne Verse viel leichter einordnen und verstehen. Ich lege also großen Wert auf Zusammenhänge. Manchmal erläutere ich die Denkweise von Paulus anhand seiner anderen Briefe oder spiele auf dessen Denkhorizont an, zu dem auch die Evangelien und die Apostelgeschichte wertvolle Informationen liefern. Nicht zuletzt erläutere ich den Zusammenhang mit dem Alten Testament, aus dem Paulus häufig zitiert. Darüber haben die Christen in Rom sicher lebhaft diskutiert. Paulus setzt bei ihnen offenbar gute Kenntnisse voraus, Kenntnisse, die wir uns erst einmal aneignen müssen.

Was bestimmte Schlüsselbegriffe angeht, knüpfe ich am Sprachgebrauch genauerer Bibelübersetzungen an. Sie haben eine lange Geschichte und sind deshalb reich an Bedeutung. Von ihrer Grundbedeutung ausgehend, entwickelt man mit der Zeit ein Gefühl dafür, welcher Akzent in unterschiedlichen Zusammenhängen im Vordergrund steht. Paulus gebraucht auch gerne Begriffspaare oder Namen, um sich gegenseitig ausschließende Prinzipien deutlich zu machen: Gesetz und Gnade, Tod und Leben, Werke und Glaube, Fleisch und Geist, Adam und Christus. Würden wir die verwendeten Begriffe mit eigenen Worten umschreiben, würden wir das Gefühl für die Spannung verlieren, die Paulus bewusst aufbaut.

Den Erläuterungen zum biblischen Text folgen Anregungen für die persönliche Vertiefung. Wenn Sie dieses Buch alleine durcharbeiten, empfehle ich Ihnen insbesondere die Praxis der “Lectio Divina“, die ich auf Seite 15 beschrieben habe. Im Rahmen der Vertiefung gebe ich mehrere Bibelstellen an, die sich dafür besonders eignen. Gönnen Sie Ihrem Verstand eine Auszeit und nehmen Sie Ihre inneren Regungen wahr. Fragen können dann ihr eigenständige Weiterdenken oder auch das Gespräch in Kleingruppen anregen. Was Letzteres betrifft, verweise ich auf die Anregungen für Gruppenleiter im Anhang.



I. BRIEFANFANG (1,1–17)


Der Auftrag (1,1–14)

Textauszug (1–7): 1 Paulus, Diener Jesu Christi, den er zum Apostel auserwählt hat, das Evangelium Gottes bekannt zu machen, 2 das er durch seine Propheten verheißen hat, wie uns die heiligen Schriften bezeugen. 3 Das Evangelium nämlich von Jesus als seinem Sohn, der seiner natürlichen Abstammung nach Nachkomme Davids war, 4 den Gott seinem himmlischen Ursprung gemäß machtvoll als Sohn Gottes eingesetzt hat, nachdem er von den Toten auferstanden ist. 5 Durch ihn haben wir sowohl die Gnade Gottes als auch unser Apostelamt empfangen. Damit wir in seinem Auftrag Menschen aller Nationen in den Gehorsam gegenüber Gott führen, der aus dem Glauben kommt. 6 Darum gilt mein Auftrag auch euch in Rom, die ihr von Jesus Christus berufen seid. 7 Ich schreibe allen Geliebten Gottes, den berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Der Römerbrief ist der grundlegendste und längste Brief von Paulus. Aufgrund seiner Bedeutung führt er zu Recht die Reihe der apostolischen Briefe im Neuen Testament an. Er ist an die Christen der römischen Hauptstadt gerichtet. Paulus will sie für seine Mission in Spanien gewinnen und wirbt um ihre Unterstützung. Um sich der Gemeinde vorzustellen, die er nicht selbst gegründet hat, legt Paulus dar, wie er die Zeitenwende versteht, die durch das Kommen Jesu eingetreten ist. Er bemüht sich, mögliche Vorbehalte gegenüber seiner Person und seiner Mission auszuräumen. Sein großes Thema ist die Gerechtigkeit Gottes, die sich in Jesu Tod und Auferstehung zum Heil aller offenbart hat.

Briefe waren schon in der antiken Welt ein beliebtes Kommunikationsmittel, das Menschen auch über große Distanzen hinweg verbinden konnte. Wir haben heute viel schnellere Kommunikationsmittel. Doch ist unsere Kommunikation auch flüchtiger und oberflächlicher geworden. Völlig zu Recht gilt deshalb ein Brief auch heute noch als etwas Besonderes. Der Verfasser eines Briefs nimmt sich Zeit, um sich in den oder die Briefempfänger hineinzudenken. Er wählt seine Worte mit Bedacht, gibt Persönliches preis, investiert Vertrauen. Er achtet sorgfältig auf Inhalt und Stil seiner Formulierungen. In der Antike war der Prozess des Schreibens noch viel aufwendiger. Man schrieb auf Papyrus. Zuweilen wurden Briefe auch diktiert. Der fertige Brief wurde als Buchrolle befördert. Ein Bote überbrachte ihn persönlich. Zu diesem Zweck musste oft eine lange Reise angetreten werden. War der Bote zugleich ein Mitarbeiter des Absenders, konnte dieser den Inhalt persönlich erläutern. Würde der Römerbrief heute in dieser Art geschrieben und überbracht, kämen erstaunliche Kosten zusammen. Wir können uns denken, dass ein solcher Brief auch in der Antike ein Zeichen hoher Wertschätzung war und entsprechend beachtet wurde. Für die neutestamentlichen Briefe ist weiter zu bedenken, dass sie zwar einen konkreten Empfänger hatten, ihr apostolischer Charakter sorgte aber für ihre weite Verbreitung. Sie galten bald als Allgemeingut der jungen Christenheit.

Paulus folgt der damals üblichen Form. In der Einleitung (dem Präskript) erfahren wir etwas über den Absender, der die Adressaten mit einem Segenswunsch grüßt: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott“. Dieser Segenswunsch ist typisch für Paulus. Während Gnade in der griechischen Sprache an das in Briefen übliche Wort für grüßen anknüpft, nimmt das Wort Friede den traditionellen Friedensgruß jüdischer Briefe auf. Die Einleitung und der Briefschluss (das Postskript) vermitteln uns einen Einblick in die damaligen Verhältnisse. Sie sind der Rahmen für den Hauptteil, in dem das Thema des Briefs entfaltet wird.

Biblische Schriften sind einerseits vom Heiligen Geist inspiriert. Andererseits nehmen wir darin auch menschliche Züge wahr. Wie gehen wir damit um? Was bedeutet das für unsere Auslegung?

Um das Wesen der Bibel besser begreifen zu können, ist es hilfreich, sie im Hinblick auf Jesus zu lesen. Jesus selbst hat uns das nahegelegt. Wie bei ihm menschliche und göttliche Natur vereinigt sind, so sind in der Bibel göttliche Offenbarung und menschliche Sprache miteinander vereint. Genauso wenig, wie wir göttliche und irdische Natur Jesu voneinander trennen können, können wir göttliche Offenbarung aus menschlicher Sprache herausdestillieren und für sich selbst betrachten. Beide Dimensionen begegnen uns in der Bibel als ineinander verflochtenes Ganzes.

Die Inspiration der Bibel kann man sich schwerlich als Diktat Gottes denken. Hätte er sie diktiert, müssten wir ja in jedem biblischen Buch dieselbe Sprache und denselben Stil antreffen. Weil Inspiration im Einklang mit Menschen geschah, die sich Gott zur Verfügung gestellt haben, ist es jedoch angemessen, menschliche Merkmale in den Schriften der Bibel zu erwarten. Gott hat nämlich die Eigenschaften seiner Boten in seinen Dienst gestellt. Ähnliches gilt für zeitgeschichtliche Umstände und kulturelle Gegebenheiten. All das bringt Gottes Botschaft zum Klingen. Das Licht göttlicher Offenbarung bekommt so eine menschliche Färbung, wird dadurch aber auch für andere Menschen zugänglich. In der Bibel geht es nicht um abgehobene Wahrheiten, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, sondern um Wahrheiten, die sich in der Wirklichkeit dieser Welt bewährt haben.

Wenn wir einen Brief verstehen wollen, macht es deshalb auch Sinn, nach den “Gesprächspartnern” zu fragen. Denn beim Schreiben eines Briefs vollzieht sich ja ein innerer Dialog zwischen Absender und Briefempfänger. Deshalb wollen wir uns zunächst einmal mit dem ursprünglichen Empfängerkreis des Römerbriefs befassen.

Die Wurzeln der römischen Gemeinde gehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Pfingstereignis zurück. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass einige römische Bürger die Ausgießung des Heiligen Geistes miterlebt hatten. Diese römischen Bürger werden dort näher als Juden und Proselyten bezeichnet. Juden waren zu jener Zeit überall in den Städten des Römischen Reichs zu Hause. Insgesamt lebten zeitweise bis zu 50.000 Juden in Rom.9 Zusammen mit den Proselyten pilgerten sie zu den großen jüdischen Festtagen nach Jerusalem. Das waren Menschen nicht-jüdischer Herkunft, die sich dem jüdischen Glauben angeschlossen hatten. In Rom gab es davon so viele, dass diese Bevölkerungsgruppe sogar das Misstrauen der römischen Oberschicht erregte.

Das Römische Reich war zu jener Zeit ein multireligiöser Raum, der geprägt war von geheimen Kulten und der Verehrung unzähliger Götter. Spekulative Philosophien und unterschiedliche Moralvorstellungen konkurrierten miteinander. Das Judentum war für viele Menschen anziehend, weil dort nur ein Gott verehrt wurde. Die Verehrung dieses Gottes war mit einem klar geregelten Kultus verbunden. Die Ordnungen für den Gottesdienst und das persönliche Leben konnten an einer für alle verbindlichen Schrift nachvollzogen werden. Nun hörten also diese römischen Bürger (Juden und Proselyten) in Jerusalem die Botschaft von Jesus und seiner Auferstehung. Sie wurden Zeugen kraftvoller Wirkungen des Heiligen Geistes. 3000 Menschen kamen an jenem Tag zum Glauben an Jesus und wurden Teil der urchristlichen Gemeinde. Sicher blieben einige von ihnen für eine gewisse Zeitspanne in Jerusalem und hatten so die Gelegenheit, sich mit der Lehre der Apostel auseinanderzusetzen.11 Dort konnten sie die Gute Nachricht von Jesus mit ihrer Kenntnis des jüdischen Glaubens verbinden. Es ist also gut nachvollziehbar, dass diese Gruppe römischer Bürger, die das Evangelium von Jesus aus erster Hand empfangen hatte, Grundstock für die Gründung der christlichen Gemeinde in Rom war. Auch die moderne Archäologie bringt heute die Anfänge des christlichen Glaubens in Rom mit der dortigen jüdischen Kolonie in Verbindung. So wurde nachgewiesen, dass die Bestattung in Katakomben zuerst in der jüdischen Kolonie Brauch war, bevor diese Art der Bestattung auch für das römische Urchristentum charakteristisch wurde. Die jüdische Kultur war in Rom also ausgesprochen präsent, was erklärt, warum Paulus bei den Empfängern seines Briefs vieles voraussetzen kann.

Die Christen in Rom trafen sich damals nicht in einem zentralen Gebäude. Sie trafen sich in verschiedenen Hausgemeinden. Der Römerbrief wurde dort vorgelesen und besprochen. Deshalb halte ich es für eine gute Idee, auch heute über seine Inhalte miteinander ins Gespräch zu kommen.

Der Römerbrief wirkt auf Theologen wie ein Lehrgespräch unter Juden. Wenn wir berücksichtigen, dass Paulus zu einer Gemeinde schreibt, die eine stark juden-christliche Prägung hatte, dann verstehen wir, warum er so viel über das Gesetz schreibt und auf rabbinische Weise argumentiert. Sicher wollte Paulus gerade auch seine Landsleute für sein missionarisches Anliegen gewinnen. Er wusste aus früheren Erfahrungen nur zu gut, dass der Stellenwert, den einige von ihnen dem Gesetz zusprachen, seine Mission durchaus gefährden konnte.14

Als Nicht-Juden sollten wir allerdings nicht meinen, seine Ausführungen über das Gesetz seien für uns überflüssig. Die Kirchengeschichte hat nämlich gezeigt, dass auch für die Christenheit ein Leben im Geist des Evangeliums nicht zur Selbstverständlichkeit wurde. Immer wieder wurde die Kraft eines solchen Lebens gegen selbst auferlegte Prinzipien und Äußerlichkeiten ausgetauscht. Deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit den Fragen rund um das Gesetz auch für uns. Beim Lesen der Bibel würden wir ohnehin früher oder später auf sie stoßen. Im Römerbrief begegnet uns ein kompetenter Autor, der diese Fragen so gründlich und konsequent wie kein anderer durchdacht hat. Im Blick auf Jesus hatte sich seine eigene Haltung zum Gesetz grundlegend verändert, was seinem Leben eine völlig neue Richtung gab.


Persönliche Vertiefung

Wir haben uns in diesem Abschnitt mit den ursprünglichen Empfängern des Römerbriefs auseinandergesetzt. Wer aber war sein Absender? Paulus war ein eifriger Pharisäer, der das Gesetz über alles gestellt hatte. Er wurde zunächst zum Verfolger der jungen Christenheit. Nach einer persönlichen Begegnung mit Jesus Christus änderte sich der Kurs seines Lebens grundlegend. Lernen Sie seine Geschichte kennen, die Lukas in Apostelgeschichte 9 erzählt.

Lectio Divina: Römer 1,7b; Johannes 5,39; Jesaja 40,6–8; Jesaja 55,10–11

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Schreiben von Briefen gemacht? Haben Sie schon einmal einen Brief empfangen, der Ihnen viel bedeutet hat?

Wie würden Sie Ihr Wissen über das Alte Testament einschätzen (gut, mittelmäßig, schlecht)?

Wie würden Sie den Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament beschreiben?

Haben Sie schon einmal Konflikte erlebt, hinter denen möglicherweise eine unterschiedliche Bewertung des mosaischen Gesetzes stand?


Das Thema (1,16–17)

Text: 16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, zuerst dem Juden und dann dem Griechen. 17 Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: `Der Gerechte aber wird aus Glauben leben‘

Mit diesen beiden Versen führt Paulus in das Thema seines Briefs ein, in dem er die Botschaft des Evangeliums inhaltlich als „Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes” bestimmt. Nachdem Gott uns in Jesus gerecht geworden ist, können wir auch ihm gerecht werden, indem wir unser Vertrauen auf Jesus setzen. Diese Botschaft ist kraftvoll und heilsam, weil sie nicht an unser Leistungsvermögen appelliert, sondern uns auf das gnädige Wirken Gottes verweist. Damit bestätigt sie einen zentralen Grundsatz des Alten Bundes: “Der Gerechte wird aus Glauben leben”.

„Evangelium“ erinnert als Begriff nicht zufällig an die ersten vier Bücher des Neuen Testaments, die uns Einblick in den Lebensweg Jesu geben. Der Ausdruck stammt aus der griechischen Sprache und meint eine außerordentlich gute Nachricht. Eine Nachricht, die Freude weckt, ja Begeisterung. Wie etwa die Kunde eines Boten, der in der Stadt den Sieg über feindliche Truppen ausruft. In den Evangelien geht es im Unterschied dazu nicht nur um die Botschaft, die Jesus damals verkündigt hat, sondern vielmehr um Jesus selbst. In seiner Person erfüllt sich nämlich, was Israels Propheten bereits angekündigt hatten.

So hatte auch der Prophet Jesaja eine heilsame Zuwendung Gottes vorhergesehen: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König!“

Der an dieser Stelle gebrauchte Begriff „Freudenbote” enthält in seiner griechischen Übersetzung den Wortstamm, aus dem auch das Wort „Evangelium“ abgeleitet ist. Im Rückblick verstehen wir, dass dieser Freudenbote in Jesus tatsächlich erschienen ist. Er hat nicht nur zur Freude ermutigt. Seine Worte und Taten haben auch Freude bewirkt. Durch ihn wurde jene höhere Wirklichkeit bereits erfahrbar, die Brennpunkt seiner Lehre war. Die Welt Gottes hat durch ihn auf ganz besondere Weise die Welt der Menschen berührt. Diese wurden frei von drückender Schuld, frei von Anklage und Ablehnung, frei von Zwängen und Krankheiten. Deshalb wundert es nicht, dass bei Lukas - einem zeitweiligen Reisebegleiter von Paulus - die Ausdrücke „Evangelium“ und „Reich Gottes“ zur Wendung „Evangelium vom Reich Gottes“ verschmelzen.

Paulus spricht im Vergleich zu Jesus weniger vom „Reich Gottes“. Er spricht eher von Gottes Gerechtigkeit und meint damit dasselbe. Denn wenn Gott seine Treue, Gerechtigkeit und Liebe offenbart, kommen Menschen zum Glauben. Auf diese Weise wird Gottes Herrschaft in den Herzen der Menschen aufgerichtet.

In den Ohren vieler Menschen klingt der Begriff “Gerechtigkeit” zunächst abstrakt. Sie denken unwillkürlich an Gesetze und staatliche Ordnungen, sowie an die Tätigkeit der Gerichte. Das ist grundsätzlich auch angemessen. Vergessen wir nicht, dass ein funktionierendes Rechtswesen für eine gesunde Gesellschaft wesentlich ist. Wenn wir uns darüber hinaus bewusst machen, dass vor den Gerichten Angelegenheiten verhandelt werden, die uns allen sehr nahe gehen, kommen wir bereits auf die richtige Spur. Letztlich geht es vor den Gerichten nämlich immer um Beziehungen und um die Frage, wie Menschen einander gerecht werden können. Wenn Gerichte darüber zu befinden haben, was zwischen Menschen im Sinne der Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen ist, ist die angemessene Haltung zwischen den beteiligten Personen längst verloren gegangen. Dann werden Schuldige verurteilt und bestraft. Doch Strafe ist kein Selbstzweck. Die positive Absicht der Gerichte ist es, die Rechte der Bürger zu schützen und gegen Übergriffe zu verteidigen.

Genau diesen Akzent setzt das Evangelium. Gott will uns zu unserem Geburtsrecht verhelfen, einer Würde, die zu einem tiefen Bewusstsein seiner heilsamen Nähe führt.

Schon König David hat davon gesprochen, dass Gott in seiner richterlichen Autorität Recht spricht: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden.“ Das gerechte Handeln Gottes war Israel stets Hoffnung und Trost gewesen. Beim jährlichen Passahfest erinnern sich Juden noch heute an ihre Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Israel konnte nur deshalb zu einem souveränen Staat werden, weil sich Gott selbst für die Nachkommen Jakobs eingesetzt und ihnen angesichts ihrer Feinde zu ihrem Recht verholfen hat. Wenn die gute Nachricht darin besteht, dass Gott seine Gerechtigkeit offenbart, vernimmt ein jüdisch geprägter Leser also ein sehr erfreuliches Signal.20

Nun wird sich aber schon bald die Frage aufdrängen, ob denn Gott selbst gerecht sein kann, wenn er sogar die Schuldigen frei spricht. Unrecht muss doch ernst genommen und bestraft werden. Auf welcher rechtlichen Grundlage kann Gott Strafe erlassen? Wir haben doch gar nicht nach ihm gefragt und sind ihm keineswegs gerecht geworden. Wir haben seine Gebote und die Stimme unseres Gewissens ignoriert. Wir haben stattdessen unsere eigenen Interessen in den Mittelpunkt unserer Denk- und Verhaltensweisen gestellt. Nicht einmal unseren Mitmenschen werden wir gerecht. Trotzdem handelt Gott zu unseren Gunsten? Wie kann das sein?

Paulus wird in seinem Brief aufzeigen, dass die Kehrseite unserer Rettung die Verurteilung Jesu ist. Am Kreuz hat Jesus das Gericht über unsere Ignoranz, unsere Schuld, unsere Lieblosigkeit, unseren Egoismus und unsere Selbstsucht auf sich genommen. Das notwendige Urteil über menschliche Ungerechtigkeit hat Gott bereits an ihm vollstreckt.

Das Kreuz, Symbol des Sterbens Jesu, steht für unser Recht auf Freispruch. Um die Rechtsgrundlage für unseren Freispruch hat Gott sich gekümmert. Er ist uns handelnd gerecht geworden; wir aber können ihm nur glaubend gerecht werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Übernahme bestimmter Lehrsätze und Prinzipien. Glaube bedeutet, Gott auf personaler Ebene zu vertrauen. Dieses Vertrauen kann in unseren Herzen aufkeimen, wenn wir ihn in seiner Gerechtigkeit und Güte anerkennen.

Leider haben auch Christen das Evangelium immer wieder aus den Augen verloren. Oft wurde Jesu Botschaft isoliert von ihm selbst betrachtet und so präsentiert, als handle es sich um eine gute Idee oder ein erstrebenswertes Ideal. Unter der Hand verwandelt sie sich dann aber allmählich. Wir erkennen zwar noch ihren Wert. Da ihre Wirkung jedoch zunehmend von uns selbst abhängt, nehmen wir einen zunehmenden moralischen Druck wahr. Die frohe Kunde scheint uns nur noch dann froh machen zu können, wenn wir uns als gut genug erweisen. Bald sind wir nur noch äußerlich dabei und versuchen, ein möglichst gutes Bild vom Christsein abzugeben. Unsere Mitmenschen können diese Tendenz noch verstärken. Möglicherweise interessieren sie sich noch nicht einmal für den christlichen Glauben, scheinen aber genau zu wissen, was ein Christ zu tun und zu lassen hat. Vergessen wir deshalb nicht, dass das Evangelium nicht nur die Botschaft für Nicht-Christen ist, sondern die Botschaft, die wir auch als Christen nötig haben, weil sich nur aus ihr unser Glaube nähren kann. Das wird im Römerbrief ganz deutlich. Paulus will auch den Christen in Rom das Evangelium verkünden.

Mit der Wendung „aus Glauben zu Glauben“ charakterisiert Paulus Glaube als Bewegung. Der Glaube an Jesus hat sich von Jerusalem ausgehend im ganzen Römischen Reich ausgebreitet. Paulus ist Teil dieser Bewegung. Während er die Gute Nachricht von Jesus im Glauben proklamiert, erwartet er, dass seine Zuhörer zum Glauben befähigt werden. Glaube ist dynamisch und wirksam. Diese Auslegung harmoniert übrigens sehr gut mit den Gleichnissen, in denen Jesus von der Ausbreitung des Reiches Gottes spricht.25

Ein solcher Glaube ist kein starres Gebilde. Ist es doch der Glaube an den, der unter uns lebte, für uns starb und für uns auferweckt wurde. Jesus ist also sowohl Quelle als auch Ziel unseres Glaubens. Solange wir aus ihm schöpfen, bleibt unser Glaube frisch und lebendig. Wenn er selbst Kern unseres Glaubens ist, kann unser Herz aufleben und gute Früchte hervorbringen.

Paulus wollte mit dem Römerbrief offenbar eine Entwicklung anstoßen. Diese Absicht lässt sich auch am Aufbau des Römerbriefs aufzeigen: Unser Glaube beginnt mit Empfänglichkeit, wird getragen von zunehmender Erkenntnis Gottes und führt zur Teilhabe an seiner Liebe. Diese innere Entwicklung weitet unseren Horizont und wirkt sich auf unser praktisches Leben aus. Schauen Sie sich an dieser Stelle einmal das Inhaltsverzeichnis genauer an. Es macht stichwortartig deutlich, wie umfassend und dynamisch für Paulus der Glaube ist.

Deshalb können wir den christlichen Glauben sehr gut mit einem Weg oder eine Reise vergleichen. An Jesus zu glauben bedeutet unterwegs zu sein. Da stellt sich nicht die Frage, wie weit wir schon gekommen sind, sondern ob wir uns noch auf dem Weg befinden. Ob wir immer noch fragend, suchend, lernend - und damit auch empfänglich sind. Das Ziel dieser Reise ist nicht perfektes Verhalten. Auf dieser Reise geht es vielmehr darum, in Verbindung zu bleiben mit dem, der von sich gesagt hat, dass er Weg, Wahrheit und Leben sei. Über ihn können wir niemals hinauswachsen. Wir können nur tiefer in ihn hineinwachsen, sodass wir in ihm unsere Gerechtigkeit, unsere Weisheit, unsere Freude und unseren Frieden finden. Glaube entwickelt sich so dynamisch wie eine Beziehung. Glaube ist Beziehung.


Persönliche Vertiefung

Das Evangelium ist mehr als eine gute Idee, die wir zwischen zwei Buchdeckeln verpackt ins Bücherregal stellen. Beim Evangelium geht es im Kern um Jesus Christus und um die Beziehung zu unserem Vater im Himmel. Wer ist Jesus Christus für Sie? Können Sie in ihm Gottes Gerechtigkeit und Güte erkennen?

Lectio Divina: Psalm 103,1–6; Jesaja 52,7–10; Lukas 4,40–43; Johannes 15,4.9

Inwiefern hat die Botschaft von der Güte Gottes das Potenzial, Leben nachhaltig zu verändern?

Ist die Bibel das Evangelium, oder enthält die Bibel das Evangelium?

Wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Evangelium in Berührung gekommen? Was waren die Auswirkungen?

Wie können wir mit Jesus Christus verbunden bleiben?




II. Empfangender Glaube (1,18–4,25)

Wir werden Gott nicht gerecht … (1,18–2,3)

Textauszug (1,18–24.28–2,3):18 Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in ihrer Ungerechtigkeit unterdrücken. 19 Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar, Gott selbst hat es ihnen sichtbar gemacht: 20 Seit Erschaffung der Welt wird nämlich seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, sodass seine ewige Kraft und Gottheit erkennbar ist. Daher haben sie für ihre Taten keine Entschuldigung. 21 Denn, obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihm weder Dank noch Anbetung dargebracht, sondern sind in ihren Gedanken der Nichtigkeit verfallen und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. 22 Sie hielten sich für Weise, sind aber zu Narren geworden 23 und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes eingetauscht gegen Abbilder von vergänglichen Menschen, Vögeln, vierfüßigen Tieren und Kriechtieren. 24 Deshalb hat Gott sie dem Begehren ihres Herzens überlassen und der Unreinheit preisgegeben, ihre Leiber untereinander zu schänden … 28 Und das alles, weil sie keinen Wert darauf gelegt hatten, Gott zu erkennen. Deswegen ist nun ihr ganzes Denken verdreht, sodass sie tun, was nicht recht ist. 29 Sie sind voller Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht, Gier, Gemeinheit, Neid, Mord, Streit, List und Tücke. Sie verbreiten üble Nachrede, hassen Gott und üben Gewalt. Sie sind hochmütig und prahlen, sind erfinderisch, wenn es um Böses geht, sind den Eltern ungehorsam 31 und zeigen sich unverständig. Sie sind treulos, gefühllos und unbarmherzig. 32 Obwohl sie wissen, dass sie sich mit ihrem Handeln dem gerechten Urteil Gottes ausliefern, suchen sie lieber die Bestätigung derer, die ebenfalls so leben. 2,1 Deshalb darfst du allerdings nicht meinen, du seist entschuldigt, wenn du das alles verurteilst. Denn wer du auch bist: Indem du den anderen richtest, sprichst du dir selbst das Urteil, weil du zugleich deine eigenen Taten richtest. 2,2 Nun wissen wir, dass Gott in seinem Urteil über die Ungerechtigkeit der Menschen recht zu geben ist. 2,3 Warum denkst du dann aber, du könntest dem Gericht Gottes entgehen, wenn du doch selbst so handelst, wie du es am anderen verurteilst?

Paulus blickt in diesem Kapitel auf die andere Seite der Gerechtigkeit Gottes, indem er vom „Zorn Gottes” spricht, der vom Himmel her offenbar ist. Dies wirkt nach den vorausgehenden Versen zunächst einmal erschreckend. Aber wenn wir bereit sind, die Tiefe unseres Unheils anzuschauen, werden wir auch das Heil tiefer für uns in Anspruch nehmen können.

Fragen wir uns zunächst, was Paulus meinen könnte, wenn er auf den Zorn Gottes zu sprechen kommt. Er spricht sicher nicht von einer Laune Gottes. Götter der griechischen Mythologie sind launische Wesen. Nicht jedoch der Schöpfer der Welt, an den Paulus glaubt. Der Zorn Gottes hat für Paulus etwas mit Gerechtigkeit zu tun, das er ja gerade eingeführt hat. Zorn entzündet sich an ihrem Gegenteil. Wir kennen diesen Zusammenhang aus unserer eigenen Erfahrung. Wenn wir ungerecht behandelt werden, reagieren wir mit Zorn. Wir erinnern uns oft noch lange an Situationen, in denen unser Recht verletzt wurde. Doch sollten wir auch einmal daran denken, dass Gott ebenfalls Rechte hat. Er will anerkannt, geliebt, gehört und gewürdigt werden. Wie bitte? Er stellt auch noch Ansprüche? Ist er nicht dazu da, uns glücklich zu machen? Irgendwie halten wir uns für den Nabel der Welt. Unser Problem ist nicht nur, dass wir vom Recht unseres Schöpfers nichts wissen wollen. Es fällt uns gar nicht mehr auf, wenn wir es missachten. Wir sind Ignoranten. Wir haben unseren Schöpfer sogar durch zahlreiche Götzen ersetzt, denen wir bereitwillig unsere Opfer bringen. Jeder von uns kennt jene inneren Antreiber, die uns jede Lebensfreude nehmen. Gefangen von ungezügelten Trieben zerstören wir nicht nur unser eigenes Leben. Wir verletzten zugleich auch unsere Mitmenschen. Gottes Herz blutet, weil all das die Folge davon ist, dass wir sein Recht nicht anerkannt haben. Deshalb müssen wir diese Botschaft hören, selbst wenn sie uns unangenehm berührt: Gott erleidet unsere Ungerechtigkeit und ist zu Recht zornig darüber.

Doch sein Zorn ist im Unterschied zu menschlichem Zorn nicht selbstsüchtig. Er teilt nämlich den Schmerz aller Menschen, die ebenfalls Unrecht erleiden. Er identifiziert sich mit ihnen. Er liebt sie. Liebe und Zorn schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil. Warum sollte Gott zornig über das Unrecht sein, das Menschen widerfährt, wenn er sich gar nicht für ihr Schicksal interessiert? Die Vorstellung von einem zornigen Gott mag nicht so recht zu einem idealen Gottesbild passen. Doch wäre denn ein idealer Mensch jemand, der gleichmütig lächelnd darüber hinwegsehen kann, wenn einem seiner Angehörigen etwas Schlimmes angetan wird? Man könnte vieles über einen solchen Menschen sagen - nicht aber, dass er herzliche und tiefgehende Familienbeziehungen gepflegt hat.

Es ist gut zu wissen, dass unser Gott lebensfördernd mit seinem Zorn umgehen kann. Damit werden wir uns im Abschnitt 3,21–31 weiter befassen.

Zunächst müssen wir aber noch bei diesem Thema bleiben. Die Wendung “Zorn Gottes” spricht nämlich nicht nur von Gottes Reaktion auf erfahrene Ungerechtigkeit, sondern auch vom letzten Gericht am Ende der Zeit. Durch dieses Gericht hindurch wird Gott die Welt von aller Bosheit reinigen. Nur so wird in ihr einmal Gerechtigkeit wohnen.

Doch überrascht es, dass Paulus vom kommenden Gericht in der Gegenwartsform spricht. Der Zorn Gottes wird bereits offenbar, wie auch die Gerechtigkeit Gottes in der Verkündigung des Evangeliums bereits offenbar wird. Bedeutet dies, dass Katastrophen und Tragödien als Gericht Gottes zu deuten sind? Würde Paulus das meinen, hätte er es gesagt. Aus unserem Text-Zusammenhang aber erschließt sich, dass er hier die Funktion unseres Gewissens anspricht.28 Das Gewissen ist eine Gabe Gottes an den Menschen. Mit dieser Gabe hat er die Ewigkeit in sein Herz gelegt.30 Es vermittelt uns das Wissen darum, dass wir Rechenschaft ablegen müssen. Deshalb verklagen uns die einen Gedanken, während uns andere freisprechen. Wir finden in uns die Stimme des Anwalts und die des Anklägers. Das künftige Gericht beginnt schon heute in den Tiefen unserer Seele.

Unser Gewissen können wir durchaus auch als unseren guten Kern bezeichnen. Nur dass wir diesen guten Kern nicht uns selbst verdanken und er auch nicht unserer Kontrolle untersteht. Deshalb können wir uns auf diesen guten Kern auch nichts einbilden. Er nützt uns auch nichts, solange wir uns von ihm nicht zur Gnade Gottes leiten lassen. Denn wenn wir unsere Rechtfertigung nicht von ihm empfangen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns selbst zu rechtfertigen.

Entweder wir versuchen, die uns anklagenden Gedanken mit dem Hinweis zum Schweigen zu bringen, dass das doch alle so machen. Oder wir versuchen, die anklagende Stimme unseres Gewissens loszuwerden, indem wir andere Menschen, die Umstände oder sogar Gott beschuldigen.

Der Vergleich mit jenen, denen wir uns moralisch überlegen fühlen, ist auch sehr beliebt. Vielleicht erreichen wir auf diese Weise sogar den Gipfel unserer Entfremdung von Gott, da wir im Richten über andere unbemerkt eine göttliche Rolle einnehmen. Wir machen uns selbst zum Maßstab. In unseren eigenen Augen scheinen wir als die Besseren dazustehen. Darum geben wir uns der gefährlichen Annahme hin, dass selbst Gott uns dafür auf die Schulter klopfen muss. Das Problem ist nur, dass wir auch uns selbst belasten, während wir uns mit anderen vergleichen. Denn wir werden noch nicht einmal den Maßstäben gerecht, die wir im Urteil über andere als gültig erklären.

Deshalb halte ich die überraschende Wendung zu Beginn des 2. Kapitels für die eigentliche Pointe des Abschnitts:

„Deshalb darfst du allerdings nicht meinen, du seist entschuldigt, wenn du das alles verurteilst. Denn wer du auch bist: Indem du über einen anderen zu Gericht sitzt, sprichst du dir selbst das Urteil, weil du genau dasselbe tust wie der, zu dessen Richter du dich machst.“

Paulus geht im Aufbau seiner Argumente ähnlich vor wie Nathan, den wir aus dem Alten Testament kennen. Dieser Prophet sollte David die unangenehme Wahrheit vorhalten, dass er die Ehe gebrochen hat. Um diese Tat zu vertuschen, hatte David seine königliche Macht missbraucht und einen Menschen dem Tod ausgeliefert. Nathan erzählte David eine Geschichte, die von einer schwerwiegenden Ungerechtigkeit handelt, die ein Reicher einem Armen zugefügt hat. David konnte schnell das erlittene Unrecht des Armen nachempfinden: „Da entbrannte der Zorn Davids sehr gegen den [reichen] Mann, und er sprach zu Nathan: So wahr der Herr lebt; der Mann, der dies getan hat, ist ein Kind des Todes!“ Da sagte Nathan zu David: „Du selbst bist der Mann.“ Während David außerhalb seiner selbst Ungerechtigkeit wahrnimmt und dort verurteilt, belastet er zugleich sich selbst. Der Prophet braucht ihm diese Tatsache nur noch bewusst zu machen.

Ähnlich schildert Paulus in unserem Abschnitt die Ungerechtigkeit der Menschen in einer so dichten Art und Weise, dass die Leser seines Briefs Abscheu empfinden und geradezu in seine Polemik mit einstimmen müssen: „Wahrhaftig - die Homosexuellen, die Habgierigen, die Mörder - solche Menschen haben das Gericht Gottes verdient.“

Wie leicht können wir unsere Prägung bereits für praktizierten Glauben halten. Paulus kennt diese Gefahr aus eigener Erfahrung. Vielleicht würde er uns deshalb die Ungerechtigkeit der Sünde heute an geldgierigen Bankern, skrupellosen Umweltsündern, rücksichtslosen Rechtsradikalen, unglaubwürdigen Politikern und selbstherrlichen Despoten vor Augen führen. An all dem Unrecht eben, das wir uns am Fernseher vorführen lassen und dessen Anblick uns so leicht dazu verführt, uns im Vergleich mit anderen moralisch überlegen zu fühlen. Ist es doch so angenehm, im Strom des allgemeinen moralischen Empfindens mitzuschwimmen. Es gehört deshalb nicht allzu viel Mut dazu, in unseren Kirchen die Ungerechtigkeiten anzuprangern, die dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechen. Denn wenn wir das tun, können wir sogar mit dem Beifall unserer Mitmenschen rechnen. Selbstgerechte bestätigen sich gerne gegenseitig. Deshalb entstehen sehr leicht Lebensräume, die von Selbstgerechtigkeit geprägt sind. Doch wenn wir meinen, dass sich auch Gott in die Gruppe derer einreiht, die bereitwillig unser Gutsein bestätigen, sind wir einem gefährlichen Irrtum erlegen. Dann sind wir im Grunde so gottlos wie jene Menschen, die wir verurteilen. Dann anerkennen wir Gott nämlich nicht wirklich als Gott. Wir weisen ihm lediglich eine Rolle in unserem Selbstgerechtigkeits-Universum zu. Er hat uns recht zu geben und unsere Vorzüge anzuerkennen.

Selbstgerechtigkeit führt dazu, dass uns die befreiende Kraft des Evangeliums gar nicht mehr erreicht, weil wir gar nicht begreifen, warum wir auf Gottes Gnade angewiesen sind. Warum sollte sich Gott denn um unsere Rechtfertigung kümmern, wenn wir uns schon selbst darum gekümmert haben?


Persönliche Vertiefung

Wir können diesen Abschnitt als Auslegung des biblischen Berichts vom Sündenfall und der darauf folgenden Menschheitsgeschichte verstehen. Der von Gott unabhängige Mensch verstrickt sich immer tiefer in die Sünde. Schauen Sie sich diesen Abschnitt genau an und versuchen Sie, den einzelnen Stufen einen Namen zu geben. Hat dieser Weg nach unten Ähnlichkeiten mit Ihren persönlichen Erfahrungen?

Lectio Divina: Römer 1,21–23; Matthäus 7,1–5; Psalm 32; 2. Petrus 3,13

Versuchen Sie, den Blickwinkel zu beschreiben, aus dem heraus Paulus hier die Menschheitsgeschichte skizziert.

Was empfinden Sie, wenn vom “Zorn Gottes” die Rede ist?

Was würden Sie über den Zorn Gottes sagen, wenn Sie zuvor bedenken, dass wir Menschen von Natur aus nicht nach den Rechten Gottes fragen.

Spielen Sie auf Ihrer inneren Lebensbühne immer die Rolle des Guten? Inwiefern kann ein ehrlicher Blick auf sich selbst helfen, für die Gnade Gottes empfänglich zu werden?


sind aber dennoch selbstgerecht … (2,4–16)

Textauszug (4–8,11–13): 4 Oder verachtest du die Güte und Geduld Gottes, indem du dich weigerst, dich von seiner Güte und Barmherzigkeit zur Umkehr leiten zu lassen? 5 Weißt du nicht, dass du dir mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen selbst das Urteil Gottes zuziehst, das am Tag seines Zorns über dich hereinbrechen wird? 6 Denn Gott wird jeden nach seinen eigenen Werken richten. 7 Wer mit seinen Taten gezeigt hat, dass ihm an Gottes Herrlichkeit und Ehre gelegen war, dem sei unvergängliches Leben. 8 Wer jedoch die Wahrheit verachtet und stattdessen der Ungerechtigkeit Raum gegeben hat, dem widerfahre der gerechte Zorn Gottes … 11 Denn Gott ist in seinem Urteil nicht parteiisch. 12 Er richtet die Ungerechtigkeit der Menschen, ob nun das Gesetz oder ihr eigenes Gewissen sein Urteil bestätigt. 13 Denn vor Gott gelten nicht die als gerecht, die das Gesetz kennen, sondern solche, die entsprechend handeln.

Nachdem Paulus zuletzt die Sünde heidnischer Völker im Licht des göttlichen Maßstabs bloßgestellt hat, wurde sein überraschender Perspektivwechsel zu Beginn des 2. Kapitels zur eigentlichen Pointe seiner Ausführungen: „Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst?“ Indem der Mensch auf seine eigenen Wertmaßstäbe gestützt über andere urteilt, verurteilt er zugleich sich selbst. Er erweist sich als ungerecht selbst da, wo er nur an seinem eigenen Maßstab gemessen wird. Selbstgerechtigkeit ist also ein typisches Problem des Menschen, ob sie sich nun gottlos oder religiös zeigt.

Im vorliegenden Abschnitt wendet sich Paulus nun den religiösen Menschen jüdischer Abstammung zu. Sie waren stolz auf ihre Erwählung durch Gott geworden und glaubten, im Vergleich zu anderen Völkern im Vorteil zu sein. Einige dachten, dass der außergewöhnliche Gehorsam ihres Stammvaters ihren durchschnittlichen Gehorsam dereinst ausgleichen könne. Deshalb fürchteten sie den großen Gerichtstag Gottes nicht. Vielmehr glaubten sie, dass Gott ihnen an jenem Tag zu ihrem Recht verhelfen und ihre Feinde bestrafen werde. Diese Erwartung entlarvt Paulus in Vers 5 als trügerische Hoffnung: „Weißt du nicht, dass du dir mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen selbst das Urteil Gottes zuziehst, das am Tag seines Zorns über dich hereinbrechen wird?“

Paulus war nicht der Erste, der diese religiöse Einstellung im Volk Israel scharf kritisiert hat. Vor langer Zeit hatte bereits der Prophet Amos denselben Ton angeschlagen. Amos begann zunächst damit, den Nachbarvölkern Israels das Gericht Gottes anzukündigen. Da diese Völker erbitterte Feinde Israels waren, hörten die Israeliten seine Botschaft zunächst gerne. Doch dann begann er auch sie vor dem kommenden Gericht zu warnen: „Weh denen, die den Tag des Herrn herbei sehnen! Was nützt euch denn der Tag des Herrn? Finsternis ist er, nicht Licht.“ In dieser Art und Weise spricht auch Paulus über den Tag des Herrn. Gott wird die Selbstgerechtigkeit seines Volkes nicht ignorieren und die Wahrheit ans Licht bringen. Ihre Selbstgerechtigkeit wird vor ihm schmelzen wie Wachs, wenn er sie mit ihrem tatsächlich gelebten Leben konfrontiert. Im Gericht werden nicht gute Theorien auf ihre Richtigkeit geprüft. Hier wird der Anspruch eines Menschen an seinen Taten gemessen.39

Paulus meint sicher nicht, dass sich der Mensch das ewige Leben durch gute Werke verdienen kann. Das würde allem widersprechen, was er sonst sagt. Doch er schildert hier ein gerechtes Gericht nach dem Maßstab des Gesetzes, das ja in der jüdischer Theologie die zentrale Rolle spielt. Es gilt als Maßstab Gottes für Gerechtigkeit. Deshalb muss es entsprechend angewendet werden.41 Das bedeutet aber auch - und darauf spielt Paulus an - dass nationale Zugehörigkeit im letzten Gericht keine Rolle spielen wird. Es würde dem Wesen des Gesetzes widersprechen, wenn Gott nicht ohne Ansehen der Person richten würde. Mit diesem Argument entzieht Paulus jeder Theologie die Grundlage, die unter Berufung auf das Gesetz eine Sonderbehandlung behaupten will.

So unangenehm ein solcher Blick auf das letzte Gericht auch ist, selbst einen unreligiösen Menschen kann die Prüfung der Taten im Gericht überzeugen. Ein Gott, der sich mit wunderbar formulierten Idealen und Sonntagsreden zufriedengibt, wäre doch eine geradezu lächerliche Vorstellung.

Will Paulus provozieren, wenn er im vorliegenden Abschnitt von Heiden spricht, die zwar das Gesetz nicht haben, aber dennoch tun, was das Gesetz fordert? Das ist denkbar. Auch Jesus hat provoziert, wenn er etwa auf die Frage eines Gesetzeslehrers hin, wer denn sein Nächster sei, mit einem Gleichnis antwortet, in dem er den Helden der Geschichte ausgerechnet einen Samariter sein lässt, der seinem Gesprächspartner nun wirklich nicht koscher sein konnte.

Es wäre auch denkbar, dass Paulus einen Fall konstruiert, um klarzustellen, dass Gott bis in die letzte Konsequenz hinein unparteiisch handeln würde.

Möglicherweise denkt Paulus bereits an Abraham, auf den er in Kapitel 4 näher eingehen wird. Abraham war nämlich Heide, als Gott zu ihm sprach. Aber weil er Gott durch seinen Glauben Ehre gab, wurde er gerechtfertigt. Der Glaube Abrahams war keine Leistung, die er aus sich selbst heraus hätte erbringen können. Dieser Glaube entstand - wie wir später sehen werden - im Zwiegespräch mit Gott. Unabhängig von Gott kann letztlich niemand vor ihm bestehen.

Zwei Verse untermauern die Variante „Abraham“. In Vers 6 spielt Paulus auf Psalm 62,13 an. Was haben Menschen, die in diesem Psalm beschrieben werden, denn getan? David vergleicht hier zwei Gruppen von Menschen. Auf der einen Seite beschreibt er solche, die sich gegen den von Gott erwählten König erheben und böse Dinge tun. Sie lügen, sind hinterhältig und ihr Wort hat keinen Wert. Auf der anderen Seite beschreibt er solche, die Ruhe finden in Gott und ihr Heil ausschließlich von ihm erwarten. Deshalb steht er im Mittelpunkt ihres Lebens und Handelns. Vers 6 sagt also im ursprünglichen Zusammenhang aus, dass Gott jeder Menschengruppe nach ihrem Tun vergilt. Das Handeln der einen Gruppe offenbart Selbstgerechtigkeit und Rebellion, das Handeln der anderen Gruppe offenbart Glaube. Der zweite Vers, der die „Abraham-Variante“ stützt, ist der letzte Vers unseres Abschnitts. Dort betont Paulus, dass das Gericht das Verborgene im Menschen ans Licht bringen wird.

Gott wird also unsere Taten im Blick auf die dahinter liegenden Motive untersuchen. Deshalb kann diese Aussage als ein starker Hinweis darauf gewertet werden, dass Gott in der Untersuchung der Taten auf der Suche nach jenem Glauben ist, den er als Gerechtigkeit anerkennen kann. Diese Auslegung stünde im Einklang mit der Aussage Jesu, die vom Evangelisten Johannes aufgezeichnet wurde: „Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt hat.“ In diesem Wort wird interessanterweise der Glaube, den Gott von uns erwartet, zugleich auf sein göttliches Wirken in uns zurückgeführt.

Selbstgerechtigkeit gefährdet nicht nur den jüdischen, sondern auch den christlichen Glauben. Selbstgerechtigkeit kann nicht an einer bestimmten Volksgruppe, Religion oder Konfession festgemacht werden. Sie wurzelt im Bedürfnis des Menschen, sein Gewissen zu entlasten. Statt diese Entlastung von Gott her zu erwarten, greift er auf seine eigenen Möglichkeiten zurück und wird so zum Architekten seiner eigenen Gerechtigkeit.

Doch wir beleidigen Gott, wenn wir stillschweigend davon ausgehen, dass er unsere Art von Gerechtigkeit anerkennen muss. Sie wirkt vor ihm wie ein schmutziger und zerrissener Anzug. Würden wir unsere Auffassung von Gerechtigkeit in Worte fassen, würde schnell deutlich werden, wie wenig wir von der Gerechtigkeit Gottes verstehen.

Wir sind auf seine Gnade nicht nur dort angewiesen, wo wir (noch) nicht genügen. Wir brauchen sie auf der ganzen Linie. Der Graben zwischen Gottes Gerechtigkeit und unserer eigenen ist nämlich so groß, dass er nur von Gott selbst überbrückt werden kann. Genau das hat er getan. Er ist uns handelnd gerecht geworden, damit wir ihm glaubend gerecht werden können. Nur durch unser Vertrauen können wir ihm die Ehre erweisen, die ihm gebührt.


Persönliche Vertiefung

Vielleicht haben Sie jetzt das Bedürfnis, sich vor Gott von Ihrer Selbstgerechtigkeit abzuwenden. Nutzen Sie die Gelegenheit. Bedenken Sie andererseits, dass Ihr Heil nicht von vollkommener Selbsterkenntnis abhängt. Die werden Sie erst dann erlangen, wenn Sie einmal vor Gott stehen werden. Ein Schritt in die richtige Richtung kann deshalb auch sein, damit zu beginnen, Gott für alles Gute zu danken, das Sie an sich selbst wahrnehmen können. Tatsächlich verdanken Sie Ihr Leben nicht sich selbst. Deshalb kann Ihnen diese Übung helfen, Ihre Selbstgerechtigkeit hinter sich zu lassen. Denn was immer Sie Gott verdanken, können Sie nicht mehr als eigene Leistung verbuchen und vor ihm geltend machen.

Lectio Divina: Römer 2,4; Jesaja 64,5; Psalm 62; Lukas 15,25–32

In der Geschichte von den verlorenen Söhnen und dem liebenden Vater konfrontiert Jesus die Selbstgerechtigkeit seiner Zuhörer. Achten Sie besonders auf die einladenden Worte, die der Vater an seinen älteren Sohn richtet.

Wie wirkt sich Selbstgerechtigkeit zwischen den Menschen aus? Wie im Verhältnis zu Gott? Wie kann Selbstgerechtigkeit überwunden werden?


und gesetzlich (2,17–3,20)

Textauszug (2,17–23; 3,19–20):17 Wenn du dich aber als Jude bezeichnest und dich auf das Gesetz verlässt. Wenn du stolz darauf bist, den wahren Gott zu kennen. 18 Wenn du seinen Willen am Maßstab des Gesetzes prüfen kannst 19 und dich getraust, ein Führer der Blinden zu sein, ein Licht für die, die in der Finsternis leben, 20 ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, einer, für den im Gesetz Erkenntnis und Wahrheit feste Gestalt angenommen hat. 21 Du lehrst nun andere, dich selbst aber belehrst du nicht? Du predigst, man solle nicht stehlen, aber du stiehlst? 22 Du sagst, man solle nicht ehebrechen und brichst selbst die Ehe? Du verabscheust die Götzen, aber beraubst deren Tempel? 23 Du bist stolz auf das Gesetz, aber du entehrst Gott durch Übertretung des Gesetzes?… 3,19 Spricht das Gesetz nicht von den Sünden derer, denen das Gesetz gegeben war? Somit können auch Juden nicht für sich in Anspruch nehmen, vor Gott gerecht zu sein. Die ganze Menschheit ist vor Gott schuldig 3,20 und auch das Gesetz kann niemanden vor Gott gerecht machen. Das Gesetz führt vielmehr zur Erkenntnis der Sünde.

Das Gesetz Gottes könnte eigentlich eine gute Medizin gegen die Selbstgerechtigkeit in unseren Herzen sein, weil es uns mit unserer Widersprüchlichkeit konfrontiert. Diese positive Wirkung des Gesetzes konnten wir an König David erkennen, der auf die Zurechtweisung Nathans hin bereit war, zu Gott umzukehren. Doch leider kann das Gesetz diese positive Wirkung nicht immer entfalten, weil Menschen eine beachtliche Kreativität besitzen, wenn es darum geht, ihr Selbstbild vor ihrem eigenen Urteil zu schützen und vor anderen zu behaupten.

Auch das jüdische Volk ist da keine Ausnahme. Es hatte Gottes Maßstab für Gerechtigkeit durch Mose empfangen, es hatte die Bußpredigt des Johannes gehört und die Wunder Jesu mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem gingen die meisten nicht auf seine Heilsbotschaft ein. Ihr Herz blieb hart und unbeweglich. Sie blieben in einer Haltung gefangen, die oft als “Gesetzlichkeit” bezeichnet wird.

Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit verstärken sich gegenseitig. Selbstgerechtigkeit ist eine innere Haltung. Im Unterschied dazu ist Gesetzlichkeit ein Gedankengebäude, das die Funktion hat, die ihr zugrunde liegende Haltung zu rechtfertigen. Der in Gesetzlichkeit gefangene Mensch hat um sich herum einen Schutzwall aus Gedanken errichtet, der ihn in seiner selbstgerechten Haltung bestärkt. Irgendwann durchdringt diesen Schutzwall nicht einmal mehr sein eigenes Gewissens. Statt sich seiner Wirklichkeit zu stellen, bewahrt er sein frommes Selbstbild vor jeder Stimme, die es zum Wanken bringen könnten. Bei Gesetzlichkeit handelt es sich also um eine Verhärtung des Herzens. Es ist nicht leicht, einer gesetzlich legitimierten Selbstgerechtigkeit beizukommen. Deshalb greift Paulus im vorliegenden Abschnitt zu scharfen Geschützen. Vers 17 scheint nahezulegen, dass er dabei besonders die intellektuelle Führungsschicht im Blick hat. Die geistlichen Führer Israels dachten zwar viel über Gottes Gesetz nach, doch hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, im Gesetz vor allem das zu suchen, was ihnen nützt, was ihren Einfluss stärkt und ihren Lebensstil bestätigt. Sie waren blind für ihren tatsächlichen Zustand geworden. Deshalb konfrontiert er sie ab Vers 23 mit ihrer Widersprüchlichkeit: „Ihr belehrt andere – aber euch selbst belehrt ihr nicht. Ihr predigt: »Stehlt nicht« – und stehlt selbst. Ihr sagt: »Brecht nicht die Ehe« – und tut es selbst. Ihr verabscheut die Götzenbilder – und bereichert euch am Handel mit ihnen. Ihr seid stolz auf das Gesetz; aber ihr lebt nicht danach und macht Gott Schande.“ Gegen Ende unseres Abschnitts lässt Paulus dann die Heilige Schrift selbst zu Wort kommen, die sie gerne im Munde führten: „Kein Mensch kann vor Gott als gerecht bestehen; kein Mensch hat Einsicht und fragt nach Gottes Willen. Alle haben den rechten Weg verlassen; verdorben sind sie alle, ausnahmslos. Niemand ist da, der Gutes tut, nicht einer. Ihre Worte bringen Tod und Verderben, von ihren Lippen kommen böse Lügen, tödlich wie Natterngift sind ihre Reden. Nur Fluch und Drohung quillt aus ihrem Mund. Rücksichtslos opfern sie Menschenleben. Wo sie gehen, hinterlassen sie Trümmer und Elend. Was zum Frieden führt, ist ihnen unbekannt. Sie wissen nichts von Gottesfurcht.“ Um sicherzugehen, dass sie solche Worte auf sich selbst beziehen, fährt Paulus fort: „So steht es im Buch des Gesetzes. Wir wissen aber: Was das Gesetz sagt, das gilt für die, denen das Gesetz gegeben ist. Niemand kann sich also herausreden. Die ganze Menschheit ist vor Gott schuldig. Denn das steht fest: Mit Taten, wie sie das Gesetz verlangt, kann kein Mensch vor Gott als gerecht bestehen. Durch das Gesetz lernen wir erst die ganze Macht der Sünde kennen.“

Jesus hat die Pharisäer und Schriftgelehrten seiner Tage mit ähnlich lautenden Worten konfrontiert. Er hat ihnen vorgehalten, dass sie Gottes Wort um ihrer Traditionen willen entkräften, dass sich ihr Gottesdienst in Äußerlichkeiten verliert und sinnlos ist, weil sie mit ihrem Herzen weit weg sind von Gott. Er nennt sie blinde Blindenführer und konfrontiert sie damit, dass sie mit ihren Vorschriften Gottes Gebote außer Kraft setzen.

Gemäß ihrer Vorstellung sollte es beispielsweise Männern erlaubt sein, sich durch einen Scheidebrief von ihren Frauen zu trennen - auch aus nichtigen Gründen. Andererseits gaben sie ihren kleinlichen Ausführungsbestimmungen zum Sabbatgebot einen so hohen Rang, dass sich nicht einmal Jesus an sie gehalten hat. Es ist also möglich, Gottes Gebote zu missbrauchen. Schuld daran sind nicht die Gebote selbst, sondern das sündige Wesen des Menschen, der sich nicht davor scheut, Gesetze so auszulegen, dass sie seine eigenwillige Frömmigkeit bestätigen.

Wir sollten jedoch Gottes Gesetzgebung von menschlicher Gesetzlichkeit unterscheiden können. Darum blicken wir an dieser Stelle kurz auf die Geschichte Israels zurück. Gott hatte Israel - durch Mose vermittelt - das Gesetz gegeben. Das Wesen dieses Gesetzes kam in den Zehn Geboten zum Ausdruck. Man könnte sie als Präambel oder Verfassung bezeichnen. Aber auch alle weiteren Ausführungen, wie sie schließlich im 5. Buch Mose zusammengefasst wurden, gehören zum Gesetz. Darin wurde zum Beispiel der Gottesdienst Israels geregelt, wodurch dieser vom Götzendienst anderer Völker unterscheidbar wurde. Das Gesetz regelte auch die Beziehung der Menschen untereinander. Wir finden im Gesetz strafrechtliche Konsequenzen, aber auch Regeln für Wiedergutmachung und Schutz vor unverdienter Strafverfolgung. Auch die Armen wurden durch das Gesetz geschützt. Israel war es durchaus möglich, sich an die Regeln ihres Bundes mit Gott zu halten, so wie es auch uns möglich ist, gute Staatsbürger zu sein. Das bedeutet ja nicht, dass sie immer alles richtig machen oder gar zu Paragrafenreitern werden mussten. Das hat Gott gar nicht von ihnen erwartet. Schließlich war Versöhnung ein wichtiger Teil des Gesetzes. Bereits im Alten Bund zeigt sich Gott als „Barmherzig und gnädig … geduldig und von großer Güte“.

Was sich jedoch mit dem mosaischen Gesetz gar nicht vereinbaren ließ, war Götzendienst. Genau an dieser Stelle brach das Volk Gottes seinen Bund mit Gott. Weil es sich nicht davon abkehren wollte, wurden es schließlich nach Babylon deportiert. Erst dort kam es zur Besinnung und entdeckte erneut seine nationale Identität. Weil es den Tempel als Symbol der Begegnung mit Gott verloren hatte, stand nun die Erforschung des Gesetzes im Mittelpunkt. Die Synagogen sind noch heute stille Zeugen dieser Entwicklung. Da man Sündenvergebung nicht mehr durch die im Gesetz vorgeschriebenen Opfer erlangen konnte, begann man Ersatzleistungen wie Gebet, Fasten und Almosen zu definieren. Jesus geht auf diese geistlichen Übungen übrigens in der Bergpredigt ein.

Nach der Rückkehr aus Babylon konnte der wieder aufgebaute Tempel im Jahr 515 v. Chr. eingeweiht werden. Er wurde jedoch im Jahr 167 v. Chr. durch Antiochus Epiphanes wieder entweiht. Juden mussten sich gegen die Missachtung ihres Glaubens zur Wehr setzen und reagierten darauf mit einer immer weiter gehenden Reglementierung ihres Alltags. Jedem einzelnen Gebot fügten Generationen von Schriftgelehrten zuweilen Hunderte zusätzlicher Bestimmungen hinzu. So entstand ein ausgeklügeltes gesetzliches System, das als mündliche Überlieferung bezeichnet wurde und das auf Mose selbst zurückzuführen sei. Diesem System wurde zunehmend dieselbe Autorität zugestanden, wie den schriftlich überlieferten Geboten Gottes der hebräischen Bibel. Es war nicht nur von Bestimmungen, Definitionen, Verordnungen und Vorschriften geprägt. Auch die Verdienste der Väter und verdienstliche Ersatzhandlungen kamen für die eigene Gerechtigkeit vor Gott in Betracht. Kein Wunder, dass die Stimme der Propheten in dieser Phase jüdischer Geschichte verstummte. Mag sein, dass die politische Lage zur Zeit Jesu die Erstarrung in Gesetzlichkeit weiter verstärkt hat. Israel war damals dem römischen Kaiser unterstellt und das Volk sah die Notwendigkeit, die eigene religiöse Identität zu verteidigen.

Wie auch immer: Wer Gesetzlichkeit als Problem der damaligen jüdischen Gesellschaft bestreitet, muss erklären, warum sie von Johannes dem Täufer, Jesus und schließlich auch von Paulus so deutlich adressiert wurde. Sie alle zeigen für Gesetzlichkeit auffallend wenig Verständnis. Sie erwarten, dass Gottes Wort mehr geehrt wird als menschliche Überlieferung. Sie erwarten von ihren Zuhörern, dass sie zu Gott umkehren und ihn durch ihren Glauben ehren.

Natürlich sind deshalb nicht alle Juden “gesetzlich”. Ein pauschales Urteil trifft niemals zu. Urteile verleiten uns im Übrigen dazu, unserer eigenen Neigung zur Gesetzlichkeit zu übersehen. Gesetzlichkeit kann nämlich ganz unterschiedliche Formen annehmen. Sie zeigt sich in Moralismus und Traditionalismus ebenso, wie in politischer Ideologie. Besonders uns Christen in Deutschland sollte das bewusst bleiben. Im Nationalsozialismus wurde mit den Rassengesetzen der Rahmen für die schrecklichsten Verbrechen gesetzt, die diese Welt je gesehen hat. Der Beamtenapparat wurde nach und nach zu einer Maschinerie des Todes umfunktioniert, ohne dass es zu einem breiten Aufschrei gekommen wäre. Man beraubte Juden ihrer Rechte, boykottierte sie, drängte sie in Gettos, bis sie schließlich am hellen Tage vergast, verbrannt und verwertet wurden. Die Beamten handelten ja nur nach Recht und Gesetz und zum Wohle der Menschheit. Wer auch immer direkt daran beteiligt war, konnte am Abend mit einem guten Gewissen nach Hause gehen und dort die Rolle des liebevollen Familienvaters einnehmen. Er hatte ja nur seine Pflicht getan.

Wer hat Jesus ans Kreuz gebracht? Juden und Heiden! Die Akteure im Tribunal gegen Jesus vertraten die ganze Menschheit. Jesus musste an ihrer Gesetzlichkeit sterben; an ihrer unglaublichen Fähigkeit, sich trotz offensichtlicher Bosheit im Recht fühlen zu können. Man hat ja schließlich gute Absichten. „Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ Dieses Wort des Hohepriesters führte zum Entschluss des Hohen Rats, die Tötung Jesu einzuleiten. Auch für das Böse gibt es immer gute Argumente - obwohl im Wort des Hohepriesters in diesem Fall auch ein tieferer Sinn lag.

Gesetzlichkeit ist tödlich. Es handelt sich dabei nicht nur um eine harmlose Übertreibung des Guten. Man darf sie deshalb nicht entschuldigen. Sie stellt eine ernste Bedrohung des Glaubens dar. Religiöse Eiferer aus unterschiedlichen Religionen sind oft so überzeugt von ihren Ideen, dass sie dafür durchaus bereit sind, Steine zu werfen und Häuser anzuzünden. Sie meinen, etwas gegen die Sünden der Gottlosen tun zu müssen. Deshalb geht es für sie in Ordnung, wenn sie selbst dabei sämtliche Gebote Gottes brechen. Dennoch sind sie der Meinung, Gott einen Gefallen zu tun. Wo aber Gottes Gebote gebrochen und Menschen systematisch erniedrigt werden, da müssen bei uns alle Warnleuchten angehen. Da müssen wir uns prüfen, ob wir wirklich Gott lieben, oder nur unsere frommen Ideen. Auch die christliche Welt wurde immer wieder von Gesetzlichkeit unterwandert. An dieser Stelle sollen die Worte eines Spezialisten für Theologiegeschichte genügen, um zum eigenständigen Weiterdenken anzuregen: „Tradition ist der lebendige Glaube der Toten. Traditionalismus ist der tote Glaube der Lebenden, und ich sollte hinzufügen, dass es der Traditionalismus ist, der der Tradition einen so schlechten Ruf verschafft.”


Persönliche Vertiefung

Gott will Sie nicht verdammen. Aber er will Sie durchaus in Ihrer Selbstgerechtigkeit/Gesetzlichkeit erschüttern und aufrütteln. Wenn wir Gottes Urteil über unsere Selbstgerechtigkeit nie anerkannt haben, wird uns Erlösung wenig bedeuten. Erst durch Umkehr wird ein Raum für Begegnung geschaffen.

Lectio Divina: Apostelgeschichte 22,3–11; Psalm 119,66–68; Matthäus 9,9–13; Johannes 8, 2–11

Prüfen Sie, auf welchem Fundament Ihr Glaube steht. Formulieren Sie die Verse 17–22 so, dass Sie an Ihre eigene Glaubenstradition erinnert werden. Es geht nicht darum, diese Traditionen abzulehnen, sondern darum, den eigenen Glauben nicht von ihnen abhängig zu machen.

In welchem Verhältnis stehen Gesetz und Gesetzlichkeit? Finden Sie aktuelle Beispiele dafür, wie aus sinnvollen Geboten und Regeln eine abwegige Gesetzlichkeit entstehen kann (denken Sie an Staat, Gesellschaft, Gemeinde).

Vergessen wir nicht, dass Gott auch gesetzliche Menschen liebt. Jedoch ist es nicht leicht, mit gesetzlichen Menschen zurechtzukommen. Einen hilfreichen Hinweis zu diesem Thema könnten Sie in 2. Korinther 10,3–6 finden.


Wir werden unverdient gerecht … (3,21–31)

Textauszug (21–24.27–28):21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden - doch in Übereinstimmung mit den Aussagen des Gesetzes und der Propheten. 22 Ich rede von der Gerechtigkeit Gottes, deren Grundlage der Glaube ist und die allen zugutekommt, die an Jesus glauben. Denn es gibt keinen Unterschied, 23 alle Menschen haben gesündigt und die Herrlichkeit verfehlt, zu der Gott sie bestimmt hatte. 24 Ohne es verdient zu haben, werden sie nun vor ihm gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist … 27 Wer kann da noch auf etwas stolz sein? Stolz ist dann ausgeschlossen. Etwa durch den Grundsatz der Werkgerechtigkeit? Nein, sondern durch den Grundsatz des Glaubens. 28 Wir kommen also zu dem Schluss, dass der Mensch durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt wird, unabhängig von Werken des Gesetzes.

Mit den Worten „Jetzt aber“ wird zu Beginn unseres Abschnitts spürbar, dass Paulus einen Perspektivwechsel einläutet. Seit Kapitel 1 Vers 18 hat er über einen Zustand gesprochen, der „jetzt“ in einem neuen Licht erscheint, weil Jesus die Sünden der Welt getragen und den „Zorn Gottes“ auf sich genommen hat. Nachdem Paulus das abgrundtiefe Unheil des Menschen schonungslos ans Licht gebracht hat, führt er jetzt aus, wie sich die Lage des Menschen vor Gott durch Jesus verändert hat. Zunächst resümiert er: „Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verloren, in der Gott den Menschen ursprünglich geschaffen hatte.“ Dann stellt er dieser düsteren Einsicht den hellen Glanz des Evangeliums gegenüber: „Ganz unverdient, aus reiner Gnade, lässt Gott sie vor seinem Urteil als gerecht bestehen – aufgrund der Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist.“

Gott ist uns handelnd gerecht geworden, damit wir ihm glaubend gerecht werden können. Gerechtigkeit ist ja nur deshalb ein Thema für uns, weil es unterschiedliche Personen gibt, zwischen denen sich Gerechtigkeit ereignen soll. Fragen wir uns deshalb: Wie können wir jemandem gerecht werden, der sich selbst nicht helfen kann? Wie können wir einem einsamen Menschen gerecht werden? Wie können wir einem kranken Menschen gerecht werden? Wie einem Stolzen? Wie einem Religiösen? Jesus hat auf solche Fragen mit seinem Leben geantwortet. Wie kann Gott Menschen gerecht werden, die sich in ihrer Ungerechtigkeit und Sünde so verirrt haben, dass sie nicht mehr zu ihm zurückfinden? Er hat sich selbst aufgegeben und hat ihnen Barmherzigkeit erwiesen.

Wie können nun wir diesem Gott gerecht werden? Diesem Gott, der absolut gut ist, in dem es keinen Schatten und nichts Unrechtes gibt? Was können wir ihm denn geben? Ihm fehlt doch nichts. Oder? Doch tatsächlich gibt es etwas, das nur wir ihm geben können, und das ist unser Vertrauen, unser Herz. Vertrauen ist unser erster Schritt in Richtung unserer Bestimmung, da wir Gott als unseren Schöpfer anerkennen, wenn wir ihm vertrauen. Jetzt kann er zur Quelle unseres Lebens werden. Das wollte er von Anfang an für uns Menschen sein.

Paulus betont, dass Gottes Gnade allen Menschen gilt, sowohl Juden, als auch Heiden. Allen wird das Heil auf Grundlage des Werkes Jesu zugesprochen, nicht auf Grundlage verdienstlicher Taten. Judenchristen müssen verstehen, dass diese neue Ordnung des Heils voraussetzt, dass das Urteil des Gesetzes durch den Sühnetod Jesu aufgehoben ist. Der Sühnegedanke war ein zentraler Bestandteil des Gesetzes. Er gewinnt aber erst durch das Evangelium seine endgültige Gestalt. Insofern wird das mosaische Gesetz durch das Evangelium bestätigt und vollendet.

Gott hat seinen Maßstab für Gerechtigkeit keineswegs abgesenkt. Im Gegenteil. Er hat seine Gerechtigkeit in Jesus deutlicher offenbart, als je zuvor. Das Gesetz konnte im Vergleich zu Jesus nur eine Ahnung von „Gerechtigkeit“ vermitteln. Gerechtigkeit kann nämlich erst in einem konkreten personalen Verhältnis wirklich erkannt werden. Sie ist das entscheidende Merkmal gelingender Beziehung. Deshalb konnte sich Gottes Gerechtigkeit in Jesus viel deutlicher offenbaren, als im Gesetz.

Johannes bezeugt in seinem Evangelium: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“.

Dieses Evangelium vermittelt uns einen tiefen Einblick in das Verhältnis zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Besonders dieses Evangelium vermittelt uns eine Ahnung davon, wie der himmlische Vater seinem Sohn gerecht wurde und wie der Mensch gewordene Sohn seinem Vater gerecht wurde. Wir erfahren dort aber auch, wie Jesus mit unterschiedlichen Menschen umgegangen ist und auch ihnen gerecht wird. Um von Sünden überführt zu werden, sind wir im Grunde gar nicht mehr auf das Gesetz angewiesen - obwohl es uns in dieser Hinsicht durchaus helfen kann. Hilfreicher ist jedoch, wenn wir uns an Jesus messen:

Wir haben göttliche Rechte beansprucht, Jesus aber hat seine göttlichen Rechte abgelegt und wurde Mensch. Wir richten und urteilen über andere Menschen, Jesus aber spricht sie frei. Wir schauen auf andere herab, Jesus aber dient ihnen. Wir weigern uns, Gott zu danken, Jesus aber sucht unablässig die Ehre seines Vaters. Wir klagen Gott an, Jesus vertraut ihm. Wir wollen uns selbst verwirklichen, Jesus will seiner göttlichen Bestimmung treu sein. Wir machen uns groß, Jesus macht Gott groß. Wir suchen Erfüllung in zeitlichen Dingen, Jesus sucht Erfüllung im Vater. Wir missbrauchen das Gesetz, um Menschen in die Enge zu treiben, Jesus gebraucht es, um ihnen Raum zu schaffen.

Gottes Gerechtigkeit wird schließlich am Kreuz Jesu offenbar. Im Blick darauf erkennen wir, wie ernst Gott es mit uns meint. Er lässt sich von unserer Zurückweisung und Ignoranz nicht abhalten. Er geht uns bis in den Tod hinein nach. Die meisten von uns wissen, dass es Liebe ohne Schmerz und Leid nicht gibt. Aber dass Liebe so weit geht, dass sie den Verlust des eigenen Lebens in Kauf nimmt, um den Geliebten zu retten, darin erkennen wir nicht nur das volle Maß göttlicher Gerechtigkeit, sondern auch das volle Maß göttlicher Liebe.

Doch in Jesus erkennen wir nicht nur Gottes Gerechtigkeit, sondern auch unsere eigene Bestimmung. Jesus hat mit seinem Leben deutlich gemacht, wie Gott sich das Verhältnis zu uns Menschen gedacht hat und wie sich dieses Verhältnis auf unsere menschlichen Beziehungen auswirken soll. Die Herrlichkeit, die mit Jesus auf diese Erde kam, ist nämlich die Herrlichkeit, die wir aufgrund der Sünde verfehlt haben. Sünde bedeutet ja im tiefsten Grunde, dass wir an unserer Bestimmung vorbei leben. Sündige Taten sind lediglich Folge dieses tiefer liegenden Problems.

Die innere Verbundenheit des Sohnes mit dem Vater war so grundlegend, dass wir uns das Leben Jesu, wie es in den Evangelien beschrieben wird, ohne diese Dimension gar nicht denken können. Jesus hat in seinem Verhältnis zum Vater Zuspruch, Halt, Sicherheit und Weisung erfahren. Immer wieder kam er in der Liebe seines Vaters zur Ruhe. Deshalb konnte die Herrlichkeit des Vaters auf ihn ausstrahlen.

Gott hat uns nicht dazu geschaffen, dass wir unabhängig von ihm ein erfülltes Leben führen können. Er hat uns vielmehr als soziale Wesen geschaffen. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass andere uns erkennen, uns lieben und bestätigen. Nur dann empfinden wir Sinn und Bedeutung. Diese Tatsache verweist uns darauf, dass wir im tiefsten Grunde auf Gott selbst, auf unseren Schöpfer, angewiesen sind. Ohne seine Gnade und Barmherzigkeit können wir nicht leben. Dies gilt nicht erst seit Kreuz und Auferstehung. Das war schon immer so. Solange wir das nicht wahrhaben wollen, leben wir in Sünde.

Doch durch den Glauben an Jesus können wir wieder in unsere ursprüngliche Bestimmung eintreten. Wenn wir ihm Vertrauen, verändert sich die Richtung unserer Lebensreise grundlegend. Wir hören auf, das Gute in uns selbst zu suchen und beginnen, das Gute in Gott zu suchen. Zugleich dürfen wir darauf hoffen, dass uns auf diesem Weg der Glanz göttlicher Herrlichkeit umstrahlen wird.


Persönliche Vertiefung

Wir sind dazu berufen, uns von Gott beschenken zu lassen. Bedeutet das, dass Gott uns alles gibt, was wir uns wünschen? Sicher nicht. Gibt er uns alles, was wir brauchen? Von der Bibel her können wir nur sagen, dass er uns alles Notwendige geben wird, um gemäß unserer Bestimmung leben zu können. An welcher Stelle fühlen Sie sich nach dem Lesen dieses Abschnitts dazu herausgefordert, sich von Gott beschenken zu lassen?

Lectio Divina: 2. Petrus 1,3; Lukas 18,9–14; Daniel 9,18; Jesaja 64,3–5; Jeremia 9,22–23

Was denken Sie über die Aussage, dass alle Menschen Sünder sind? Gibt es denn nicht auch gute Menschen?

Verändert die Feststellung, dass alle Menschen Sünder sind, etwas an Ihrem Verständnis des Begriffs „Sünde“?

Wenn wir Gott ignorieren, verliert unser Leben seinen Glanz. Wie können wir diesen „Glanz“ näher bestimmen?


durch Vertrauen auf Gott (4,1–25)

Textauszug (13–22): 13 Denn Abraham und seine Nachkommen haben die Verheißung Gottes nicht aufgrund des Gesetzes erhalten, Erben der Welt zu sein, sondern aufgrund der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. 14 Wäre der Empfang der Verheißung von der Befolgung des Gesetzes abhängig, wäre der Glaube (Abrahams) überflüssig und die Verheißung wirkungslos. 15 Denn das Gesetz bringt alle unter das Gericht Gottes, die es übertreten, wo aber kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung des Gesetzes. 16 Deshalb muss Gerechtigkeit auf der Grundlage des Glaubens kommen. Denn dann gründet die Verheißung Gottes auf Gnade und ist auch für alle Nachkommen gültig. Nicht nur der Nachkommen, die das Gesetz empfangen haben, sondern auch der Nachkommen, die wie Abraham glauben. 17 Wie geschrieben steht: »Ich habe dich gesetzt zum Vater vieler Völker« ist er unser aller Vater vor Gott, dem er geglaubt hat, der die Toten lebendig macht und was nicht ist, ins Dasein ruft. 18 Gegen alles, was natürlicherweise zu erwarten war, hat er voll Hoffnung geglaubt, dass er zum Vater vieler Völker werden wird, nach der Verheißung: »So zahlreich werden deine Nachkommen sein.« 19 Ohne im Glauben schwach zu werden, sah der fast Hundertjährige seinen zeugungsunfähigen Leib und den zeugungsunfähigen Leib seiner Frau an. 20 Er zweifelte nicht ungläubig an der Verheißung Gottes, sondern wurde im Glauben stark und erwies Gott Ehre, 21 fest davon überzeugt, dass Gott tut, was er verheißt. 22 Darum wurde ihm der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet.

Weil Gott die Welt geschaffen hat und höchste Autorität ist, finden wir in der Bibel keinen Maßstab für Gerechtigkeit außerhalb von ihm. Sie wird dort nicht anhand menschlicher Maßstäbe beurteilt. Gott lässt sich nur an Gott selbst messen. Seine Gerechtigkeit zeigt sich in seiner Integrität. Er ist mit seinem Wort identisch. Seine Gerechtigkeit enthüllt sich im Laufe der Zeit, indem er sein Wort hält und seine Zusagen einlöst. Seine Gerechtigkeit zeigt sich also in seiner Treue und Glaubwürdigkeit.

Sehr schön wird das im Leben Abrahams deutlich. Gott hatte ihm Nachkommen versprochen. Er stand zu seinem Wort und erfüllte sein Versprechen in einer Zeit, in der Abraham und dessen Frau Sarah bereits zeugungsunfähig waren.

Wenn Paulus im vorliegenden Abschnitt Abraham unseren Vater nennt, wird spürbar, dass er beim Schreiben dieses Abschnitts besonders Juden-Christen im Blick hatte. Diese Annahme wird auch durch den Inhalt des Abschnitts bestätigt. Paulus will deutlich machen, dass die Rechtfertigung aus Glauben nicht seine eigene Erfindung, sondern grundlegende Lehre der hebräischen Bibel ist. Er argumentiert dabei auf rabbinische Art und Weise. Ausgangspunkt ist der 3. Vers, wo er den genauen Wortlaut aus 1. Mose 15,6 zitiert: „Abram glaubte dem Herrn und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.“ Dieser Vers ist einem Zusammenhang entnommen, der für jüdische Identität grundlegend ist. In einem Bund erneuerte Gott die Zusagen, die er Abraham bereits gegeben hatte, und sprach über das Land, in dem seine Nachkommen leben würden.66

Paulus begründet mit diesem Vers zunächst das Prinzip, dass Gott einem Menschen auf der Grundlage seines Vertrauens Gerechtigkeit zuspricht. Abraham hat nach seiner Rechtfertigung durch Gott eine außerordentliche Hingabe an Gott gezeigt, was aus menschlicher Sicht als sein Verdienst in Betracht kommen könnte. Darauf hat Paulus bereits in Vers 2 angespielt. Seine spätere Hingabe an Gott war jedoch nicht Grund seiner Rechtfertigung. Der tatsächliche Grund ist im Text selbst angegeben: „Abram glaubte dem Herrn“. Aus jüdischer Sicht muss Abraham zu dieser Zeit noch als Gottloser gegolten haben.68 Als Stammvater Israels konnte er ja schließlich nicht selbst schon jüdischer Abstammung gewesen sein.

Mit dem Verweis auf eine inhaltliche Parallele bekräftigt Paulus die Gültigkeit des Prinzips, dass Gerechtigkeit aus dem Glauben kommt. Er zitiert aus einem Lied Davids, der als gottgefälliger König für jüdische Identität ebenfalls sehr bedeutend ist. In diesem Lied lobt David den Gott Israels, der ihm seine Sünde nicht zurechnet. Also war sich auch David dessen bewusst, dass er vor Gott nicht aufgrund seiner Verdienste bestehen kann, sondern nur, weil Gott barmherzig ist.

Weiter betont Paulus, dass Abraham vor Gott gerechtfertigt wurde, bevor er beschnitten war. Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt seiner Argumentation. Denn die traditionelle Beschneidung des männlichen Glieds am 8. Tag ist für jüdische Identität ebenfalls grundlegend. Sie gilt als äußeres Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Wer zu diesem Volk gehört, dem gelten die Verheißungen, die Gott verbindlich zugesagt hat, als er den Bund mit Abraham schloss.

Nachdem das Volk Israel das Gesetz durch Mose empfangen hatte, begann es, die Beschneidung mit dem Gesetz in Verbindung zu bringen. Doch wurde der Stammvater Israels vor Gott gerecht, noch bevor Israel das Gesetz empfangen hatte. Deshalb ist Abraham der Vater aller, die wie er durch den Glauben vor Gott gerecht werden. Noch immer gilt, dass Gott die Gottlosen aufgrund ihres Glaubens annimmt. Die frühere Verheißung an Abraham, er werde durch dessen Nachkommen alle Nationen segnen, hat Gott in seinem Bund mit Abraham nämlich bestätigt.70 Er knüpft an diese frühere Verheißung an, indem er Abraham kurz vor seinem Bund mit ihm zu den Sternen aufblicken lässt und zu ihm sagt: „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein“. Angesichts der grenzenlosen Weite des von Sternen erfüllten Himmels, hat Abraham die Erfüllung der Zusagen Gottes sicher nicht innerhalb ethnisch enger Grenzen erwartet. Gottes Bund mit Abraham steht tatsächlich allen offen, die wie er auf Gott vertrauen. Er enthält zwar spezielle Zusagen für Israel, er ist jedoch nicht auf Israel begrenzt. Später wird Paulus diesen Punkt weiter ausführen, indem er das Bild vom Ölbaum gebraucht, in den die Gläubigen aus den Nationen wie „wilde Zweige“ eingepfropft wurden.72

So ergeben sich aus der Betrachtung der Heiligen Schrift zwei Folgerungen. Die Erste betrifft die Nicht-Juden. Für sie besteht keinerlei Notwendigkeit, sich beschneiden zu lassen. Denn sie gelten bereits aufgrund ihres Glaubens als Nachkommenschaft Abrahams. Die zweite Folgerung betrifft die Juden, die zum Glauben an Jesus gekommen sind. Sie sollen ihre Gerechtigkeit nicht im Gesetz suchen, sondern aus Glauben leben, so wie ihr Stammvater Abraham. Dazu verpflichtet sie die Beschneidung. Das mosaische Gesetz war zwar eine notwendige Ordnung für Israel. Aber die Verheißungen, die Abraham zugesprochen wurden, werden nicht aufgrund eines vollkommenen Gesetzesgehorsams erfüllt, sondern aufgrund des Glaubens. Eine vom Gesetz abgeleitete menschliche Gerechtigkeit zählt vor Gott nicht. Er hält sich an seinen Bund mit Abraham. Dieser Bund ist ein Bund des Glaubens.74

Abschließend unterstreicht Paulus, was sowohl für Juden als auch für Nicht-Juden gilt. Alle werden aufgrund göttlicher Gnade zu Nachkommen Abrahams. Niemand kann sich seinen Vater aussuchen oder sich seine Familienzugehörigkeit verdienen. In unserem Abschnitt steht freilich nicht die genetische Abstammung im Vordergrund, sondern die rechtliche Erbfolge. Auch Nicht-Juden bekommen durch den Glauben Anteil an der Verheißung, die Gott über Abraham ausgesprochen hat. Sie erweisen sich in der Ähnlichkeit ihres Glaubens als dessen (Geistes-)Kinder. Sie verlassen sich ganz auf Gottes Barmherzigkeit und geben Gott auf diese Weise die ihm gebührende Ehre.76

Menschen, die stattdessen in sich selbst eine hinreichende Gerechtigkeit suchen, verlassen sich letztlich auf ihre eigene Leistung und machen sich selbst wichtig. Deshalb verwendet Paulus die Begriffe Glaube und Werke als Gegensatzpaar: Glaube schließt Werke aus und Werke schließen den Glauben aus.78 Glaube rechnet mit Gott, während Leistung mit sich selbst rechnet.

Paulus schließt seine Betrachtung ab, indem er den Glauben Abrahams näher beschreibt. Abraham hatte bereits die Hoffnung auf Nachkommen verloren. Er konnte im Blick auf einen Nachkommen bestimmt nicht mehr mit seinen menschlichen Möglichkeiten rechnen. Allein Gottes Zusage konnte nun zum Grund seiner Hoffnung werden. Gott hatte ihn in die Weite des Sternenhimmels blicken lassen: „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“ Als wollte er ihm sagen: „Ein Nachkomme? Was denkst du denn, mit wem du es zu tun hast? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“

Die Verse 19–21 werden in verschiedenen Bibelübersetzungen unterschiedlich akzentuiert. Ich zitiere deshalb an dieser Stelle aus der Übersetzung des Philologen Hermann Menge: „Ohne im Glauben schwach zu werden, nahm er, der fast hundertjährige Mann, die Erstorbenheit seines eigenen Leibes und den schon erstorbenen Mutterschoß der Sara wahr. Trotzdem ließ er sich im Hinblick auf die Verheißung Gottes nicht durch Unglauben irremachen, sondern vielmehr wurde er im Glauben immer stärker, indem er Gott die Ehre gab und der festen Überzeugung lebte, dass Gott das, was er verheißen hatte, auch zu verwirklichen vermöge.“

Adolf Schlatter hat darauf hingewiesen, dass ein starker Glaube dort entstehen kann, wo die Realität nicht geleugnet wird. Weil Abraham wusste, dass er sich selbst nicht helfen kann, konnte das Wort der Verheißung zu seinem einzigen Halt werden. Abraham wurde durch den Glauben befähigt, gegen den Augenschein zu hoffen,80 er verlieh ihm Zeugungskraft und eine Gewissheit, die nicht in seinem natürlichen Denken, sondern in seinem Herzen ihren Grund hatte.82

Im Unterschied zu Abraham brauchen wir jedoch nicht auf ein zukünftiges Ereignis warten. Unser Glaube ruht in dem, was Gott in Jesus Christus bereits für uns getan hat. Jesus hat die Gerechtigkeit für uns verwirklicht, die vor Gott gültig ist. In der Auferweckung Jesu hat sein himmlischer Vater bestätigt, dass Jesus die Ungerechtigkeit der Menschen stellvertretend getragen hat. In der Auferweckung stellt er sich vor den Menschen zur Unschuld seines Sohnes und erklärt dessen Gerechtigkeit zum Maßstab ihrer Gerechtigkeit.

Das Wort, auf das wir uns verlassen sollen, ist mehr als eine Verheißung. Es ist eine Person. Jesus Christus selbst ist dieses Wort. Das machen folgende Verse aus dem Hebräerbrief deutlich:

„In der Vergangenheit hat Gott in vielfältigster Weise durch die Propheten zu unseren Vorfahren gesprochen. Aber jetzt, am Ende der Zeit, hat er zu uns gesprochen durch den Sohn … Die ganze Herrlichkeit Gottes leuchtet in ihm auf; in ihm hat Gott sein innerstes Wesen sichtbar gemacht. Durch sein machtvolles Wort sichert er den Bestand des Weltalls. Nachdem er sein Leben zum Opfer gebracht hat, um uns von unseren Sünden zu reinigen, hat er sich im Himmel an die rechte Seite der göttlichen Majestät gesetzt. Er steht so hoch über den Engeln, wie der Sohnesname, den Gott ihm verliehen hat, den Engelnamen an Würde übertrifft.“


Persönliche Vertiefung

Glaube ist immer auch eine Entscheidung. Wer sich entschließt, Gott zu vertrauen, trennt sich zugleich von dem, worauf er sich zuvor verlassen hat: das eigene Gutsein, die eigene Leistung, die eigene Frömmigkeit. Denn Glaube rechnet nicht mit dem eigenen Potenzial, sondern mit dem Potenzial Gottes. Ist Ihnen das bereits bewusst geworden, als Sie Christ geworden sind?

Lectio Divina: Römer 4,5; 1. Mose 12,1–3; Hebräer 11,1–6; Jeremia 17,5–8

Wer sich auf Gott einlässt, begibt sich wie Abraham auf eine Reise des Glaubens. Versuchen Sie doch einmal, Ihren Weg im Glauben zu beschreiben.

Gott hat Abraham seinen Glauben als Gerechtigkeit angerechnet. Was bedeutet das? Wie könnten wir diesen Vorgang mit anderen Worten umschreiben?

Ist Glaube ein Gefühl? Oder was ist der wahre Grund des Glaubens?









III. Liebender Glaube (5,1–8,17)

Weil wir Gottes Liebe empfangen … (5,1–10)

Textauszug (1–5,10): 1 Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. 2 Durch ihn haben wir ununterbrochenen Zugang zu dieser Gnade, in der wir vor Gott stehen. Darüber hinaus sind wir voller Hoffnung und Vorfreude auf die zukünftige Herrlichkeit bei Gott. 3 Nicht nur das, wir rühmen uns sogar der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bewirkt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. 5 Diese Hoffnung wird nicht enttäuscht werden, weil die Liebe Gottes bereits in unsere Herzen ausgegossen worden ist durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde. 10 Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde Gottes waren, um wie viel mehr wird uns dann sein Leben selig machen, nachdem wir nun versöhnt sind.

Glaube hat Auswirkungen. Das haben wir bereits an Abraham gesehen. Wie sich der Glaube an Jesus auf uns auswirkt, erfahren wir im vorliegenden Abschnitt.

Menschen, die Gottes Anerkennung und Liebe erfahren haben, genießen Frieden mit Gott. Der erste Vers unseres Abschnitts hat etwas Triumphales. Der Friede, um den es hier geht, ist tatsächlich mehr als ein Gefühl. Er ist in der Tatsache begründet, dass Gott im Kampf gegen die Sünde gewonnen hat. Im Verlauf dieses Kampfes war er in Christus zum Objekt menschlicher Gewalt geworden. Doch in der Auferweckung Jesu hat er schließlich über alle menschlichen Abgründe triumphiert. Er hat nun seinen Konflikt mit unserer Ungerechtigkeit und Sünde ausgetragen. Jetzt ist dieser Krieg vorbei. Jetzt herrscht Friede. Wir müssen uns noch nicht einmal mit Gott versöhnen - und könnten das auch gar nicht. Er hat uns bereits mit sich selbst versöhnt. Durch unseren Glauben treten wir lediglich in diesen bereits gültigen Frieden ein, der so auch zu unserer Erfahrung wird.

Das macht uns in den konkreten Herausforderungen unseres Lebens zuversichtlich. Wir kennen den Weg zum Herzen Gottes. Wir rechnen mit seiner Gegenwart und Hilfe in unserem Alltag. Wir haben freien Zugang zu ihm und wissen, dass er unserem Mangel immer wieder begegnen wird.

Unser Blick in die Zukunft ist nicht mehr durch die Gewitterwolken des drohenden Gerichts getrübt. Und so können wir bereits unsere Gegenwart im Licht der Herrlichkeit erleben, die wir bei Gott einmal haben werden. Er hat uns ja von unserer Schuld freigesprochen. Deshalb warten wir nicht ängstlich auf das Gericht am Ende der Tage, weil der Freispruch Gottes schon heute gilt und der Grund unserer Beziehung zu ihm ist. Gott ändert nicht jeden Tag seine Meinung über uns. In seinen Augen sind wir schon mit Jesus verbunden und gelten vor ihm als geliebte Söhne und Töchter.

Nun fragen sich vielleicht manche, ob es nicht auch gefährlich sein kann, eine solche Gewissheit zu verkünden. Wenn es im Verhältnis zu Gott keinen Druck mehr gibt, könnte uns das nicht dazu verleiten, nicht mehr zur Kirche zu gehen oder in der persönlichen Lebensführung nachlässig zu werden?

Paulus scheint eine ganz andere Gefahr zu sehen. Dass Menschen nämlich das Wesen einer Beziehung zu Gott gar nicht erst begreifen könnten, solange sie mit der Frage beschäftigt sind, was sie zu diesem Verhältnis noch beizutragen haben. Wenn das Fundament nicht stabil ist, dann wackelt alles, was man versucht, darauf aufzubauen. Wenn der Glaube an Gott keine innere Gewissheit vermittelt, die auf dem vollbrachten und ewig gültigen Werk Jesu gegründet ist, dann führen wir unser Leben im Grunde auf Bewährung. Dann wird unser Verhältnis zu Gott letztlich von Angst vor dem eigenen Versagen kontrolliert. Dafür kam aber der Sohn Gottes nicht auf diese Erde. Ein solches Verhältnis zu Gott konnten Menschen auch schon vor Jesus haben.

Erst wenn sich Menschen im Blick auf Gott nicht mehr von ihrer Leistung her definieren, werden sie frei, sich im Licht seiner Liebe auf neue Weise wahrzunehmen. Dann wird die Liebe Gottes ausgegossen in ihre Herzen durch den Heiligen Geist. Diese bildhafte Ausdrucksweise macht deutlich, dass Gott uns seine Liebe ohne Maß schenkt – im Überfluss. Unsere Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit setzt ihr keine Grenzen. Wer das innerlich erfasst, kann aufatmen und wird nicht länger von der Furcht vor Strafe motiviert. Er lernt es, Gott zu lieben, indem er sich von Gott lieben lässt.

In der griechischen Sprache gibt es verschiedene Begriffe für Liebe. Im Unterschied zu erotischer und freundschaftlicher Liebe reagiert göttliche Liebe nicht auf einen äußeren Reiz, der vom Geliebten ausgeht. Während menschliche Liebe im Allgemeinen einen äußeren Anreiz erfordert, kann Gottes Liebe nur als Merkmal seines Wesens erklärt werden: Gott ist Liebe. „Die Liebe Gottes findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt“ - so hat Martin Luther einmal treffend formuliert.87

Irgendwie ahnen wir alle, dass wir eine solche Liebe nicht verdient haben. Und das stimmt auch. Dass wir leben, verdanken wir nicht uns selbst. Auch dass wir geliebt werden, verdanken wir nicht uns selbst. Alles, was wir jemals von Gott empfangen, empfangen wir nur auf der Grundlage, die Jesus für uns gelegt hat.

Unsere Vorstellung von Gott prägt die Art und Weise, wie wir ihn erfahren. Wenn wir der Ansicht sind, Gott habe uns nur auf Bewährung angenommen, wird unser Verhältnis zu ihm von sehr viel Unsicherheit geprägt sein. Wenn wir uns jedoch darauf verlassen, dass Gott uns ohne unser Zutun schon vollkommen angenommen hat, wird unser Verhältnis zu ihm stabil und belastbar. Warum sollte er uns künftig ablehnen wollen, wenn er uns schon heute ganz und gar angenommen hat?

Paulus jedenfalls ist sich seiner Beziehung zu Gott so sicher, dass ihn selbst die Erfahrung von Leid nicht von seiner Liebe trennen kann. Unverständlich klingt zunächst seine Formulierung „wir rühmen uns sogar der Bedrängnisse“. Hat Paulus nicht menschliches Rühmen vor Gott ausgeschlossen? Genau! Aber in diesem Zusammenhang sagt Paulus ja nicht, dass er vor Gott auf seine eigenen Leistungen stolz ist. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, dass er Menschen gegenüber auf Gott stolz ist. Wenn andere von ihm erwarten, dass er doch auch einmal auf etwas stolz sein soll, dann zählt er alles auf, was sie um jeden Preis vermeiden wollen: Bedrängnis, Schwachheit, Gefahr, Verfolgung. Er erzählt von Erfahrungen, die ihn auf die Gnade Gottes verweisen und seinen Glauben herausfordern.89 In solchen Situationen kann sich nämlich sein Glaube als echt und tragfähig erweisen.

Das ist eine erstaunliche Einstellung zum Leben. Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn sich meine Rechtfertigung vor Gott vor allem in Gesundheit, Reichtum und Erfolg zeigen und sie mir einen Platz auf der Sonnenseite des Lebens garantieren würde. Doch ich muss mir von Paulus sagen lassen, dass die Rechtfertigung zu einer anderen Lebenseinstellung führt. Die Mitte dieser Lebenseinstellung ist eine tiefe Wertschätzung für den Glauben, weil er letztlich ein Geschenk Gottes ist. Er muss sich nicht vor den Augen Gottes als echt erweisen, sondern vor unseren eigenen Augen. Krisen geben uns die Gelegenheit zu prüfen, ob Gott selbst der Grund unseres Glaubens ist, oder ob wir damit beschäftigt sind, unsere eigenen Grundlagen zu konstruieren.

Die Schwierigkeiten, denen wir täglich begegnen, stellen uns die Frage nach Gott: Ist dein Gott groß genug? Reicht seine Gnade aus? Liebt er dich wirklich? Darum sollen wir auch in der Anfechtung Freude finden, weil unser Glaube geläutert wird und Raum für neue Perspektiven entsteht.

Paulus ist stolz darauf, dass seine Beziehung zu Gott im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt ist, darum kann sie ihm von dieser Welt auch nicht genommen werden. Er geht nicht ängstlich und verzagt durch sein Leben, immer in der Angst, das nächste Ereignis könnte seinen Glauben über den Haufen werfen. Vielmehr erwartet er, dass er sich in den alltäglichen Herausforderungen seines Lebens bewährt.


Persönliche Vertiefung

Die Rechtfertigung bringt den Grundton der Gnade in unser Leben: “Ich bin gerecht, darumhabe ich Frieden”. Sein kommt bei dem, der glaubt, vor dem Haben. Welches Vorrecht! Wo doch die meisten Menschen gerade umgekehrt denken. Für sie kommt Haben vor dem Sein. Sie tanzen nach der Pfeife der Leistung: “Je mehr ich habe, desto mehr bin ich.”

Lectio Divina: Römer 5,10; Johannes 1,12; 2. Korinther 5,17; 2. Korinther 3,18

Was hat Glaube mit Gewissheit zu tun?

Was ist der Unterschied zwischen der Selbstsicherheit eines gesetzlichen Menschen und der Gewissheit eines glaubenden Menschen?

Kann eine allzu große Sicherheit im Verhältnis zu Gott von Gott wegführen?

Wie wirkt sich Unsicherheit im Verhältnis zu Gott aus?

Wie würden Sie einen Glauben beschreiben, der sich der Liebe Gottes sicher ist?


erleben wir einen Neubeginn (5,12–21)

Text:12 Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt und mit ihr der Tod, denn sie haben alle gesündigt. 13 Zwar war die Sünde bereits in der Welt, bevor das Gesetz kam, aber ohne Gesetz wird die Sünde nicht als Schuld angerechnet. 14 Trotzdem hat der Tod von Adam bis Mose auch über die regiert, die kein ausdrückliches Gebot übertreten hatten, so wie Adam das tat. Adam ist darum ein Bild des Todes und Jesus musste als dessen Gegenbild kommen. 15 Jedoch ist die Wirkung der Sünde und die Wirkung der Gnade unterschiedlich. Die Sünde Adams brachte den Tod über die Menschheit. Die Gnade Gottes in Jesus Christus aber bewirkt [ewiges] Leben. 16 Eine Sünde hat genügt, um Verdammnis über die Menschen zu bringen. Die gerechte Tat Jesu aber hilft aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit. 17 Eine Übertretung brachte die Menschen unter die Herrschaft des Todes. In der Gabe der Gerechtigkeit wird den Gerechtfertigten aber ein solcher Überfluss an Gnade zuteil, dass sie durch Jesus selbst zur Herrschaft [über die Sünde] gelangen. 18 Wie also durch die Übertretung des Einen über alle Menschen Verdammnis gekommen ist, so kommt nun durch die Gerechtigkeit des Einen für alle die Rechtfertigung, die zum Leben führt. 19 Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen viele Menschen zu Sündern wurden, so werden durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten. 20 Zwischen Adam und Christus wurde das Gesetz gegeben, damit die Sünde in ihrer todbringenden Macht bloßgestellt wird. Wenn nun die ungerechte Tat [Adams] so viel bewirkt hat, wie viel mehr wird dann die gerechte Tat [Jesu] bewirken. 21 Die Herrschaft der Sünde brachte den Tod. Wo aber die Gnade durch Gerechtigkeit regiert, empfangen wir ewiges Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.

Beim Lesen dieses Abschnitts spüren wir recht schnell, dass Paulus nun ganz anders über die Auswirkungen der Rechtfertigung schreibt. Bisher hat er persönlich und im Stile eines Lobpreises geschrieben. Jetzt kommt ein objektiver Zug in seine Ausführungen. Im großen Rahmen der biblischen Geschichte schildert er nicht mehr einzelne Erfahrungen, die den Glauben begleiten. Vielmehr befasst er sich jetzt mit der Wirklichkeit, die hinter diesen Erfahrungen steht.

Seine Gedanken kreisen dabei um Adam und Christus. Adam gilt als erster Mensch der alten Schöpfung, der sich von Gott abgewandt und dadurch seine Bestimmung verfehlt hat. Jesus ist der erste Mensch der neuen Schöpfung, der mit Gott verbunden blieb und so seine Bestimmung erfüllen konnte. Von beiden Gestalten gehen tief greifende Wirkungen aus. Von Adam her hat sich der Tod auf die ganze Menschheit ausgewirkt. Von Jesus her wirkt sich die Lebenskraft Gottes auf die Menschheit aus.

Besonders in der westlichen Welt neigen wir zu der Meinung, dass wir die Richtung unseres Lebens selbst bestimmen können. Wir wollen gerne die Designer unseres eigenen Lebens sein. Doch wir sind nicht so frei, wie wir meinen. Wer wir sind und was wir erfahren, wird weitgehend von Faktoren bestimmt, die wir nicht kontrollieren können.

Die Sünde Adams liegt zwar weit zurück. Sie hat aber eine Wirklichkeit hervorgebracht, die wir uns weder ausgesucht haben, noch verändern können.

Auch die Heilstat Jesu liegt weit zurück. Doch was er getan hat, wirkt immer noch nach. Am Ende der Zeit wird er triumphieren, Tote werden auferstehen und sterbliche Leiber werden verwandelt. Dass das Leben, das von Christus ausgeht, sogar den Tod besiegen wird, ist die gute Nachricht unseres Abschnitts. Davon spricht Paulus auch in seinem berühmten Kapitel über die Auferstehung: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“

Inwiefern ist die Menschheit mit ihrem Stammvater Adam verbunden? Generationen von Theologen haben sich über dieser Frage den Kopf zerbrochen. Vielleicht sollten wir dieser Frage eher von unserer Erfahrung her begegnen. Jeder von uns weiß aus Erfahrung, dass von Eltern eine prägende Wirkung ausgeht. Adam hat sich als erster Mensch von Gott abgewandt. Seine Sünde hatte als erste Sünde besonders tiefgreifende Folgen. Er konnte nicht das Licht ignorieren, ohne der Finsternis Raum zu geben. Er konnte nicht die Wahrheit ignorieren, ohne der Lüge Raum zu geben. Er konnte sich nicht von der Quelle des Lebens abwenden, ohne dem Tod Raum zu geben.

Der Begriff „Tod“ ist für Paulus ein Sammelbegriff. Viele Erfahrungen unseres Lebens haben damit zu tun. Dazu gehört vor allem die innere Entfremdung von Gott, aber auch die Entfremdung von uns selbst, ebenso die Entfremdung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Tod bedeutet Trennung. Er ist wie ein Riss, der sich durch die ganze Schöpfung zieht und auch durch unser eigenes Leben. Tod meint natürlich auch unser physisches Sterben, auf das wir unvermeidlich zugehen. Diese ganze Last haben wir von Adam, dem natürlichen Stammvater der Menschheit, geerbt. Wir wurden in eine Welt hineingeboren, die alles andere als perfekt ist. In dieser Welt stoßen wir auf Ablehnung, Egoismus, Hass und Erniedrigung. Wir erfahren Angst, Konflikt, Krankheit und Verlust. Im Unterschied zu Adam gehen wir bereits mit schlechteren Voraussetzungen an den Start, bestätigen aber auch mit unserem eigenen Leben, dass wir nicht die Freiheit besitzen, diese Last einfach abzuschütteln. Selbst wenn wir mit göttlichen Geboten unter dem Arm das Gegenteil beweisen wollen, nehmen wir uns doch nur als Gefangene der Sünde wahr - sogar gerade dann. Die höchste Erkenntnis, die wir in diesem Zustand erlangen können, ist, dass es da jemanden geben muss, der uns aus dieser Lage befreit.96

So wollen wir nun unseren Blick auf Jesus richten. Als Sohn Marias, als Mensch aus Fleisch und Blut, hat er unsere Lebenserfahrungen geteilt, ohne sich innerlich von seinem himmlischen Vater zu lösen. Zugleich ging seine Identifikation mit der Menschheit so weit, dass er es zuließ, Opfer ihrer sündhaften Triebe zu werden. Am Kreuz hat er schließlich den ganzen Fluch einer von Gott getrennten Welt an sich erlitten. Er stirbt jedoch nicht wie ein gewöhnlicher Mensch. Er stirbt als Sohn Gottes. Er stirbt als Gerechter für die Ungerechten. Deshalb geht von seinem Tod eine erlösende Wirkung aus. Seine Auferweckung bezeugt und besiegelt die erlösende Wirkung seiner stellvertretenden Hingabe. Sehr prägnant drückt Paulus diese Wahrheit im zweiten Korintherbrief aus: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“

Bereits in den Ausführungen zu 3,21–31 wurde deutlich, dass nur Gottes Gnade das Schicksal der Sünde durchbrechen kann. Diese Wahrheit wird auch durch den vorliegenden Abschnitt bekräftigt. Paulus zieht hier aber die bereits begonnene Linie weiter. In Vers 17 zeigt er auf, wohin uns die Gnade Gottes bringt: „Denn wenn wegen der Sünde des Einen der Tod geherrscht hat durch den Einen, um wie viel mehr werden die, welche die Fülle der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus.” Im Prozess der Versöhnung wurde der souveräne Gott zum Objekt der Sünde, um die, die von Natur aus Objekte der Sünde waren, in die Freiheit zu führen. Menschen, die an Jesus glauben, sind demnach dazu berufen, im Leben zu herrschen. Das bedeutet nicht, dass sich der Tod nicht mehr auf ihr Leben auswirkt. Christen teilen viele schwere Erfahrungen mit ihren Mitmenschen und werden einmal sterben. Auf welche Weise sie dennoch im Leben herrschen können, hat Paulus im vorausgegangenen Abschnitt bereits angedeutet. Seine außergewöhnliche Einstellung zum Leben können wir nach seinen Ausführungen im vorliegenden Abschnitt besser nachvollziehen. Kämpfe, Widerwärtigkeiten, Rückschläge und Spannungen ordnet Paulus seiner natürlichen Existenz zu, die er, wie alle anderen Menschen auch, von Adam geerbt hat. Durch seinen Glauben an Jesus bleiben solche Erfahrungen für ihn jedoch nicht sinnlos. Paulus war nämlich bereit, unter allen Umständen von Jesus zu lernen. Jesus hat schließlich freiwillig unter genau diesen Rahmenbedingungen gelebt und darin seine innere Verbundenheit mit seinem Vater im Himmel bewährt - bis in den Tod hinein. Doch ist er auch auferstanden. Er hat den Tod überwunden. Und so scheint bei Paulus mit jedem Eingeständnis von Hilflosigkeit, zu dem ihn das Leben immer wieder zwingt, auch die Hoffnung auf innere Erneuerung verbunden gewesen zu sein. Deshalb sind für Paulus die Belastungen des Lebens vorläufig und relativ. Was für ihn aber bleibenden Wert hat, ist seine wachsende Verbundenheit mit Jesus. Wie er im Leben herrscht, beschreibt er im zweiten Korintherbrief mit folgenden Worten:

„Ich trage diesen Schatz in einem ganz gewöhnlichen, zerbrechlichen Gefäß [= der natürliche Leib]. Denn es soll deutlich sichtbar sein, dass das Übermaß an Kraft, mit dem ich wirke, von Gott kommt und nicht aus mir selbst. Ich bin von allen Seiten bedrängt, aber ich werde nicht erdrückt. Ich weiß oft nicht mehr weiter, aber ich verzweifle nicht. Ich werde verfolgt, aber Gott lässt mich nicht im Stich. Ich werde niedergeworfen, aber ich komme wieder auf. Ich erleide fortwährend das Sterben, das Jesus durchlitten hat, an meinem eigenen Leib. Aber das geschieht, damit auch das Leben, zu dem Jesus auferweckt worden ist, an mir sichtbar wird. Denn als Lebender bin ich ständig für Jesus dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben, das Jesus hat, an meinem todverfallenen Körper offenkundig wird … Ich bin erfüllt vom Geist des Vertrauens, von dem in den Heiligen Schriften gesagt wird: »Ich vertraute auf Gott, darum redete ich.« Genauso vertraue auch ich auf Gott, und darum rede ich auch und verkünde die Gute Nachricht. Gott hat Jesus, den Herrn, vom Tod auferweckt, und ich weiß, dass er mich genauso wie Jesus auferwecken und zusammen mit euch vor seinen Thron stellen wird … Darum verliere ich nicht den Mut. Die Lebenskräfte, die ich von Natur aus habe, werden aufgerieben; aber das Leben, das Gott mir schenkt, erneuert sich jeden Tag. Die Leiden, die ich jetzt ertragen muss, wiegen nicht schwer und gehen vorüber. Sie werden mir eine Herrlichkeit bringen, die alle Vorstellungen übersteigt und kein Ende hat. Ich baue nicht auf das Sichtbare, sondern auf das, was jetzt noch niemand sehen kann. Denn was wir jetzt sehen, besteht nur eine gewisse Zeit. Das Unsichtbare aber bleibt ewig bestehen.“


Persönliche Vertiefung

Es waren nicht in erster Linie Ihre einzelnen sündigen Taten, die Sie von Gott getrennt haben. Genauso wenig sind es nun Ihre einzelnen gerechten Taten, die Sie mit ihm verbinden. Das Leben in Sünde ist einer Erblast vergleichbar. Ganz anders ist ein Leben in Gerechtigkeit vor Gott. Es ist einem Vermögen vergleichbar, das Ihnen per Erbschaft zugesprochen wird. Denken Sie einmal darüber nach und fragen Sie sich, wie diese Wahrheit Ihre Einstellung zu sich selbst grundlegend verändern könnte.

Lectio Divina: Römer 6,17; 2. Korinther 4,7–10; Römer 8,17 Lukas 15,11–24

Was hat „Sünde“ mit „Tod“ zu tun? Inwiefern erklären sich diese beiden Begriffe gegenseitig?

Dieser Abschnitt nimmt uns die Illusion, dass wir uns selbst erlösen können. Warum muss diese Illusion irgendwann zerbrechen?

Wir sind dazu bestimmt, im Leben zu herrschen. Was könnte damit konkret gemeint sein? Gibt es weitere Bibelstellen, die diesen Gedanken bestätigen oder ergänzen?


Die Sünde hat ihre Macht verloren … (6,1–23)

Textauszug (1–6, 11–14): 1 Was folgt daraus? Sollen wir an der Sünde festhalten, damit sich die Macht der Gnade Gottes erweisen kann? 2 Niemals! Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch gestorben sind? 3 Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft worden sind, auf seinen Tod getauft wurden? 4 Die Taufe stellt doch dar, dass wir mit ihm begraben wurden, damit wir nun als neue Menschen leben, wie auch Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters. 5 Denn wenn wir mit ihm eins geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in der Auferstehung vereinigt sein; 6 wissen wir doch, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt wurde, damit der Leib der Sünde abgetan sei und wir der Sünde nicht mehr dienen … 11 Begreift euch deshalb als Menschen, die für die Sünde tot sind und in Christus für Gott leben. 12 Lasst also die Sünde nicht in eurem sterblichen Leib herrschen, indem ihr dessen Begierden folgt. 13 Stellt die Glieder eures Leibes nicht der Sünde als Werkzeuge des Unrechts zur Verfügung. Stellt euch vielmehr Gott zur Verfügung als Menschen, die vom Tod zum Leben gekommen sind. Übergebt ihm eure Glieder als Werkzeuge der Gerechtigkeit. 14 Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen können, weil ihr nicht unter dem Gesetz steht, sondern unter der Gnade.

Wir kennen das von uns selbst. Wenn wir einen längeren Brief schreiben, stehen wir im inneren Dialog mit dem Empfänger. So auch Paulus. Er ist sich dessen bewusst, dass er an eine jüdisch geprägte Gemeinde schreibt. Er spürt, dass seine Landsleute inzwischen unruhig werden und nach der Rolle des mosaischen Gesetzes fragen. Dass es Sünde aufdeckt, glauben auch sie. Darüber hinaus glauben sie aber auch, es sei ein wirksames Mittel gegen die Sünde. Deshalb gibt er ihren Vorbehalten zu Beginn des neuen Abschnitts eine Stimme: „Sollen wir an der Sünde festhalten, damit sich die Macht der Gnade Gottes erweisen kann?“

Die Logik hinter dieser Ironie ist: Wenn das Gesetz nur dazu da ist, die Sünden der Menschen aufzudecken, damit sich umso deutlicher zeigen kann, wie groß Gottes Gnade ist, dann dient die Sünde der Verherrlichung Gottes. Sie verliert dann ihren Schrecken und das Motiv, sie zu bekämpfen, löst sich auf. Das käme einer Lizenz zum Sündigen gleich.

Paulus kann diese Logik nicht nachvollziehen: „Niemals! Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch gestorben sind?“ Paulus will nicht die Sünde rechtfertigen. Ihm geht es vielmehr um die Rechtfertigung des Sünders. Wenn jemand diese Gnade empfängt, rechnet Paulus mit einer grundlegenden Erneuerung der Motive seines Herzens. Der Gerechtfertigte hält sich nämlich von der Sünde nicht aus Furcht vor Strafe oder bitteren Konsequenzen fern, sondern aus Liebe.

Denken wir an dieser Stelle einen Augenblick nach. Kann uns die gute Nachricht von der bedingungslosen Gnade Gottes nicht tatsächlich dazu bringen, Sünde zu verharmlosen? Gibt es nicht tatsächlich Christen, die sich mit der Vergebung der Sünden begnügen und für den Rest ihres Lebens einfach nur auf den Himmel warten?

Erst wenn wir den Ausführungen von Paulus weiter folgen, können wir entdecken, dass er die Beziehung zu Gott als Bundesgemeinschaft versteht. Wir sind dem Thema bereits in Kapitel 4 begegnet, wo wir Gottes Bund mit Abraham betrachtet haben.

Ein kurzer Blick auf den Ehebund, der ja ebenfalls in der biblischen Offenbarung wurzelt, kann uns helfen, die Tiefe einer Beziehung zu erahnen, die auf einem Bund gegründet ist. Gott hat seine besondere Beziehung zu Israel immer wieder am Bund der Ehe verdeutlicht.

Wenn ein Mann in eine Frau verliebt ist, ist er dazu bereit, sein Leben grundlegend zu verändern. Auf einmal verbringt er nicht mehr so viel Zeit mit seinen Freunden, sein Lebensrhythmus und seine Prioritäten ändern sich und er beginnt, anders über seine Zukunft nachzudenken. Wenn er schließlich den Bund der Ehe eingeht, lässt er sein altes Leben los. Er lässt zerbrochene Beziehungen hinter sich, verabschiedet sich von den Vorzügen des Single-Daseins und hört auf, Alternativen zu erwägen. Bisherige Freiheiten und die gewohnte Unabhängigkeit tauscht er für ein Leben ein, das gemeinsam mit der Frau gestaltet wird, die ihm so viel bedeutet. Sein bisheriges Leben verblasst. Er verlässt Vater und Mutter und ist bereit für eine neue soziale Rolle. Er übernimmt Verantwortung. Für ihn beginnt ein neues Leben. Die Ehe verändert sein Leben konkret und nachhaltig. Die Veränderungen sind aber nicht nur äußerlicher Art. Er verändert sich auch innerlich. Es entsteht so etwas wie eine gemeinsame Identität. Die Individualität der Partner geht darin freilich nicht auf. Aber ihr jeweiliges Selbstverständnis erweitert sich. Denn die Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse des Partners werden zu einem Teil des eigenen Lebens, wie auch die Gaben und Möglichkeiten, die er oder sie einbringt. Die im Ehebund geschlossene Beziehung hat das Potenzial, etwas ganz Neues in die Welt zu bringen. Zum Beispiel durch zeugen und erziehen von Kindern. Sie können als Frucht des Bundes bezeichnet werden. Für manchen Leser mag diese Skizze zu ideal klingen. Aber entspricht sie nicht menschlicher Sehnsucht?

Für eine Person, die weiß, was ein Bund ist, versteht sich vieles von selbst. Eine Liebesbeziehung, die in einem Bund besiegelt wird, wird als unverdientes Geschenk erfahren. Sie kann keine Rechtfertigung für Treulosigkeit sein. Im Gegenteil. Der inneren Logik einer solchen Beziehung entspricht Hingabe und Verbindlichkeit. Sie begründet ein Rechtsverhältnis der Treue. Dafür steht als sichtbares Zeichen der Ring, den die Partner tragen. Alle diese Merkmale eines Bundes finden wir auch in unserem Abschnitt. Und das ist kein Zufall.

Jesus schloss uns Sünder in sein Herz und hat sich so sehr mit uns identifiziert, dass Paulus an anderer Stelle sagen kann, dass er am Kreuz für uns zur Sünde wurde. Die völlige Identifikation mit uns brachte ihm den Tod.

Wenn Jesus zu unserer Gerechtigkeit wird, muss etwas in uns sterben: unsere Selbstgerechtigkeit, unsere Autonomie, unser Ego. So entsteht Raum für ein ganz besonderes Verhältnis. Wer wir vor Gott sind, wird jetzt durch Jesus bestimmt. Durch ihn gehören wir zur Familie Gottes. Deshalb tragen wir jetzt seinen Namen. Wir sind Christen.

Diesen inneren Vorgang stellt die Taufe äußerlich dar. Sie ist äußeres Zeichen unseres Bundes mit Gott, der durch unseren Glauben an Jesus zustande gekommen ist. Das Untertauchen veranschaulicht die Abkehr von einem Leben ohne Gott (der alte Mensch wird beerdigt). Das Aufrichten spricht vom neuen Leben, das unserer Identifikation mit Christus folgt (der neue Mensch kommt ins Leben).

Mir scheint, dass auch viele Christen diese Zusammenhänge nicht begreifen. Sie wollen Vergebung, ewiges Leben, Heilung. Doch das eigentliche Geschenk des Neuen Bundes ist die Gemeinschaft mit Gott. Es ist, als hätten sie geheiratet, nur um weiterhin alleine zu leben. Als sei die Hochzeit ein Ziel in sich selbst. Aber die Hochzeit ist nur der Beginn einer Lebensgemeinschaft, deren Qualität sich in der Wandlung innerer Einstellungen und in einem neuen Lebensstil zeigen will.

Die innere Wandlung, die dem durch Jesus vermittelten Bund mit Gott folgt, bezeichnet Paulus als Heiligung. Heiligung ist der Prozess, in dem wir Jesus ähnlicher werden. Sie wird möglich, wenn wir beginnen, uns selbst mit anderen Augen zu sehen.

In Vers 11 fordert Paulus deshalb die Leser seines Briefs zum ersten Mal zu etwas auf. Sie sollen sich als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben.

Paulus behauptet hier nicht, dass Christen nicht mehr sündigen. Sünde ist nach wie vor real. Christen erkennen sie sogar klarer als andere Menschen. Aber das Ziel ist nicht, Sünde zu vermeiden, sondern frei für Gott zu sein.

Denken wir noch einmal an den Ehebund. Als Verheirateter sehe ich natürlich auch alle anderen Frauen, aber für mich gibt es eben nur diese eine Ehefrau. Ihr gilt meine besondere Liebe. In diesem Sinne bin ich für die anderen Frauen tot. So würden wir das natürlich nicht ausdrücken, aber der Vergleich hilft uns, zu verstehen, was Paulus hier meint. Wenn wir frei für Gott sind, sind wir tot für die Sünde. Wenn wir ihn lieben, für ihn lebendig sind, hat die Sünde keine Macht über uns. Wir sind also nicht dann von der Sünde frei, wenn wir unfehlbar sind und alles richtig machen, sondern wenn wir ein ungeteiltes Herz haben. Im Blick auf die Liebe Gottes werden wir frei, seine Liebe zu erwidern.

Was sehen wir, wenn wir uns selbst im Licht der Liebe Gottes betrachten? Das ist eine wichtige Frage. Unsere Lebensführung kann nämlich nicht besser als unser Selbstbild sein. Nur wenn wir Gottes Liebe zu uns ernst nehmen, nur wenn wir wissen, dass uns nichts von seiner Liebe trennen kann, nur dann verliert die Sünde ihre Macht. Wir tun Gott deshalb keinen Gefallen, wenn wir uns als schäbige Sünder geißeln.

Sind wir schlechte Christen, wenn wir dem Begehren des Leibes nachgeben und Unrechtes tun? Nein. Wenn die Sünde in uns Raum findet, ist dies ein Hinweis darauf, dass wir Gottes Liebe noch nicht genug Raum gegeben haben. Wir haben es versäumt, in der Wahrheit zu leben, die unser Herz frei macht.107 Trotzdem sollten wir uns angesichts unseres Versagens nicht als Sünder abstempeln. Verstehen wir uns als Sünder, werden wir unweigerlich sündigen. Unser Sein bestimmt nämlich unsere Taten. Keine noch so große Anstrengung kann daran etwas ändern. Sollte jemand das Gegenteil erwarten, kann er genauso gut eine Hecke in der Hoffnung auf eine Apfelernte pflanzen.

Auch in Korinth gab es einige Christen, die dem inneren Wandel, von dem Paulus hier spricht, noch keinen Raum gegeben hatten. Ihnen muss Paulus vorhalten: “Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht: Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, noch Knabenschänder, weder Diebe noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes erben.” Wer nun denkt, dass man sich die Beziehung zu Gott durch ein sündloses Leben verdienen muss, der sollte hier nicht aufhören zu lesen. Denn Paulus fährt fort: „Und solche sind etliche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt worden in dem Namen des Herrn Jesus und in dem Geist unseres Gottes.”

Paulus geht es also nicht in erster Linie um das Endergebnis, sondern um ein neues Selbstverständnis. Christen dürfen Sünde nicht als Ausdruck ihrer Identität verstehen. Tun sie das, leugnen sie ihre Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn. Deshalb erinnert Paulus die Korinther daran, dass ihr altes Leben durch Gottes Gnade vorbei ist und ruft sie auf, ihr Denken über sich selbst verwandeln zu lassen.

So argumentiert Paulus auch im vorliegenden Abschnitt. Er erinnert die Christen in Rom daran, dass sie Sklaven der Sünde waren, jetzt aber Sklaven der Gerechtigkeit sind. Das Wort Sklave erscheint in diesem Zusammenhang nicht angemessen zu sein, spricht Paulus doch in 8,15 vom Geist der Sohnschaft, der die Angst aus unserer Beziehung zu Gott vertreibt. Paulus ist sich dessen bewusst, dass er an dieser Stelle auf menschliche Weise von geistlichen Dingen spricht. Er will den Lesern seines Briefs die Dringlichkeit seines Anliegens bewusst machen. Sie dürfen die versklavende Macht der Sünde nicht unterschätzen. Nur Christus selbst kann diese Macht überwinden - und hat es sogar bereits getan. Darum ist für unser Leben die Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus so entscheidend. Im Blick auf ihn dürfen wir unsere alte Identität immer wieder loslassen, damit wir aus der Identität leben können, die uns von unserem himmlischen Vater zugesprochen wird.111 Es wäre absurd zu versuchen, ein christliches Leben ohne Christus zustande bringen zu wollen. Bei diesem Versuch würden wir lediglich eine religiöse Variante des Humanismus verwirklichen. Ohne Christus kann es keinen christlichen Lebensstil geben.


Persönliche Vertiefung

Wenn Sie sich für einen schlechten Menschen halten, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn sich schlechte Haltungen und Gewohnheiten in Ihrem Leben verfestigen. Ihr Leben wandelt sich nicht, indem Sie zwanghaft versuchen, sich selbst zu verbessern.

Wenn Sie gesündigt haben, müssen Sie nicht versuchen, Gott günstig zu stimmen. Ihr himmlischer Vater wird sich niemals von Ihnen abwenden. Sie können Gott nicht verändern. Das ist auch überhaupt nicht nötig. Vielmehr müssen Sie Ihr eigenes Selbstbild ändern und im Einklang mit Ihrer wahren Identität lernen, Sünde zurückzuweisen.

Lectio Divina: Johannes 15,15–17; Jesaja 61,1; Galater 5,13–14 1. Korinther 6,19

Wie wirken sich Beziehungen auf unsere Identität aus?

Was sagen wir solchen Christen, die Sünde entschuldigen, indem sie auf ihre Identität verweisen? Beispiele: „Ich bin halt ein Untreue-Typ“, „Ich bin halt homosexuell“, „Ich bin halt Kind eines Alkoholikers“ etc.

Wie können wir auf solche Aussagen auf dem Hintergrund des vorliegenden Textes reagieren?


weil wir nicht mehr auf uns selbst gestellt sind … (7,1–25)

Textauszug (1.4–6):1 Oder wisst ihr nicht Brüder - ich rede ja zu solchen, die sich im Gesetz gut auskennen-, dass das Gesetz für einen Menschen nur so lange Geltung hat, wie er lebt? … 4 Versteht euch jetzt also als Menschen, die durch ihren Glauben am Tod Christi teilhaben und deshalb für das Gesetz tot sind. Denn nun gehört ihr dem, der von den Toten auferweckt ist, damit euer Leben für Gott Frucht bringt. 5 Solange wir dem Fleisch ausgeliefert waren, erregte das Gesetz sündige Leidenschaften in unseren Gliedern, sodass wir dem Tod Frucht brachten. 6 Jetzt aber, wo wir dem Gesetz gegenüber gestorben sind, das uns in diesem Zustand gefangen hielt, sind wir dazu befreit, Gott in der neuen Wirklichkeit des Geistes zu dienen und nicht mehr in der alten des Buchstabens.

Paulus hat zuletzt den Einwand seiner Kritiker abgewehrt und gelehrt, dass wir durch die Lebensgemeinschaft mit Christus in unserer Identität verwandelt und zu einem neuen Leben befähigt werden. Nun geht er zur Offensive über und widerspricht der inneren Logik ihrer Argumente direkt, weil diese auf der Annahme gründen, das mosaische Gesetz sei ein wirksames Mittel gegen die Sünde.

Zu diesem Zweck bezieht er sich erneut auf die Taufe und damit auf das Wesen einer Beziehung zu Gott im Neuen Bund. Die Taufe markiert das Ende eines Lebens ohne Gott. Mit ihr beginnt zugleich die Lebensgemeinschaft mit Christus, der in Kreuz und Auferstehung über unsere Sünde triumphiert hat. Welche Bedeutung kann dann noch das Gesetz für einen Menschen haben, der Jesus nachfolgt? Es darf nicht mehr im Zentrum seines Lebens stehen, weil nun Jesus diesen Platz beansprucht. In der Lebensgemeinschaft mit ihm zu bleiben und Gott im Geist der Liebe zu dienen, das hat für ihn nun höchste Priorität.

Paulus ist sich dessen bewusst, dass viele seiner Landsleute hier nicht folgen wollen. Sollen sie denn das Gesetz als Komplize der Sünde werten? Diesem Gedanken widerspricht Paulus eindeutig. Für ihn ist das Gesetz heilig, gerecht und gut. Er würde wohl nicht zögern, zusammen mit den Psalmisten in ein Loblied auf das Gesetz einstimmen. Das Gesetz ist nicht in sich selbst schwach, aber es scheitert an der Schwäche des Menschen - und zwar nicht, obwohl es göttlich ist, sonderngerade weil es göttlich ist. Zwischen Gott und Mensch liegen nämlich Welten: Gott ist Geist und der Mensch nur Fleisch. Als sterbliches Wesen kann er nichts aus sich selbst hervorbringen, das ewigen Wert hätte.

Paulus begründet seinen Standpunkt zu Beginn des 7. Kapitels aus dem Gesetz selbst. In Vers 1 beginnt er mit der allgemein anerkannten Aussage, dass das Gesetz nur Autorität über lebende Personen hat. Der Anspruch des Gesetzes hört auf, wenn ein Mensch stirbt. Dieses Prinzip erläutert er dann beispielhaft am jüdischen Eherecht - und zwar aus der Perspektive der Ehefrau. Das Gesetz erlaubte ihr nicht, sich scheiden zu lassen. Wenn ihr Ehemann keine Scheidung wollte, konnte sie nur auf dessen Tod warten. War er gestorben, durfte sie einen anderen Mann heiraten.

Der Vergleichspunkt ist, dass kein Gesetz über den Tod hinaus bindend ist. Indem Paulus sein Beispiel aus der Perspektive der Frau darstellt, wird den jüdisch geprägten Briefempfängern bestätigt, dass sie sich dem Gesetz tatsächlich nicht eigenmächtig entziehen können. Das mosaische Gesetz ist seit dem Bundeschluss am Sinai für alle Juden verbindlich. Doch inzwischen hat Jesus das Gesetz erfüllt. Kraft seines stellvertretenden Todes hat er die bindende Macht des Gesetzes aufgehoben. Gott widerruft das Gesetz zwar nicht. Es hat seinen Geltungsbereich und seinen Sinn. Aber es ist nicht mehr die Grundlage des Bundes zwischen ihm und seinem Volk. Deshalb gilt: Wer an Jesus glaubt, ist Jesus verpflichtet. Wer das begreift, ändert nicht nur seine Haltung zur Sünde, wie wir im 6. Kapitel gesehen haben. Er ändert auch seine Haltung zum Gesetz, was wir nun im 7. Kapitel erfahren. Denn nicht die Furcht vor Strafe soll ihn zur Nachfolge motivieren, sondern die Freude daran, mit Jesus verbunden zu sein. Wer sein Verhalten nur deshalb ändert, weil er sich vor Strafe fürchtet, hat noch nicht die Gerechtigkeit begriffen, die ihm durch Jesus geschenkt ist.

Gleich zu Beginn dieses Kapitels legt Paulus also die Alternativen ganz klar auf den Tisch. Entweder wir gründen unsere Beziehung zu Gott auf dem Gesetz. Dann wird das Gesetz an uns bewirken, was es immer schon bewirkt hat: Es verurteilt unsere Fehler, Schwachheiten und Sünden. Als Menschen, die unter dem Urteil Gottes stehen, sind wir dann aber von seiner Gnade und Liebe abgeschnitten. Wir fühlen uns abgelehnt. Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Entsprechend sehen die Früchte eines Lebens aus, das unter dem Gesetz steht. Durch Jesus gibt es aber eine Alternative. Im Glauben an ihn sind wir mit Gott versöhnt und können seinem Anspruch genügen. Im fortgesetzten Empfang seiner Güte werden wir lebendig und bringen, wie ein gesunder Baum, gute Frucht. Damit wird sich Paulus in Kapitel 8 weiter befassen.

Zunächst lädt er aber insbesondere seine Landsleute dazu ein, ehrlich auf ihr eigenes Leben unter dem Gesetz zurückzublicken. Hatte ihnen das Gesetz geholfen, heiliger zu werden? Nein, das Gesetz konnte ihnen nur zeigen, wie elend und arm sie eigentlich sind. Paulus hilft ihnen bei ihrem persönlichen Rückblick, indem er ab Vers 9 seine eigene Erfahrung reflektiert. Er blickt zurück und deutet seine Erfahrung im Licht seiner gegenwärtigen Erkenntnis.

In seinen Ausführungen spielt der Begriff Fleisch eine zentrale Rolle. Vom Wortgebrauch im Alten Testament herkommend, bezeichnet Fleisch die materielle Natur des Menschen. Menschen sind Fleisch. Paulus könnte auch vom menschlichen Körper sprechen. Indem er aber den Begriff Fleisch wählt, betont er die Vergänglichkeit, Schwachheit und Gebrechlichkeit unseres biologischen Daseins. Diese Einsicht wird durch Vers 24 bestätigt, in dem er alternativ vom todverfallenen Leib spricht.

Die tief greifenden Forderungen des Gesetzes haben das Potenzial, einen von Stolz erfüllten Menschen zu demütigen. Sofern er sich um die Einhaltung des Gesetzes bemüht, wird er sich bald nur noch als Fleisch wahrnehmen - in all seiner Schwachheit und Unzulänglichkeit. Das heilige Gesetz Gottes offenbart nämlich den tiefen Graben zwischen der Welt Gottes (der Welt des Geistes) und der sichtbaren Welt (der Welt des Fleisches), zu der wir von Geburt an gehören. Indem Paulus Geist und Fleisch gegenüberstellt, kontrastiert er das Ewige und das Zeitliche, das Heilige und die Sünde. Unser Geist vermag sehr wohl das Gute an Gottes Gesetz zu erkennen. Er vermag sogar das Gute zu wollen. Das Fleisch aber ist schwach und kann die geforderte Gerechtigkeit nicht verwirklichen.

In der westlichen Welt sind wir stark vom griechischen Denken geprägt. Wir erkennen den tiefen Graben zwischen Geist und Fleisch eher im Scheitern an unseren Idealen und guten Vorsätzen.

Das mosaische Gesetz aber ist mehr als ein Ideal. Es löst nicht nur eine Spannung in der Beziehung des Menschen zu sich selbst aus, sondern vor allem im Verhältnis zu Gott. Um das zu verdeutlichen, greift Paulus das Gebot “Du sollst nicht begehren” auf. Es ist das einzige Gebot, das nicht nur die sündige Tat verurteilt, sondern bereits die sündige Haltung des Herzens. Es macht eine rein formelle Erfüllung des Gesetzes unmöglich. Wer auch immer diesem Gebot mit seinem Leben entsprechen will, findet sich bald in einem Dilemma wieder. Denn unser todverfallener Leib hat viele Bedürfnisse. Das ist im Grunde noch nicht das Problem. So sind wir geschaffen. Jedoch werden wir zu Sklaven dieser Bedürfnisse, wenn wir uns von der Angst bestimmen lassen, zu kurz zu kommen. Wie leicht vergessen wir dann unsere Grundsätze, wenn die Erfüllung unserer Bedürfnisse behindert wird. Auch ein frommer Mensch kann da sehr schnell seine Verantwortung vor Gott vergessen. Wenn es um unsere Existenz geht, fällt es uns schwer, Gott zu vertrauen. Da nehmen wir unser Schicksal doch lieber selber in die Hand. So eben wie Adam und Eva im Garten Eden. Weil wir tief in unserem Inneren wissen, dass unsere Existenz zerbrechlich ist, ist unser Leben von Sorgen erfüllt: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Wie können wir unsere Zukunft absichern? Wir vergleichen uns mit anderen und begehren das, was sie uns voraushaben. Wir werden neidisch, rechthaberisch und lieblos. Leicht übertreten wir da eine vom göttlichen Gesetz markierte Grenze. Wir treffen falsche Entscheidungen, sprechen verletzende Worte, tun das Falsche und unterlassen das Gute. Denn die Sorge um unsere Existenz liegt uns näher als der Wunsch, Gott so zu kennen, dass wir ihm vertrauen können. Diese Haltung ist typisch für den alten Menschen, über den Paulus schon im letzten Kapitel geschrieben hat.

Unbestritten bleibt: Wer sich an Gottes Gebote hält, wird davon profitieren. Nicht jedes Gebot ist uns eine Last. Mir persönlich ist glücklicherweise noch niemand begegnet, der seine Leidenschaft zum Töten gerade nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Doch dieses eine Gebot - du sollst nicht begehren - hat es in sich. Mir scheint, dass uns Gott durch dieses Gebot zum Vertrauen provozieren will. Er will zu unserem Gegenüber werden. Doch wie kann das gelingen?

Manche Menschen müssen erst an das Ende ihres Vermögens kommen, bevor sie die Hilfe Gottes für sich in Anspruch nehmen wollen. Paulus war ein solcher Mensch. Im Rückblick auf sein Leben als Pharisäer muss er sich eingestehen, dass ihm das Gesetz keine lebendige Beziehung zu Gott beschert hatte. Im Gegenteil: Es brachte ihm den geistlichen Tod. Denn da, wo Gottes Gebot zur fortwährend anklagenden Instanz wird, ist der Mensch vom Leben (aus Gott) abgeschnitten. Als Angeklagter wagt er noch nicht einmal zu hoffen, dass Gott sich noch zu ihm stellen könnte. Das ist ein Teufelskreis.

Es ist hoffentlich deutlich genug geworden, dass das Fleisch als solches nicht böse ist. Es ist einfach nur schwach. Die Sünde ist böse. Sie überwältigt den Menschen zunächst innerlich, bevor sie sich körperlich und damit auch äußerlich sichtbar manifestiert. Es ist wie bei einer Gitarre. Der Ton entsteht durch die Schwingung einer Saite. Der Klangkörper verstärkt den Ton lediglich. In diesem Sinne wohnt die Sünde im Fleisch. Das muss aber nicht so sein, wie wir in Kapitel 8 sehen werden.

Es fällt auf, dass Paulus im Rückblick auf ein Leben unter dem Gesetz die Ursache seines Versagens nicht in einem Mangel an Leistung sucht. Denn es gibt nichts, was er auf sich allein gestellt zusätzlich hätte tun können, um die Sünde doch noch zu überwinden. Er stellt einfach nur fest, dass er die Macht der Sünde am eigenen Leib erfahren hat. Aber sie gehört nicht zu ihm. Sie ist für ihn wie eine fremde Macht, die sich seiner bemächtigt hat. Wie ein Virus, das seinen Körper infiziert und schwächt.

Letztlich sündigen wir doch nicht wegen einer genetischen Veranlagung, sondern weil uns die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott fehlt. Zu dieser Erkenntnis kann uns das Gesetz durchaus führen. Es entlarvt, dass wir selbst im religiösen Eifer auf uns selbst setzen, statt auf ihn. Deshalb scheitern wir.

Doch das Gesetz hat noch einen anderen Sinn. Es verweist auf Jesus, unseren Erlöser. Er ist sicher der Einzige, der seine Bedürftigkeit niemals verleugnet und zugleich niemals sein Vertrauen auf Gott verloren hat. Selbst im Garten Gethsemane konnte er beten: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“.

Wenn wir unser Leben diesem Herrn unterstellt haben, sollten wir unsere Besserung nicht mehr von niedergeschriebenen Geboten erwarten. Denn Gott hat etwas Besseres für uns: Er will seinen Geist in uns wohnen lassen, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.


Persönliche Vertiefung

Könnte Ihr „Gesetz“ nicht auch Ihr eigener Anspruch an sich selbst sein? Wenn Sie glauben, dass Gott Sie so beurteilt, wie Sie sich selbst beurteilen, dann folgen Sie zwar nur Ihrem eigenen Gesetz. Aber das kann zu einer ähnlichen Verzweiflung führen, wie Paulus sie in diesem Kapitel beschreibt.

Lectio Divina: Johannes 3,4–6; Römer 7,5–6; Psalm 103,13–17

Bedenken Sie folgendes Zitat und bringen Sie es in Zusammenhang mit unserem vorliegenden Abschnitt:

„Der Abstand zwischen Gott und dem menschlichen Vermögen ist so gewaltig, dass nur eine kindliche Theologie nicht kindisch ist.”

Jesus sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.”

Diskutiert in der Gruppe folgende Aussagen: Das Gesetz …

… steht nicht zwischen mir und Gott, sondern Jesus steht dazwischen. Er ist mein Mittler.
… darf mich nicht dazu verleiten, auf mich selbst, statt auf Christus zu vertrauen.
… darf mich weder stolz machen, noch darf es mich in Minderwertigkeitsgefühlen ertränken, weil meine Identität von Jesus bestimmt wird.


sondern Gottes Geist uns beisteht (8,1–17)

Textauszug (1–9.12–17): 1 Es gibt also keine Verdammnis mehr für die, die in Christus Jesus sind. 2 Denn, wenn du mit Jesus Christus verbunden bist, stehst du nicht mehr unter der Gesetzmäßigkeit, dass Sünde zum Tod führt. Für dich gilt jetzt die Gesetzmäßigkeit des Geistes, dass dich nämlich ein Leben mit Jesus Christus lebendig macht. 3 Was dem Gesetz unmöglich war, weil es an der sündigen Natur des Menschen scheiterte, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in Gestalt des sündigen Fleisches, um die Sünde im Fleisch zu verurteilen. 4 So wird, was das Gesetz zurecht fordert, in uns erfüllt, die wir nicht mehr nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist leben. 5 Denn solche, die fleischlich gesinnt sind, werden auch vom Fleisch bestimmt. Die aber geistlich gesinnt sind, lassen sich vom Geist Gottes bestimmen. 6 Die Gesinnung des Fleisches bringt den Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden. 7 Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn sie respektiert Gott nicht und kann darum seinem Gesetz unmöglich untertan sein. 8 Wer aus seinem eigenen Vermögen heraus Gott gefallen möchte, dem wird es nicht gelingen. 9 Ihr werdet jedoch nicht mehr von eurer alten Natur bestimmt, sondern seid unter der Herrschaft des Geistes, da ja, wie ich voraussetze, Gottes Geist in euch wohnt … 12 So müssen wir also nicht den Ansprüchen des Fleisches entsprechen. 13 Wenn ihr euch dennoch nach dem Fleisch richtet, befindet ihr euch auf dem Weg des Todes. Wenn ihr aber in der Kraft des Geistes Gottes die schlechten Impulse des Fleisches besiegt, werdet ihr leben. 14 Alle, die sich von Gottes Geist leiten lassen, sind seine Söhne und Töchter. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, sodass ihr euch erneut fürchten müsst. Sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, Erben Gottes und Miterben Christi.

Wir fühlen uns im Innersten bedroht, wenn wir von anderen Menschen abgelehnt und verurteilt werden. Als Christen wissen wir auch um eine dämonische Form der Anklage, die uns schwer belasten und niederdrücken kann. Der Zusammenhang macht jedoch klar, dass Paulus hier vom Urteil Gottes spricht, auf das alle Menschen zugehen. Dass er uns zurecht verurteilen kann, weiß unser Gewissen, besonders dann, wenn wir ernsthaft versucht haben, seinem Anspruch zu genügen. Paulus wusste aus eigener Erfahrung, dass Gott mehr zu fürchten ist als alles andere.127 Am Ende des 7. Kapitels hatte er der verzweifelten Lage der Menschheit einen persönlichen Ausdruck verliehen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“. Im ersten Vers des 8. Kapitels macht er nun deutlich, dass dieser verzweifelte Schrei gehört wurde: „So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“ Gott selbst hat dafür gesorgt, dass Menschen vor ihm bestehen können. Sein Heil gilt allen, die in Christus sind, ob sie zuvor dem jüdischen Gesetz unterworfen waren oder nicht.

Doch was bedeutet es, in Christus zu sein? Paulus betont mit dieser Wendung die objektive Tatsache, dass Gott, ungeachtet eines denkbaren Beitrags unsererseits, bereits zu unserem Vorteil gehandelt hat. Im 2. Korintherbrief wird dies besonders deutlich: „Das alles aber kommt von Gott. Obwohl ich sein Feind war, hat er sich durch Christus mit mir ausgesöhnt und mir den Auftrag gegeben, seine Versöhnungsbotschaft zu verbreiten. So lautet diese Botschaft: In Christus hat Gott selbst gehandelt und hat die Menschen mit sich versöhnt. Er hat ihnen ihre Verfehlungen vergeben und rechnet sie nicht an. Diese Versöhnungsbotschaft lässt er unter uns verkünden.“

Gott hat als Mensch den Graben zwischen der natürlichen und der geistlichen Welt überbrückt. Die sichtbare und die unsichtbare Welt sind in ihm kein Widerspruch mehr. In Jesus kam wieder zusammen, was zusammengehört.132 Wenn wir daran glauben, dass Jesus die trennende Macht der Sünde überwunden hat, beginnt unsere Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit zu heilen. Dann verlassen wir nämlich den Raum des natürlichen Denkens (das dem vergänglichen Fleisch zuzurechnen ist) und treten in den Raum des Geistes ein. In diesem Raum zählt, was Gott für uns getan hat und uns durch seinen Geist vermittelt. Unser Glaube erzeugt nicht diese Wirklichkeit, sondern lebt aus dieser Wirklichkeit. Paulus bezeichnet sie auch als Gesetz (Prinzip) des Geistes, das vom Gesetz (Prinzip) der Sünde und des Todes befreit. Wenn wir zulassen, dass seine Gnade zum Grund unserer Beziehung zu ihm wird, kann er die Liebe in uns bewirken, die er von uns erwartet. Als Schöpfer erwartet er ja zurecht, dass wir ihn „lieben von ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und unsere Mitmenschen wie uns selbst.“

Auch wenn Paulus im vorliegenden Text wiederholt von der Rechtfertigung und dem daraus folgenden Lebenswandel - der Heiligung - spricht, betrachtet er hier das Heil Gottes aus einer neuen Perspektive. Jetzt kommt er nämlich auf die verborgene Kraft zu sprechen, durch die all das ins Leben kommt. Diese Kraft ist nicht menschlicher, sondern göttlicher Art. Es ist die Kraft des Heiligen Geistes. Hatte doch nicht das Gesetz versagt, sondern der Mensch, dem die vom Gesetz geforderte innere Realität fehlt. Genau darum geht es beim Empfang des Heiligen Geistes. Erst wenn wir die Realität der Liebe Gottes durch Gottes Geist empfangen, kann sie sich auch in und durch uns auswirken.

Rechtfertigung, Heiligung und Geisterfüllung können in unserer Biografie mit unterschiedlichen Erfahrungen verknüpft sein. Unsere Erfahrungen sollten uns jedoch weder zum Vergleich mit anderen, noch zu einer Art Stufendenken verleiten. Sie qualifizieren uns nämlich nicht als gute, bessere und beste Christen.

In der Denkweise von Paulus haben alle heilsamen Erfahrungen mit Gott einen gemeinsamen Brennpunkt: Tod und Auferstehung Jesu Christi. Von hier aus wirkt Gott zu unserem Heil. Auch wenn wir dieses Heil in dieser Welt nur bruchstückhaft und vorläufig erfahren, ist es in Gottes Augen bereits vollendete Wirklichkeit.

Christen, die mit dem Alten Testament vertraut waren, musste nicht lange die belebende Wirkung des Heiligen Geistes erklärt werden, schließlich wird bereits auf den ersten Seiten der Bibel von ihm gesprochen. Der Bericht über die Erschaffung des Menschen hilft uns, unser Dasein besser zu verstehen. Gott hat in uns drei Dimensionen miteinander vereint: Körper, Seele und Geist. Unsere Existenz ist ohne Gottes Geist nicht denkbar. Das ist nebenbei bemerkt auch der Grund, warum wir unsere Sehnsucht nach Gott niemals ganz auslöschen können.

Selbst nach dem Sündenfall - so wird uns im Alten Testament berichtet - hat Gottes Geist menschliche Kreativität beflügelt, geistliche Führer bevollmächtigt und Propheten inspiriert. Wo der Heilige Geist wirkt, wird es immer irgendwie lebendig. Gott ist als Schöpfer also nicht nur das große Gegenüber seiner Schöpfung. Im Wirken seines Geistes ist er innerhalb seiner Schöpfung präsent und erfahrbar. Deshalb konnte das jüdische Volk auf einen reichen Erfahrungsschatz mit Gott zurückblicken.

Doch die Propheten des Alten Bundes hatten auch ein neues, vertieftes und umfassendes Wirken des Heiligen Geistes vorhergesagt. In kommenden Zeiten werde Gott durch seinen Geist sogar das menschliche Herz erneuern und gewöhnliche Menschen außergewöhnlich begaben.

Jesus war der erste Mensch, der in vollem Umfang in der Kraft des Geistes lebte - um in der Sprache der Evangelien zu formulieren. Er war der erste Gerechte, der aus dem Glauben lebte - um mit Paulus zu formulieren.139 Das Band der Liebe, das ihn mit dem himmlischen Vater bis in den Tod hinein verband, war der Heilige Geist. Auf diese Weise wurde er zum Gegenbild Adams - wie in Kapitel 5 bereits dargelegt wurde.

Deshalb bleiben wir weit hinter dem zurück, was Gott für uns vorgesehen hat, wenn Jesus für uns nur zu einem guten Beispiel wird, dem wir nun aus eigenem Antrieb heraus nacheifern sollen. Denn wir benötigen einen anderen Antrieb. Wir benötigen die Realität Gottes in unserem Leben. Deshalb sollen wir um seinen Geist bitten. Er lässt uns an der Beziehung teilhaben, die zwischen Vater und Sohn bereits besteht. Innerhalb der Trinität fließt nämlich ein Strom der Liebe. In diesen Liebesstrom will uns der Heilige Geist hineinziehen, damit unser Verhältnis zu Gott lebendig bleibt. Paulus schreibt: „Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.” Der Heilige Geist bewirkt also, dass wir Gott als unseren Vater und uns selbst als seine Söhne und Töchter anerkennen. Er macht uns dieses Verhältnis zwischen Vater und Sohn zugänglich, das Jesus bereits unter den Bedingungen dieser Welt voll und ganz ausgelebt hat. Es ist eine vertrauensvolle Beziehung, die sich in der Anrede „Abba, lieber Vater“ ausdrückt. Abba ist ein aramäisches Wort, das dem deutschen Ausdruck Papa vergleichbar ist. Doch geht es hier nicht um kleinkindliche Sprache, die man irgendwann hinter sich lässt. Aus dieser Art von Beziehung wachsen wir nämlich nicht allmählich heraus, wir wachsen vielmehr in sie hinein. Ist es doch diese Art von Beziehung zu Gott, die für Jesus selbst grundlegend war, als er leibhaftig unter uns lebte.

Die Verse 5–13 habe ich in meiner Betrachtung bewusst etwas vernachlässigt, um besser verdeutlichen zu können, wie Paulus das Thema hier weiterentwickelt. So viel sei dazu gesagt: Die Verse 5–13 lese ich als Warnung vor einem Rückfall in eine gesetzliche Haltung. Den Abschnitt müssen wir meiner Einschätzung nach auf dem Hintergrund von Kapitel 7 lesen. Denn wer versucht, Gott weiterhin durch das Gesetz gerecht zu werden, wird unweigerlich auf sich selbst zurückgeworfen und wird dabei die Freude eines Kindes an seinem Vater verlieren.145

Das Kindschaftsverhältnis zu Gott ist aber die eigentliche Triebfeder des christlichen Lebens. Wenn Sie nicht zulassen, dass Christsein für Sie zur Herzenssache wird, werden Sie selbst die besten Argumente für einen christlichen Lebensstil nicht überzeugen können.


Persönliche Vertiefung

Können Sie Gott mit einem freien Herzen als Vater ansprechen? Dann dürfen Sie davon ausgehen, dass der Geist Gottes in Ihnen wohnt. Geben Sie ihm Raum. Er will Ihr Vertrauen zu Gott immer wieder erneuern. Sie dürfen um seine Hilfe und um seine Gaben bitten.

Lectio Divina: Römer 8,1–2; Lukas 11,13; Hesekiel 36,26–27; Joel 3,1–2

Ist jemand, der „nach dem Geist“ lebt, vollkommen? Wenn nicht, was sind dann die Merkmale einer geistlichen Gesinnung?

Der Geist Gottes verbindet uns mit Gott. Inwiefern verbindet er uns auch mit uns selbst?

Wie können wir lernen, uns vom Heiligen Geist führen zu lassen?









IV. Hoffender Glaube (8,18–11,36)

Gottes Geist schenkt Hoffnung … (8,18–39)

Textauszug (18–23.26–29):18 Ich bin überzeugt, dass die gegenwärtigen Leiden nicht ins Gewicht fallen, gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn die gesamte Schöpfung wartet voll Sehnsucht auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. 20 Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; doch auf Hoffnung hin. 21 Denn auch die Schöpfung wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei werden und an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes teilhaben. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick in Geburtswehen liegt. 23 Doch nicht allein die Schöpfung. Auch wir selbst, obwohl wir bereits Gottes Geist als Erstlingsgabe empfangen haben, seufzen in unserem Herzen. Auch wir warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne und Töchter Gottes offenbar werden … 26 Weil wir noch nicht am Ziel sind, nimmt sich der Geist Gottes unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen. Doch er verwendet sich für uns und bringt zum Ausdruck, was wir nicht in Worte fassen können. 27 Gott aber, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist. Denn er verwendet sich für die Heiligen, wie es Gott entspricht. 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten dienen, denen, die nach seinem Plan berufen sind. 29 Denn die er im Voraus erkannt hat, hat er dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei.

Gottes Geist schenkt Hoffnung. Diese Blickrichtung prägt den Inhalt der nächsten drei Abschnitte. Doch kann man überhaupt etwas Zuverlässiges über die Zukunft aussagen? Davon ist Paulus überzeugt, weil etwas geschehen ist, das die Zukunft in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt.

Hoffnung ist für unser Leben grundlegend wichtig. Unsere Antwort auf die Frage nach der Bestimmung unseres Lebens wird sich zwangsläufig in unserer gegenwärtigen Haltung zum Leben spiegeln. Wenn wir davon überzeugt sind, dass mit dem Tod alles aus ist, werden wir feststellen, dass sich in uns eine zunehmend gleichgültige, egoistische und lustbetonte Haltung entwickelt; ganz nach dem Motto: „Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!“

Deshalb geht es im Blick auf die christliche Hoffnung nicht einfach nur um billige Vertröstung, wie Karl Marx gemeint hat. Die Hoffnung auf die Auferstehung ist deshalb realistisch, weil Jesus von den Toten auferstanden ist - und zwar im Rahmen der herrschenden Lebensbedingungen von Raum und Zeit.

Paulus erklärt in diesem Abschnitt, dass uns die Verwandlung unseres Leibes nach dem Vorbild der Auferstehung Jesu erwartet. Dann werden wir „an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben“. Nicht nur der Charakter Jesu wird sich ungebrochen in uns widerspiegeln. Sogar unser Körper wird dann vom Fluch der Vergänglichkeit erlöst sein. Wie Gott den Leib seines Sohnes in der Auferweckung verwandelt hat, wird er auch unsere Leiblichkeit so verwandeln, dass wir direkten Zugang zur himmlischen Welt haben.149

Darüber spricht Paulus auch in seinem berühmten Kapitel im Brief an die Korinther, wo er das Verhältnis zwischen gegenwärtiger und zukünftiger Realität am Bild eines Samens erläutert. Ein Same ist nicht völlig identisch mit dem, was er hervorbringt. Trotzdem gibt es da eine unbestreitbare innere Verbindung. Es ist dieselbe Verbindung, die auch zwischen der gegenwärtigen Welt und der kommenden Welt Gottes besteht. Auch wir selbst werden im Himmel nicht körperlose Geistwesen in einer ungegenständlichen Welt sein. Wenn Gott alles vollendet, gehen nämlich seine ursprünglichen Absichten mit seiner Schöpfung in Erfüllung. Himmel und Erde werden für immer miteinander verbunden sein und Gottes Gegenwart wird alles erfüllen.151 Nach Gottes Willen sind nämlich Mensch und Schöpfung unauflöslich miteinander verknüpft, aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Deshalb konnte sich auch die Abkehr des Menschen von Gott so gravierend auf die ganze Schöpfung auswirken. Sie wurde zusammen mit dem Menschen dem Fluch der Vergänglichkeit unterworfen. Doch sie wird von diesem Fluch befreit werden, nachdem die Söhne Gottes die völlige Erlösung am eigenen Leib erfahren haben.

Das Bild vom Samenkorn kann uns also helfen, unseren Körper als ein prophetisches Zeichen zu verstehen. Wenn wir dessen Bedeutung vom Ziel her begreifen, werden wir ihm gegenüber nie mehr eine gleichgültige Haltung einnehmen. Spätestens im Himmel werden wir Gottes Gegenwart nicht nur innerlich, sondern auch körperlich erfahren. Bedenken wir aber, dass diese Zukunft bereits begonnen hat. Wir können seine Gegenwart schon heute wahrnehmen. Unser Sinn für seine Gegenwart wird immer empfindsamer, wenn wir unser Dasein als Dasein für Gott begreifen.

Paulus stellt im vorliegenden Abschnitt den Zusammenhang zwischen Zukunftserwartung und Gegenwart her, indem er die alttestamentliche Vorstellung von der Erstlingsgabe aufgreift. Das Opfern von Erstlingsgaben im Tempel ist in Israel eine tief verwurzelte Ordnung, der wir beim Lesen des Alten Testaments immer wieder begegnen. Menschen brachten Gott ihre erstgeborenen Söhne, ihr erstgeborenes Vieh und den ersten Anteil der Ernte. So brachten sie ihre Dankbarkeit zum Ausdruck und vollzogen zugleich eine prophetische Handlung. Denn jede Erstlingsgabe stand für das Ganze der Ernte, das zusammen mit der Erstlingsgabe Gott geweiht und seinem Schutz anbefohlen wurde.

Die überraschende Wendung im Text ist nun, dass Paulus nicht von Erstlingsgaben spricht, die Menschen Gott geben, sondern von der Erstlingsgabe, die Gott den Menschen gibt. Er beschenkt die Glaubenden mit der Gabe seines Geistes. Diese Gabe sichert ihm zu, dass ihm bereits das Ganze der Erlösung gehört.

Wie wirken sich diese Erkenntnisse auf unsere Gegenwart aus? Sie wirken sich vor allem auf unsere Einstellung zum Leben aus. Die Notwendigkeit neuer ethischer Maßstäbe hat Paulus bereits in Kapitel 6 im Werk Christi begründet. Ein ethisch ausgerichtetes Verhalten würde aber auf Dauer von innen ausgehöhlt werden, wenn uns der Horizont der Hoffnung fehlen würde. Deshalb ist die hier vermittelte Hoffnung für unseren Glauben sehr wichtig. Wenn wir begreifen, dass unser Körper für ein Leben in der Gegenwart Gottes bestimmt ist, dann nehmen wir ihn als Geschenk Gottes an und stellen ihn schon heute ihm zur Verfügung. Wir wollen nicht, dass er von egoistischen Trieben beherrscht wird, weil er uns schon heute helfen soll, Gottes Gegenwart wahrzunehmen und die Realität seiner Liebe zu erfahren. Im Prozess der Heiligung wird unser Denken, Fühlen und Wollen durch die Wahrheit erneuert und verwandelt.156

Das Werk des Heiligen Geistes ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Während unser innerer Mensch bereits die Kräfte des Himmels schmecken kann, sind wir körperlich immer noch Teil einer vom Tod gezeichneten Welt. Wir leben in der Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“.

Deshalb schreibt Paulus: „Obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen (wir) in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden.“ Die Tatsache, dass Gottes Geist bereits in uns wohnt, steht also noch in Spannung zu der Tatsache, dass wir zusammen mit der ganzen Schöpfung unter der Last der Vergänglichkeit seufzen. Wir wissen, dass es im Himmel keine Krankheit mehr geben wird und müssen uns doch mit unserer Gebrechlichkeit auseinandersetzen. Wir wissen, dass Gott uns vergeben hat. Dennoch leiden wir unter den Auswirkungen falscher Entscheidungen. Wir glauben an die bedingungslose Liebe Gottes und erfahren dennoch Ablehnung. Wir wissen, dass unser Vater im Himmel reich ist und kämpfen zuweilen doch um unsere Existenz.

Gerne würden wir manchmal diese Spannung auf eine Seite hin auflösen. Doch dann werden wir entweder übergeistlich oder wir fallen zurück in ein Leben ohne Hoffnung. Gott traut uns zu, dass wir diese Spannung aushalten. In dieser Spannung bleibt der Prozess unserer allmählichen Umgestaltung in Gang.

Paulus nimmt diese Spannung aus Liebe zu Christus an. Aus seiner Hoffnung bezieht er die dazu nötige Kraft. Hoffnung prägt seine Haltung zum Leben. Er rechnet mit dem Beistand des Heiligen Geistes, bis er eines Tages das ganz große Ziel erreicht haben wird.159

Konkret wird seine Identifikation mit Christus im Gebet. Insbesondere dort erlebt er den Beistand des Heiligen Geistes, der sich mit ihm unter die Last der Welt stellt und ihm hilft, diese Last zu tragen.

Von Natur aus mögen wir die Vorstellung nicht, dass sich Gott mit uns unter die Verhältnisse des Lebens stellt. Hat er nicht die Macht, diese Verhältnisse zu verändern? Aber gerade so ist er uns doch auch in Jesus Christus nahegekommen. Gottes Absicht für uns ist offensichtlich nicht, dass wir ein möglichst einfaches Leben haben. Er will uns vielmehr in die Lebensgemeinschaft mit Jesus hineinziehen. Das hat Paulus begriffen. Er schreibt an anderer Stelle: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden.“

Und so kann auch unser Gebet zuweilen mit Geburtswehen verglichen werden, die der Neuen Welt Gottes vorausgehen. Auf geheimnisvolle Weise öffnet es Räume für das Wirken des Heiligen Geistes, sodass er selbst schmerzliche Erfahrungen in Segen verwandeln und uns in Haltung und Charakter Jesus ähnlicher machen kann.

Wenn etwas für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen gilt, dann liegt der Schluss nahe, dass es da um eine geistliche Realität geht. Was Gott über sich selbst enthüllt hat, ist jederzeit gültig. Gott ist ewig. Die Wahrheit über ihn ändert sich nicht. Wir erfahren seine Realität lediglich unter sich verändernden Bedingungen. Paulus hat gelernt, über die herrschenden Verhältnisse hinauszublicken und mit der tragende Kraft der Liebe Gottes zu rechnen. In den Versen 31–39 können wir etwas von seiner Überzeugung spüren, die auch wir uns unter den Bedingungen einer unvollkommenen und verwundeten Welt aneignen dürfen. „In all dem“, sagt er „überwinden wir weit“. Richten wir also unsere Herzen immer wieder zur Liebe Gottes hin aus. Sie umfängt unser Fallen und unser Aufstehen, unsere Freude, wie unsere Tränen, unsere Erfolge, wie unsere Niederlagen. Nichts kann uns von dieser Liebe trennen. Was uns das Leben auch immer bringen mag, wir dürfen wissen, dass Gott uns in seinem Sohn bereits alles gegeben hat, was er uns geben kann. Ist es dann sinnvoll, über die Zukunft zu grübeln? Nein! Mit Jesus hat unsere Zukunft bereits begonnen. Er ist Garant dafür, dass Gott uns alles Nötige zur Verfügung stellen wird, damit wir unseren Lebenslauf heilsam vollenden können.164


Persönliche Vertiefung

Danken Sie Gott für die Liebe, die er Ihnen in Jesus erwiesen hat, und denken Sie darüber nach, was das für Ihre Zukunft bedeutet. Meditieren Sie über die Verse 33–39 und vertrauen Sie sich der Liebe Gottes an.

Lectio Divina: Römer 8,28; 15,13; Jesaja 54,10; Jeremia 29,11

Sehen Sie sich eher als einen Pessimisten oder eher als einen Optimisten?

Ist Hoffnung ein anderes Wort für Optimismus?

Gab es in jüngster Zeit Erfahrungen, die Sie mutlos gemacht haben?

Wie beeinflusst oder verändert der vorliegende Abschnitt Ihr Bild von der Zukunft?

Inwiefern kann die Hoffnung auf die Auferstehung Ihre Gegenwart prägen?


auch dort, wo alles verloren scheint (9,1–33)

Textauszug (6–13.32–33): 6 Gottes Wort an Israel ist keineswegs hinfällig geworden. Doch zunächst ist zu beachten, dass nicht alle, die aus Israel stammen, auch Träger der Verheißung sind. 7 Auch nicht alle Nachkommen Abrahams wurden zu Erben der Verheißung. Denn es heißt: »Nur die Nachkommen Isaaks sollen als deine Nachkommenschaft bezeichnet werden (1. Mose 21,12)«. 8 Das bedeutet: Nicht die leibliche Abstammung macht Menschen zu Kindern Gottes und damit zu Erben der Verheißung. Sondern diejenigen, die aufgrund der Verheißung von ihm abstammen. 9 Gemeint ist die Zusage an Abraham: »In einem Jahr werde ich wiederkommen, dann wird Sara einen Sohn haben« (1. Mose 18, 10.14). 10 So war es aber nicht nur bei ihr, sondern auch bei Rebekka, als sie von ihrem einzigen Mann, unserem Vater Isaak, schwanger war. 11 Ihre Kinder waren noch nicht geboren und hatten weder Gutes noch Böses getan - damit der Grundsatz bestehen bliebe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden - da wurde zu Rebekka gesagt: »Der Ältere wird dem Jüngeren dienen (1. Mose 25,23)«. 13 So heißt es auch später (Maleachi 1,2–3): »Jakob habe ich bevorzugt, aber Esau habe ich zurückgesetzt« … 32 Warum also hat nun Israel den Segen aus der Verheißung nicht empfangen? Weil es ihm nicht um die Gerechtigkeit aus Glauben ging, sondern um die Gerechtigkeit aus Werken. Sie haben sich am Stein des Anstoßes gestoßen, 33 wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16): »Siehe, ich richte in Zion einen Stein des Anstoßes auf und einen Fels, an dem man zu Fall kommt; wer aber auf ihn vertraut, wird nicht zugrunde gehen«.

Im letzten Abschnitt hat Paulus schon auf das große Finale der Weltgeschichte vorausgeblickt und uns vor Augen gemalt, wie Gott mit dieser Welt zum Ziel kommen wird. Für Paulus ist es in diesem Zusammenhang naheliegend, nach der Rolle Israels in diesem großen Finale zu fragen. Er nimmt gewissermaßen eine Lupe zur Hand, um Einzelheiten erkennen zu können. Wird Gott seinen Plan mit der Schöpfung nun ohne Israel verwirklichen, oder bleiben seine Zusagen bestehen, die er ihren Vätern gegeben hat? Schließlich hat Israel Jesus nicht als seinen Messias anerkannt, der doch in erster Linie zu diesem Volk gekommen war, um Gottes Zusagen zu erfüllen?

Beim Lesen dieses Kapitels werden viele andere Fragen in uns aufgeworfen. Viele Leser werden sich fragen, wie sich wohl Gottes Handeln in der Geschichte mit menschlicher Freiheit verträgt. Andere kommen über die Frage ins Grübeln, warum wohl der eine Mensch glaubt und ein anderer sich dem Glauben verschließt. Sie machen sich über die sogenannte „Prädestination“ Gedanken. Das ist verständlich. Doch können wir einem Text letztlich nur das entnehmen, was zuvor in ihn hineingelegt wurde. Deshalb ist erst einmal zu klären, welche Frage der Autor selbst beantworten wollte. Die Frage, die Paulus umtreibt, schwingt in den ersten fünf Versen unseres Abschnitts im Hintergrund mit. Im sechsten Vers legt er den Grundstein für die Antwort, die er offenbar im Gebet empfangen hat: „Es ist keineswegs so, dass Gottes Wort hinfällig geworden ist“. In den Kapiteln 9–11 wird er auf dieser Grundlage auf die Details eingehen und seine Hoffnung für Israel begründen.

Zunächst blickt Paulus auf die Anfänge Israels zurück, insbesondere auf die Erwählung der Erzväter, nämlich auf Abraham, Isaak und Jakob. Ihnen hatte Gott Verheißungen gegeben, die auch für ihre Nachkommen gültig sein sollten.

Paulus betont, dass Gott die Väter Israels aus seiner eigenen Freiheit heraus erwählt hat. Sie hatten sich nicht durch ein besonders vorbildliches Verhalten dafür qualifiziert. Gott handelt nicht, weil er irgend jemandem etwas schuldig wäre. Menschliche Leistungen verpflichten ihn zu nichts. Deshalb kann auch kein Mensch über ihn verfügen.

Die Erwählung Israels begründet Paulus also mit der souveränen Freiheit Gottes. Das ist ein wichtiger Baustein seiner Argumentation. Denn nur wenn Gott in seinem Handeln souverän ist, kann es eine unerschütterliche Hoffnung für Israel geben. Wenn Gott seine Verheißungen nicht deshalb gegeben hat, um die Vorfahren Israels auszuzeichnen, sondern einfach weil er es so wollte, dann wird er die Erfüllung dieser Verheißungen nicht vom Wohlverhalten ihrer Nachkommen abhängig machen. Sie können durch ihren Unglauben den Zeitpunkt der Erfüllung zwar hinauszögern. Sie können aber Gottes Treue nicht aufheben.

Calvin, der große Schweizer Reformator, hat aus diesem Kapitel des Römerbriefs geschlossen, dass das ewige Schicksal der Menschen generell von Gott vorherbestimmt sei, weil nur dann, wenn ausschließlich Gott am Menschen handle, Gnade wirklich Gnade sei. Jede Beteiligung des Menschen beim Empfang des Heils, schmälere die Ehre Gottes. Das Problem bei dieser Argumentation ist unter anderem, dass der Unterschied zwischen „Berufung“ und „Erwählung“ verschwimmt. Diese Unterscheidung ist jedoch notwendig, wenn wir verstehen wollen, was Paulus hier sagt. Er bestätigt ja einerseits, dass Israel als Ganzes seine Berufung zum Heil verfehlt hat. Andererseits betont er, dass Israel trotzdem Gottes erwähltes Volk bleibt. Auf die gesamte Menschheit übertragen ist deshalb zu bemerken: Alle sind zum gleichen Heil berufen, aber nicht alle sind zu derselben Aufgabe erwählt.

Zu welcher Aufgabe hat Gott Israel denn erwählt? Er hat Israel dazu bestimmt, ihn in dieser Welt bekannt zu machen. Deshalb hat er sich diesem Volk offenbart. Ohne das jüdische Volk würde es keine Bibel geben und Jesus wurde nicht zufällig als Jude geboren. Von Israel ausgehend sollte die Gute Nachricht die ganze Welt erfüllen. Bereits die Verheißung an Abraham lässt erkennen, dass Gott von Anfang an das Heil der Welt im Blick hatte: „Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“

Es dauerte nicht lange, bis sich diese Verheißung durch Josef – einen der zwölf Söhne Jakobs – zu erfüllen begann. Gott gab ihm die Gabe, Träume zu deuten. So konnte er auch den Traum des damaligen Pharaos auslegen. Die Maßnahmen, die aus seiner Deutung abgeleitet wurden, retteten Ägypten und angrenzende Nationen vor einer großen Hungersnot.

Doch dieser Segen war unter dem Pharao, mit dem es Mose rund 400 Jahre später zu tun hatte, längst vergessen. Inzwischen wurden die Israeliten in Ägypten unterdrückt und ausgebeutet.

Gott gab deshalb Mose den Auftrag, dem Pharao entgegenzutreten und die Freilassung der Nachkommen Jakobs zu fordern. Dieser verhärtete jedoch sein Herz und widerstand den guten Absichten Gottes immer wieder. Immer weniger ließ er sich von den Zeichen der Macht Gottes beeindrucken. Das ging so lange, bis schließlich Gott selbst sein Herz aktiv verhärtete. Wer das Zitat in Vers 17 im ursprünglichen Zusammenhang liest, wird deutlicher erkennen, dass Gott den Pharao auch hätte vernichten können. Das tut er aber nicht. Vielmehr bestätigt er dessen Verstockung und offenbart gerade so seine Macht vor der ganzen Welt. Weil sich der Pharao dem Recht schaffenden Handeln Gottes entgegengestellt hat, muss er Gottes Gerechtigkeit als richtendes Urteil an sich erfahren. Im Falle der Befreiung Israels aus der Sklaverei wurde darum das Gericht über die Streitmacht des Pharaos zur negativen Kehrseite für das befreiende Handeln Gottes an Israel.

Weil Paulus in dieser Geschichte nicht den unabhängigen Menschen am Werk sieht, der in der Lage wäre, Gott einen Strich durch die Rechnung zu machen, bewertet er die Verstockung des Pharao positiv. Nicht er schreibt Geschichte, sondern Gott. Er offenbart vor der Welt, was vor ihm recht ist. Das richtende Handeln Gottes am Pharao wurde zur Kulisse für den triumphalen Auszug Israels aus Ägypten.

Paulus grübelt nicht über menschlichem Versagen und darüber, was hätte sein können, wenn Israel das in Christus angebotene Heil ergriffen hätte. Denn Gott bleibt auch dann Gott, wenn Menschen versagen. Er ist in Kontrolle. Er ist aktiv. Er verstockt Israel, wie er einst den Pharao verstockt hat, weil er unbeirrt an seinen Heilsabsichten festhält (24.25; vgl. 11,12–15). Mit der Ablehnung des Evangeliums hat sich Israel zwar Gott gegenüber verweigert. Das kann ihn aber nicht davon abhalten, mit Israel im Sinne seiner Erwählung umzugehen. Er gebraucht Israels Widerstand, um Segen zu den Völkern der Erde fließen zu lassen.

Dass Gott dazu in der Lage ist, den Widerstand der Menschen in seinem Sinne zu nutzen, sollte uns jedoch nicht zu der Ansicht verleiten, dass Gott selbst die Ursache ihres Widerstands ist. Die Geschichte sollte keinesfalls als Schachspiel Gottes verstanden werden, bei dem er die Rollen von vornherein festgelegt hat. Denn es ist ja gerade nicht so, dass Esau brennend gerne Erzvater und Träger der Verheißung gewesen wäre, aber Gott ihm seinen Wunsch verwehrt hätte. Er hat auch nicht Jakob gegen seinen Willen zum Träger der Verheißung bestimmt. Auch hat er den Pharao nicht dazu gezwungen, sich gegen seine Absichten aufzulehnen. Paulus zeigt einfach auf, wie Gott zu bestimmten Zeiten, an konkreten Orten, mit ganz bestimmten Menschen umgegangen ist. Für Paulus ist Gott viel größer als alle Tragödien der Geschichte. Gott ist sogar dazu in der Lage, menschlichen Widerstand seinen heilsamen Zielen dienstbar zu machen. Wäre das nicht so, bliebe der Ausgang der Geschichte offen. Nur weil Gott so ist, wie er ist, nur weil er treu ist und zu seinem Wort steht, können wir eine begründete Hoffnung haben. Gott hat sich nicht von den Menschen entfernt, sondern umgekehrt. Darum sind sie auch weiterhin dazu aufgerufen, sich mit ihm versöhnen zu lassen.

Darum gehen besorgte Christen am entscheidenden Punkt vorbei, wenn sie befürchten, dass Gott sie zu Gefäßen des Zorns bestimmt haben könnte. Geht es doch Paulus in diesem Kapitel darum, seine Hoffnung für Israel und die Welt zu begründen. Diese Hoffnung ist durch das Evangelium verbürgt, wie wir in Kapitel 10 sehen werden. Es ist das unübertreffliche Wort Gottes an die ganze Menschheit.


Persönliche Vertiefung

Wenn Sie durch die Botschaft von Jesus zum Glauben an Gott gekommen sind, dürfen Sie sich als einen Menschen betrachten, den Gott berufen und erwählt hat. Auch durch Sie sollen andere Menschen gesegnet werden. Dieser Gedanke soll Sie nicht unter Druck bringen. Vergessen Sie nicht, dass Gott Ihnen auch entsprechende Verheißungen gegeben hat und dass er zu seinen Zusagen steht. Vertrauen Sie darauf.

Lectio Divina: Römer 9,24–25; Jesaja 54,7–10; 2. Korinther 1,20; 3,11–18

In diesem Kapitel haben wir erfahren, dass Gott bedingungslos zu Israel steht. Was bedeutet diese Erkenntnis für unsere Lebenspraxis?

Warum ist es so wichtig, bliebe der Ausgang der Geschichte offen. Nur weil Gott so ist, wie unterscheiden? Kann unser Heil auch zusammen mit unserer Berufung und Erwählung verwirklicht werden?

Wir könnten „Erwählung“ durchaus als intellektuelles Problem diskutieren. Sollten wir unser Herz aber nicht viel mehr von der Wahrheit berühren lassen, dass Gott unser Heil sucht und uns darüber hinaus auch für seine heilsamen Absichten gebrauchen will?


Weil Gott treu ist … (10,1–21)

Textauszug (1–10.12–13):1 Liebe Brüder, ich wünsche von ganzem Herzen und bete zu Gott, dass Israel die verheißene Rettung zuteilwird. 2 An Eifer für Gott fehlt es ihnen nicht. Das kann ich bezeugen. Aber ihrem Eifer fehlt die Einsicht. 3 Denn sie haben Gottes Gerechtigkeit nicht anerkannt und versuchen stattdessen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Sie haben sich der Gerechtigkeit aus Gott nicht unterstellt. 4 Ist doch das Endziel des Gesetzes Christus; wer an ihn glaubt, der ist gerecht. 5 Mose nämlich schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt (3. Mose 18,5): »Der Mensch, der das tut, wird leben.« 6 Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht (5. Mose 30,11–14): »Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?« - nämlich um Christus herabzuholen -, 7 oder: »Wer will hinab in die Tiefe fahren?« - nämlich Christus von den Toten heraufzuholen -, 8 sondern was sagt sie? »Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen. 9 Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. 10 Denn der Glaube des Herzens führt zur Gerechtigkeit und das Bekenntnis des Mundes zum Heil … 12 Es gibt also keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Jesus ist Herr über alle. Er lässt alle an seinem Reichtum teilhaben, die ihn anrufen. 13 Denn »jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, soll gerettet werden (Joel 3,5)«.“

Wenn wir davon ausgehen, dass Gott das Schicksal der Menschen vorherbestimmt, können wir uns zu Beginn dieses Kapitels nur wundern. Da erfahren wir von Paulus, dass er unablässig für seine Landsleute betet „dass sie gerettet werden“. Warum sollte er beten, wenn Gott schon alles entschieden hat? Paulus scheint nicht an eine Art von Vorherbestimmung zu glauben, die den Menschen aus seiner Verantwortung vor Gott entlässt.

So wahr es ist, dass Gott den Menschen geschaffen hat, so wahr ist es auch, dass er ihn mit der Absicht geschaffen hat, sein Ebenbild zu sein. Das kann er in seiner vollen Bedeutung jedoch nur dann sein, wenn sein Verhältnis zu Gott geheilt ist. Deshalb ist es im Grunde gar nicht denkbar, dass es auch nur einen Menschen gibt, der nicht zum Heil berufen wäre. Undenkbar, dass er sogar ganze Gruppen von Menschen aussortiert, die er, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, verdammt. Doch gesteht er jedem Menschen die Freiheit zu, sich gegen seine Absicht aufzulehnen. Aus diesem Grund konnte Israel sogar den Messias ablehnen, den Gott zum Heil des Volkes gesandt hatte. Wenn Paulus in Vers 3 bemerkt, dass Israel die Gerechtigkeit Gottes verkannt und seine eigene aufgerichtet hat, dann spricht er an dieser Stelle genau davon. Israel hat seinen Messias nicht anerkannt und auf diese Weise das Heil zurückgewiesen, das ihm zugedacht war.

Dabei wollte Gott doch die Verheißungen erfüllen, die er schon den Vätern Israels zugesagt hatte. Doch dieses Volk hat es vorgezogen, sein Heil lieber im Gesetz zu suchen. Obwohl genau dieses Gesetz nur dem Täter des Gesetzes Heil und Leben zusagt. Der Täter des Gesetzes aber ist alleine Jesus Christus, der Sohn Gottes. Nur er kann vor Gottes Gesetz bestehen. Weil er das Gesetz erfüllt hat, hat es seinen Zweck erfüllt und die Verheißung des Lebens wird durch ihn erfüllt. Deshalb ist Jesus nicht nur Ziel, sondern auch Ende des Gesetzes.175 Das mosaische Gesetz kann nur dann als Wegweiser zur Gerechtigkeit gelten, wenn Jesus Christus erkannt und anerkannt wird.

Es ist erstaunlich, dass Paulus die durch Jesus in Kraft gesetzte Gerechtigkeit aus Glauben in Anlehnung an eine zentrale Aussage aus dem 5. Buch Mose beschreibt. Im originalen Zusammenhang wird dort zum Tun des Gesetzes aufgefordert. Paulus gibt den Text jedoch so wieder, dass jene Satzteile, die ursprünglich vom Gesetz reden, nun auf Christus verweisen. So macht er deutlich, dass nicht das Gesetz der Weg zur Gerechtigkeit ist, sondern der Glaube an Jesus Christus. Deutlicher kann es Paulus einem Juden nicht mehr vor Augen stellen: Christus hat das anklagende Urteil des Gesetzes aufgehoben. Wer an ihn glaubt, empfängt die Gerechtigkeit, die das Gesetz in Aussicht gestellt hatte, die aber nur durch den Messias verwirklicht werden konnte. In den Versen 6–11 strahlt deshalb das helle Licht des Evangeliums wieder deutlich auf. Die Gerechtigkeit aus Glauben wird nicht als ferne Möglichkeit verstanden. Um sie zu erhalten, müssen wir nicht das Unmögliche vollbringen. Denn Gott ist uns in Jesus so nahegekommen, wie es dem Gesetz niemals möglich gewesen wäre. In Tod und Auferstehung Jesu ist Ungeheuerliches für uns geschehen. Was Gott in Jesus für uns getan hat, wird als Wort des Glaubens in der Verkündigung des Apostels weitergegeben. In den Herzen der Hörer soll sich dieses Wort mit persönlichem Glauben verbinden. Von ihnen wird erwartet, dass sie durch ihr persönliches Bekenntnis zu Jesus dessen Autorität anerkennen. Wahrscheinlich denkt Paulus in diesem Zusammenhang an seine missionarische Praxis. Sicher galt das Bekenntnis zu Christus als äußeres Merkmal der inneren Umkehr. Wahrscheinlich war dieses Bekenntnis mit der Taufe verbunden, da die Taufe ihren Sinn darin hat, den im Herzen verborgenen Glauben sichtbar zu machen. Jesus selbst hat bereits den Wert des öffentlichen Bekenntnisses unterstrichen: „Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen.“178

In den Versen 14 bis 21 will Paulus dem Geheimnis auf den Grund kommen, warum Israel seinen Messias weder erkannt noch angenommen hat. Dabei prüft er die Faktoren, die für die Vermittlung eines lebendigen Glaubens notwendig sind. So fragt er, ob ihnen denn nicht das Evangelium gepredigt wurde. Doch daran kann es nicht gelegen haben. Sie hatten ja die Gute Nachricht nicht nur gehört, sondern sie auch in leibhaftiger Gestalt gesehen. Kann der Grund ihrer ablehnenden Haltung denn darin gesucht werden, dass sie das Evangelium zwar gehört, aber nicht verstanden haben? Hatten sie vielleicht nur ein theologisches Problem? Nein, Israel hatte die besten Voraussetzungen, Jesus als den verheißenen Messias zu erkennen. Das Gesetz hatte sie auf sein Kommen vorbereitet. Er selbst hatte in ihrer Mitte gelehrt und gewirkt.

In Übereinstimmung mit den Worten Jesajas wertet Paulus ihre ablehnende Haltung als Ungehorsam und Rebellion. In dieser Haltung blieben sie so lange, bis schließlich Gott selbst ihr Herz verhärtet hat. Sie kamen zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr glauben konnten.180 So begann sich ein Gericht zu vollziehen, das sich vor langer Zeit auch am Pharao vollzogen hatte. Ein Gericht allerdings, das anderen die Tür zur Gnade geöffnet hat, wie wir in Kapitel 9 gesehen haben und in Kapitel 11 wiederholt sehen werden, da auf diesem Hintergrund die Geschichte der Weltmission begann.

Eine Beziehung kann nicht befohlen werden. Und deshalb begegnen wir auch heute immer wieder dieser Tragik: Ein Mensch kann die beste christliche Erziehung genossen haben und doch sein Herz gegenüber dem Werben Gottes verschließen. Man kann die Gute Nachricht in den schönsten Worten präsentiert bekommen und sogar Zeichen und Wunder miterleben. Es ist dennoch möglich, dem Ruf Gottes zu widerstehen. Wie tragisch. Doch Gott zwingt letztlich niemanden dazu, an ihn zu glauben und mit ihm zu kooperieren.

Kann wirklich nur dann von Gnade gesprochen werden, wenn der Mensch beim Empfang des Heils völlig unbeteiligt ist? Dieser Gedanke wirkt befremdlich, wenn Heil im Kern eine wiederhergestellte Beziehung zu Gott meint. Es ist zwar richtig, dass der in Sünde gefangene Mensch nicht in der Lage ist, sich aus sich selbst heraus für ein Leben mit Gott zu entscheiden. Seine Willenskraft kann nicht die Ursache seines Heils sein. Doch wenn Menschen die Gute Nachricht von Jesus hören und verstehen, werden sie zum Glauben befähigt. In diesem Moment haben sie eine Wahl. Und doch können sie auch dann Gottes Gnade zurückweisen und ihren eigensinnigen Weg fortsetzen. Gnade ist offensichtlich nicht unwiderstehlich.

Doch Gott gibt nicht auf. Seine Hände bleiben ausgestreckt nach einem ungehorsamen und widerspenstigen Volk.


Persönliche Vertiefung

Wenn wir über unseren Glauben sprechen, kann auch in anderen Menschen Glaube entstehen. Allerdings werden wir zuweilen auch auf Granit stoßen. Ob eine solche Erfahrung mit unserem Unvermögen zu tun hat? Vielleicht. Wir können jedenfalls Trost in der Tatsache finden, dass Gottes Hände ausgestreckt bleiben, auch wenn Menschen nicht auf sein Angebot eingehen.

Lectio Divina: Römer 10, 6–10; Markus 4,3–9; Jesaja 65,1–3; Jesaja 55,6–11

Finden Sie im vorliegenden Abschnitt einen Beleg dafür, dass Gott die freie Entscheidung von Menschen respektiert?

Welche Rolle spielt das offene Bekenntnis zu Jesus Christus, wenn jemand zum Glauben kommt?

Fällt es Ihnen leicht, mit anderen Menschen über Ihren Glauben zu reden? Was hält Sie davon ab?


und menschliche Erwartungen übertrifft (11,1–36)

Textauszug (7–8.11.17–22):7 Was Israel erstrebt, hat also nicht das ganze Volk, sondern nur eine Auswahl des Volkes erlangt. Die Übrigen wurden verstockt. 8 So steht es bereits geschrieben (Jesaja 29,10): »Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, die nicht sehen, und Ohren, die nicht hören, bis auf den heutigen Tag.« … 11 Ich frage nun: Haben sich die Juden an Christus gestoßen, um für immer zu Fall zu kommen? Gewiss nicht. Vielmehr ist durch ihr Versagen das Heil zu den Völkern gekommen, damit diese sie zur Eifersucht reizen … 17 Im Bild gesprochen: Am edlen Ölbaum wurden einige Zweige ausgebrochen und einige wilde Zweige wurden in den edlen Ölbaum eingepfropft. Obwohl ihr als Nicht-Juden von einem wilden Ölbaum stammt, habt ihr jetzt Anteil an der Kraft des edlen Ölbaums. 18 Das darf euch aber nicht zum Stolz über die edlen Zweige verführen. Bedenke, dass du nicht die Wurzel trägst, sondern die Wurzel dich trägt. 19 Du wirst vielleicht sagen, dass die edlen Zweige doch herausgebrochen wurden, um dir Platz zu machen. 20 Richtig, sie wurden herausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Du nimmst ihren Platz ein, weil du glaubst. Sei daher nicht überheblich, sondern nimm dich in acht … 22 Bedenke die Güte und die Strenge Gottes. Seine Strenge gegen jene, die gefallen sind. Seine Güte aber gegen dich, sofern du in seiner Güte bleibst. Sonst wirst auch du herausgeschnitten werden.

Die Kapitel 9–11 sind miteinander durch eine Frage verknüpft. Es ist die Frage nach Israels Zukunft. Bleiben die Verheißungen gültig, die Gott den Stammvätern Israels gegeben hat? Oder gelten diese Verheißungen nur denen, die sich ihrem Messias zugewandt und sich so als Kinder Abrahams erwiesen haben? Was ist mit dem Teil Israels, den Gott verstockt hat?

Dass sich Gottes Verheißungen an jenen Juden erfüllen, die Jesus angenommen und ihm geglaubt haben, steht für Paulus außer Frage. Doch was ist mit jenem Teil Israels, der sich dem Messias gegenüber verhärtet hat? Gibt es auch für diesen Teil noch eine Hoffnung? Oder ist er unwiderruflich zu Fall gekommen?

Paulus hat sich in seinem Schmerz um seine Landsleute sicher oft einsam gefühlt. So ist es ihm wie vielen Propheten vor ihm ergangen. So hatte auch der Prophet Elia den Eindruck, der Letzte zu sein, der Gott noch die Treue hält. Doch Gott ließ ihn wissen, dass neben ihm noch 7000 andere Männer übrig geblieben waren.

Mit anderen Worten hat Paulus bereits in Kapitel 9 vom Überrest Israels gesprochen. Doch hier in Kapitel 11 zieht er die Linie weiter. Denn der Gedanke an diesen Überrest - zu dem er selbst ja gehört - wurde für ihn zu einem Anker der Hoffnung. Nach einer jüdischen Regel der Auslegung schließt er vom Kleinen auf das Große und fragt: „Wenn schon der Unglaube Israels dazu geführt hat, dass das Evangelium die Nationen bereichert und gesegnet hat, wie gewaltig wird dann erst der Segen sein, wenn am Ende ganz Israel Gottes Annahme erfährt?“ In Vers 16 bekräftigt er seine Hoffnung mit einem Zitat aus der Thora. Wieder spielt der Begriff “Erstling” dabei eine Rolle. Bereits in Kapitel 8 stand der Begriff im Zusammenhang mit dem ersten Teil der Ernte, der symbolisch für das Ganze der Ernte steht. So wird der gläubige Überrest Israels jetzt zum Symbol der vollständigen Ernte am Ende der Zeit. Dann wird ganz Israel gerettet werden! Was ist mit ganz Israel gemeint? Meint Paulus das geistliche Israel, das Israel der Verheißung? Denkt er an das Israel der letzten Tage, oder an das Israel aller Zeiten? Vom Zusammenhang her ist folgende Auslegung schlüssig: Israel, dessen Einheit am Messias zerbrochen ist, wird seine Einheit am Ende der Tage im Glauben an den Messias wiedergewinnen. Dieses Ereignis wird noch einmal eine Welle des Segens über diese Erde bringen. Paulus bezeichnet diese Welle als Leben aus den Toten. Vergleicht man diesen Wortlaut mit anderen Stellen aus seinen Schriften, wird klar, dass er hier nicht von der Auferstehung der leiblich Toten spricht, sondern von einer großen geistlichen Erweckung, die Gott für jene Zeit vorgesehen hat. Diese Zeit wird kommen, wenn Israel als Ganzes in seine Bestimmung zurückfindet.

In der Mitte unseres Kapitels finden wir das eindrückliche Bild vom Ölbaum, mit dem Paulus die Geschichte des Heils illustriert. Gott hat im Laufe dieser Geschichte seine Gnade und Gerechtigkeit konkreten Menschen offenbart. Die Erzväter Israels hatten Gottes Zusagen empfangen. Aus dieser Wurzel heraus wuchs ein Stamm: das Volk Israel. Aus dieser Wurzel kam schließlich auch Jesus. Er ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.

Doch nun befindet sich dieser Ölbaum in seiner tiefsten Krise. Einige von den natürlichen Zweigen haben die lebendige Verbindung zum Stamm verloren. Sie wurden deshalb ausgebrochen. Wilde Zweige - die Gläubigen aus anderen Nationen - wurden an ihrer Stelle eingepfropft.

Normalerweise werden wilde Stämme durch edle Zweige veredelt. Doch wurde nachgewiesen, dass es in Palästina tatsächlich üblich war, einen Ölbaum, der keine Frucht mehr bringt, neu zu beleben, indem ihm ein Schössling eines wilden Ölbaums eingepfropft wird, woraufhin der Saft des Baumes diesen wilden Spross veredelt und der ganze Baum wieder Früchte hervorbringt. Dass auch die Römer einen solchen Vorgang kannten, ist von einem Zeitgenossen des Apostels Paulus überliefert, der berichtet, dass einem Ölbaum mit geringem Ertrag der Schössling eines wilden Ölbaums eingepfropft wird, damit dieser dem Baum neue Kraft verleiht.191

Die Zweige des edlen Ölbaums stehen in diesem Bild also für Israel. Die Zweige des wilden Ölbaums stehen für die glaubenden Nicht-Juden. Weil die Zweige am edlen Ölbaum ihre Verbindung zum Stamm verloren haben, brachten sie am Ende gar keine Frucht mehr und wurden herausgeschnitten. Die Zweige vom wilden Ölbaum wurden an ihrer Stelle eingepfropft und bekamen so Anteil an der Kraft des Baumes. Das Wegschneiden alter Zweige war erforderlich, damit der neue Schössling mit Luft und Licht versorgt wird und um zu vermeiden, dass unfruchtbare Zweige den Baum schwächen.

Die Kraft des Ölbaums ist die barmherzige Zuwendung Gottes. Das hat Paulus schon durch den ganzen Brief hindurch deutlich gemacht. Darum mahnt er die Christen nicht-jüdischer Herkunft, sich nicht über die ausgebrochenen Zweige zu erheben. Denn dass sie eingepfropft wurden, hat genauso wenig mit ihren Verdiensten zu tun, wie die Erwählung Israels mit deren Verdiensten zu tun hatte. Nur wer in der Güte Gottes bleibt, kann für ihn fruchtbar sein. Das sollten wir aus der Geschichte unbedingt lernen.

Dieses Bild verdeutlicht aber auch, dass Gott mit der Kirche nicht ein neues Volk erwählt hat. Um im Bild zu sprechen: Gott hat mit der Kirche keinen weiteren Ölbaum gepflanzt. Vielmehr werden alle Glaubenden in den bestehenden Ölbaum eingepfropft. Sie gehören durch ihren Glauben zum Stamm der Erwählten – zu den Beauftragten Gottes.

Deshalb gibt es eine unlösbare Verbindung zwischen den Gläubigen aus den Nationen und dem jüdischen Volk. Paulus fasst die in den Versen 11–15 ausgesprochene Hoffnung in den Versen 25–32 ausdrücklich als ein Geheimnis Gottes zusammen. Damit macht er deutlich, dass er hier nicht einfach nur logische Schlüsse zieht, sondern eine Offenbarung Gottes in dieser Angelegenheit empfangen hat. Die Inhalte dieser Offenbarung können so zusammengefasst werden:

Gott segnet die Nationen durch das Evangelium, bis es sich unter ihnen in einer Weise ausgewirkt hat, dass das verstockte Israel zur Eifersucht gereizt wird. Dann wird Israel seinen Messias erkennen und annehmen.195 Es wird in seine Bestimmung eintreten und Gott wird durch Israel gemäß seiner ursprünglichen Absicht handeln. Dann wird es eine weltweite Erweckung geben, eine letzte große Ernte, bevor Jesus Christus wiederkommen und sein Reich aufrichten wird.197

Vielen Fragen kann in diesem Rahmen nicht weiter nachgegangen werden. In unserem Zusammenhang ist aber zu betonen, dass der Grund unserer Hoffnung Gott selbst ist. Er hat mit Israel (und mit uns) nicht nur einen Vertrag geschlossen. An einen Vertrag wäre Gott nicht gebunden, sobald sein Vertragspartner sich nicht an die Abmachungen hält. Gott aber hat einen Bund mit Israel (und mit uns) geschlossen. Das bedeutet, dass er seine Treue einseitig zugesichert hat. Seine Treue ist der Grund unserer Hoffnung.


Persönliche Vertiefung

Gott liebt nicht das Liebenswerte, sondern schafft das Liebenswerte. Hier kann man nur noch anbeten - so wie Paulus: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“

Lectio Divina: 5. Mose 32,1–4; Psalm 89,1–5; Jesaja 40,12–18; Jesaja 42,1–4

Wenn Sie im „Vater unser“ um das Kommen des Reiches Gottes bitten, denken Sie dabei auch an Israel?

Was hat eine gerechte Welt mit Gottes Treue zu Israel zu tun?

Inwiefern sitzen wir als Gemeinde mit Israel „in einem Boot“?

Wie kann sich die Verbundenheit der christlichen Gemeinde mit Israel heute zeigen?









V. Praktizierter Glaube (12,1–15,13)

Innere Verwandlung wird sichtbar (12,1–2)

Text: 1 Angesichts der göttlichen Barmherzigkeit, meine Brüder, ermahne ich euch dazu, Gott euren eigenen Leib als lebendiges und heiliges Opfer zu übergeben. Das ist für euch der vernunftgemäße Gottesdienst. 2 Und gleicht euch nicht den Verhaltensmustern dieser Welt an, sondern wandelt euch durch die Erneuerung eurer Gesinnung. Denn dann könnt ihr prüfen, was Gottes Wille ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Paulus legt in allen seinen Briefen zunächst ein theologisches Fundament. Auf dieses Fundament beziehen sich dann seine Schlussfolgerungen und praktischen Unterweisungen. Im Römerbrief ist mit den ersten beiden Versen des 12. Kapitels dieser Scheitelpunkt erreicht. Hier bündelt er die theologische Essenz seiner bisherigen Ausführungen und führt zu den Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Im ersten Vers wird deutlich, welche Absicht Paulus bisher geleitet hat. Er wollte in den hinter uns liegenden Kapiteln vor allem Gottes Barmherzigkeit herausstellen, die sich in seinem konkreten Handeln auf vielfältige Weise gezeigt hat. In Jesus ist er uns ganz nahegekommen. Er hat uns die Last der Sünde abgenommen. Er hat uns als seine Söhne und Töchter angenommen. Er hat uns mit seinem Geist beschenkt und uns eine außergewöhnliche Hoffnung eröffnet. Es ist schon erstaunlich: Über elf Kapitel hinweg hat uns Paulus aufgezeigt, was Gott für uns getan hat und erst im zwölften Kapitel geht er dazu über, die Lebensführung der Briefempfänger in den Blick zu nehmen: „Ich ermahne euch dazu, Gott euren eigenen Leib als lebendiges und heiliges Opfer zu übergeben.“ Dies ist nämlich folgerichtig und angemessen für alle, die Gottes Barmherzigkeit erkannt und erfahren haben. Er hat sich uns mit Haut und Haaren hingegeben. Nun liegt es an uns, auf seine Hingabe mit unserer Hingabe zu antworten. Darin besteht der vernunftsgemäße Gottesdienst.

Die Bilder, die Paulus aufgreift, um diese Hingabe näher zu beschreiben, sind für uns nicht ohne Weiteres zugänglich. Wir sollen ein Opfer für Gott sein? Sollen wir uns etwa für ihn aufopfern? Erinnern wir uns also daran, dass Paulus als Jude schreibt. Indem er auf den Tempelgottesdienst in Jerusalem anspielt, unterstreicht er die Kontinuität vom Alten zum Neuen Bund. Zur Zeit des Alten Bundes wurden im Tempel auch Tiere geopfert. Diese Opfer hatten unterschiedliche symbolische Bedeutungen. Wenn Paulus uns hier auffordert, mit unserer leiblichen Existenz ein Opfer für Gott zu sein, denkt er sicher nicht an ein Opfer, das der Versöhnung mit Gott dienen soll. Durch die Hingabe seines Leibes hat uns Jesus ein für alle Mal mit Gott versöhnt. Paulus wird an ein Opfer gedacht haben, das in dankbarer Antwort auf erfahrene Wohltaten dargebracht wurde.

Bereits im Alten Testament ging es Gott letztlich um die innere Einstellung der Opfernden, nicht um Opfertiere. Das wurde schon in der Kritik der Propheten an der Opferpraxis Israels deutlich. Wenn Tiere ganz und gar in Flammen aufgingen, sollten sich die Opfernden daran erinnern, dass alles Leben von Gott kommt und für ihn da ist - auch das eigene Leben. Deshalb wird der Körper im Judentum so wertgeschätzt. Er wird als Leihgabe Gottes verstanden, die man ihm so unversehrt wie möglich zurückgeben soll. Gott ein krankes Tier zu opfern, wäre selbstverständlich einer Beleidigung Gottes gleichgekommen. Opfertiere mussten makellos sein.

Deshalb enthält die Ermahnung zur Hingabe der ganzen Existenz an Gott eine außerordentlich gute Nachricht. Sie setzt nämlich die Gnade Gottes in Jesus Christus voraus. Gott sieht in uns die Gerechtigkeit Jesu. Deshalb sind wir vor ihm ohne Makel. Durch ihn sind wir lebendig, heilig und vollkommen. Wir müssen nichts tun, um ihn zu beeindrucken. Unsere Hingabe ist die Antwort unseres Herzens.

Es geht also nicht darum, Gott allerlei gute Werke als Opfer darzubringen. Er will uns selbst. Er will unser Herz und unser Leben. Denn wir sollen ihm nicht einen Tempel bauen, sondern ein Tempel für ihn sein.

Nicky Gumbel, der den weitverbreiteten Alpha-Kurs entwickelt hat, erzählte in einer Lehreinheit von Bill Burnett, einem anglikanischen Bischof, der bereits mit 40 Jahren Bischof wurde. Burnett berichtet über jene Zeit: „Damals glaubte ich an die Theologie - also an die Wahrheit über Gott. In praktischer Hinsicht war ich Atheist. Ich suchte Gerechtigkeit durch gute Werke.“ Als er 15 Jahre Bischof war, hielt er einen Konfirmationsgottesdienst. Er predigte dort über die Liebe Gottes und dass diese Liebe durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging er nach Hause zum Mittagessen, holte seine Sonntagszeitung heraus, goss sich einen Gin Tonic ein und machte es sich gemütlich, um die Zeitung zu lesen. Da hatte er plötzlich das Empfinden, dass er damit aufhören und stattdessen beten sollte. Weil er ein Bischof war, hatte er seine eigene Privatkapelle. Also ging er in diese Kapelle und begann zu beten. Und da spürte er, wie Gott zu ihm sagte: »Ich möchte deinen Körper.« Er war ein großer, dünner Mann und recht knochig. So sagte er: »Wozu in aller Welt willst du meinen Körper? Der ist doch nur ein Sack voll Knochen.« Er spürte, wie Gott antwortete: »Nein, ich möchte, dass du mir deinen Körper gibst.« So gab er ihm seinen ganzen Körper: seine Hände, seine Füße, alles eben. Und dann erzählt er: „Das, was ich am Morgen gepredigt hatte, geschah dann mit mir! Ich spürte Elektroschocks von Liebe.“ Bald lag er flach auf dem Boden und der Herr sagte zu ihm: »Du bist mein Sohn!« Er dachte: »Das ist ja Blasphemie! Du hattest doch nur einen Sohn, Jesus Christus!« Und dann spürte er, dass auch er von Gott als Kind angenommen war. Er erzählt: „Als ich aufstand, wusste ich, es war etwas passiert. Ich war voller Bitterkeit und Zorn gewesen. Und jetzt war es wie eine Quelle in mir, aus der ewiges Leben sprudelte. Ich rief »Halleluja! Preis sei Jesus!«“ Lobpreis und Anbetung sprudelten in ihm auf. Sein ganzer Dienst veränderte sich völlig. Menschen kamen aus der ganzen Welt zu ihm, um für sich beten zu lassen.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie so eindrücklich verdeutlicht, dass Hingabe Raum für das Wirken des Heiligen öffnet. Auch schon die Opfer des Alten Bundes deuten diese Wahrheit symbolisch an.

Entscheidend ist nicht, was genau wir in einem bestimmten Moment erfahren - der Vergleich mit anderen hilft uns da nicht wirklich weiter, weil man Erfahrungen nicht kopieren kann. Aber man kann sich darin üben, eine angemessene innere Haltung zu Gott einzunehmen. Das ist selbst nach außerordentlich schönen Erfahrungen weiterhin notwendig. So wird unser Alltag zum Gottesdienst.

Es ist übrigens sehr interessant, dass Paulus den menschlichen Körper jetzt nicht mehr – wie in Kapitel 7 noch – als Fleisch bezeichnet. Nun steht nicht mehr seine Endlichkeit und Schwachheit im Vordergrund, sondern seine Bestimmung für das Leben. Konsequenterweise bezeichnet ihn Paulus jetzt als Leib – als ein schöpferisches Kunstwerk Gottes mit einer wunderbaren Bestimmung.

Paulus wird im nun beginnenden praktischen Teil immer wieder an Jesus selbst Maß nehmen. Wenn wir uns an ihm orientieren, wird sich unser Denken grundlegend ändern. Paulus beschreibt Jesus jedoch nicht nur als Vorbild. Denn Jesus will selbst durch seinen Geist in uns verwirklichen, was vor Gott Bestand hat.

Hingabe an Gott ist eine ganz wesentliche Grundhaltung zum Leben. Wenn wir spüren, dass wir uns von dieser Grundhaltung entfernt haben, sollten wir so schnell wie möglich wieder zu ihr umkehren. Denn wir sind nicht für uns selbst da und gehören auch nicht uns selbst. Wir haben unser Leben aus der Hand Gottes empfangen. Aus Liebe geben wir es an ihn zurück. Einen tieferen Sinn als diesen können wir in dieser Welt gar nicht finden. Wenn wir diese Grundhaltung einüben, vollzieht sich in uns die Erneuerung unseres Denkens und unserer Motive, sodass wir zunehmend von den Denk- und Verhaltensmustern dieser Welt gereinigt werden.

Dann können wir den Willen Gottes für unser Leben auch viel leichter erkennen und prüfen. Es ist sehr interessant, dass Paulus davon spricht, denn vor seiner Begegnung mit Jesus hatte auch für ihn der Wille Gottes eine ganz feste Gestalt. Das Gesetz sagt klar, was Gottes Wille ist. Warum also spricht er hier von der Notwendigkeit, den Willen Gottes zu prüfen? Paulus geht es im Folgenden nicht um moralische Leitplanken, die auch im Gesetz zu finden wären. Es geht ihm vielmehr um den Heilswillen Gottes. Das ist sein Thema im Römerbrief. Gott offenbart seine Gerechtigkeit, was bedeutet, dass er barmherzig ist und unser Heil sucht. Deshalb sollen auch wir zu Trägern seiner Gnade, Barmherzigkeit und Liebe werden, damit unsere Mitmenschen Jesus kennenlernen können.

Die praktische Unterweisung, die mit diesen beiden Versen beginnt, ist nicht als neues Gesetz zu lesen, sondern als Inspiration zu einem neuen Leben. Es ist ein großes Vorrecht, die Länge, Breite, Tiefe und Höhe des göttlichen Heils ermessen zu dürfen und ein Leben zu führen, das für andere zum Segen wird.

Wie prüft man den Willen Gottes? Paulus charakterisiert ihn als gut, wohlgefällig und vollkommen. Diese Begriffe verstehe ich als Kriterien. Gut ist eine moralische Kategorie. Wenn wir prüfen, was der Wille Gottes ist, müssen wir zuerst auf die Stimme unseres Gewissens hören.

Wohlgefällig ist eine seelische Kategorie. Ja, der Wille Gottes kann uns gefallen. Eine wichtige Entscheidung der jungen Christenheit wurde getroffen, weil ihr Inhalt dem Heiligen Geist und den ersten Aposteln gefallen hat. Jesus selbst hat einmal zum Ausdruck gebracht, dass das Leben im Heilswillen Gottes wie Nahrung für seine Seele ist.

Das griechische Wort, das mit „Vollkommen“ übersetzt wird, enthält das Wort „Ziel“. Der Wille Gottes ist zielführend im Blick auf unsere Berufung. Wenn wir ihn tun, reift unsere Persönlichkeit. Wir werden ausgewogener und Jesus ähnlicher.


Persönliche Vertiefung

Im Buch der Sprüche heißt es einmal: „Wie der Mensch in seinem Herzen denkt, so ist er.“ Inwiefern fühlen Sie sich durch die hier betrachteten Verse zum Umdenken herausgefordert?

Lectio Divina: 3. Mose 9,22–24; 1. Samuel 15,22; Matthäus 5,23–24; Hebräer 10,1–18

Welche Gefühle lösen die Worte “Opfer” und “Hingabe” in Ihnen aus?

Unter einem Opfer verstehen wir in unserem Sprachgebrauch meist ein bedauernswertes Geschöpf. Dass wir ein lebendiges Opfer sein sollen, klingt in unseren Ohren deshalb nicht sehr erfreulich. Welche Vorstellungen verbindet Paulus mit diesem Begriff? Machen Sie sich noch einmal bewusst, warum Hingabe an Gott eine attraktive Lebenseinstellung ist.

Können Sie an sich Verhaltensmuster erkennen, die sich negativ auf Ihre Beziehungen auswirken? Denken Sie an Ihre Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu Ihren Mitmenschen. Welche Denkgewohnheiten verbergen sich wohl hinter diesen Verhaltensmustern?

Versuchen Sie im Gespräch mit anderen, typisch menschliche Verhaltensmuster zu identifizieren. Inwiefern müsste unser Glaube an Jesus zu neuen Verhaltensmustern führen?


… in der Gemeinde (12,3–8)

Text: 3 Aufgrund der Gnade, die Gott mir gab, wende ich mich an jeden Einzelnen von euch. Strebt nicht über das hinaus, was für euch angemessen ist. Sondern seid auf Besonnenheit bedacht und dient gemäß dem Maß des Glaubens, das Gott jedem zugeteilt hat. 4 Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, 5 so sind wir als Ganzes ein Leib in Christus. Als Einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören. 6 Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns gegebenen Gnade. Hat jemand die Gabe der prophetischen Rede, dann rede er in Übereinstimmung mit seinem Glauben; 7 hat jemand die Gabe des Dienens, dann diene er. Wer zum Lehren berufen ist, der lehre. 8 Wer die Gabe hat, andere zu ermutigen und zu ermahnen, der ermutige und ermahne. Wem es leicht fällt zu geben, der gebe ohne Hintergedanken. Einer, der vorsteht, setze sich eifrig ein; übt jemand Barmherzigkeit, der tue es gern.

Die leibhaftige Hingabe unseres Lebens wird zuerst im Rahmen der Gemeinde konkret. So jedenfalls entwickelt Paulus das Thema weiter. Das ist auch naheliegend. Denn die christliche Gemeinde ist aus der Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus hervorgegangen. In ihr wird die Hingabe an Gott im Geiste Jesu Christi eingeübt. Sie wird von Paulus folgerichtig als “Leib Christi” bezeichnet. Jesus möchte nicht, dass wir als seine Nachfolger über Begriffe wie Gerechtigkeit, Liebe, Treue und Demut auf rein theoretischer Ebene dozieren. Er will vielmehr, dass diese göttlichen Eigenschaften in unseren konkreten Beziehungen Gestalt gewinnen. Gerechtigkeit setzt eine Beziehung voraus, der man gerecht werden kann. Liebe setzt jemanden voraus, den man lieben kann. Dienst setzt jemanden voraus, dem man dienen kann. Lieber Leser, gäbe es nur Sie und mich auf dieser Welt und wir wüssten nichts voneinander, wir kämen gar nicht auf die Idee, dass es so etwas wie Gerechtigkeit, Liebe und Treue überhaupt gibt. Wir hätten dafür noch nicht einmal einen Begriff. Als Nachfolger Jesu Christi sind wir dazu berufen, die Eigenschaften Gottes zunächst einmal in unserem Miteinander abzubilden. Dass das leicht ist, behauptet niemand. Doch gibt es dazu keine Alternative. Stellen Sie sich einmal vor, Sie wollten einem ihrer Mitmenschen erklären, wie Gott ist. Ihre Erklärungen würden schnell abstrakt werden, wenn Sie nichts darüber zu sagen hätten, wie sich das, was Sie über ihn glauben, auf Ihr eigenes Leben auswirkt. Wir können nicht von einem Gott reden, der in sich selbst Beziehung ist, ohne an menschlichen Beziehungen interessiert zu sein.

Wären wir in der Frage, wie wir die Gute Nachricht an unsere Mitmenschen weitergeben sollen, auf uns alleine gestellt, würde uns das sehr belasten. Zu viel hinge von uns ab. Deshalb lohnt es sich, dazu beizutragen, dass eine Gemeinschaft des Glaubens geformt wird. Wenn wir den Wert christlicher Gemeinschaft neu entdecken, streben wir nicht mehr so sehr nach unserer eigenen Vollkommenheit. Stattdessen sind wir dazu bereit, anderen mit unseren Gaben zu dienen und uns von ihnen dienen zu lassen. Wenn wir in der Gesinnung Jesu Christi miteinander umgehen, wird der Einzelne auch von dem Zwang befreit, jede geistliche Erfahrung selbst machen zu müssen. In einer Gemeinschaft profitiert jeder Einzelne vom Ganzen.

Diesen Grundsatz möchte Paulus auch in Rom verwirklicht sehen: „Keiner soll mehr von sich halten, als angemessen ist. Maßstab für die richtige Selbsteinschätzung ist der Glaube, den Gott jedem in einem bestimmten Maß zugeteilt hat.“ Im Glauben des Einzelnen liegt ein wunderbares, aber auch ein begrenztes Potenzial. Jeder hat den Glauben in einem bestimmten Maß empfangen. Dieses Maß hat etwas mit individuellen Begabungen zu tun. Wichtig ist nicht, wie der Einzelne dieses Maß einschätzt. Entscheidend ist die Einsicht, dass dieses Maß für andere da ist und nicht für uns selbst.

Sicher hat Paulus schon in den damaligen Gemeinden beobachten können, dass die Äußerungen mancher Gemeindeglieder nicht von ihrem persönlichen Glauben gedeckt waren. Sie hatten ein anmaßendes Auftreten und empfahlen sich selbst als Maßstab für andere. Ein solches Verhalten kann Gemeindeglieder zu einem geistlichen Schauspiel verleiten. Besonders dann, wenn es sich dabei um anerkannte Leiter handelt. Vielleicht werden übersteigerte Ziele formuliert, die einen hohen Erwartungsdruck aufbauen. Wo das geschieht, machen sich Einzelne zum Maßstab. Schnell werden dann gute Ideen wichtiger als der Wille Gottes. Wenn wir uns nicht an Jesu Art zu dienen orientieren, kann auch eine christliche Gemeinde zu einem Ort selbstzentrierter Strebsamkeit verkommen, wo Menschen ungnädig und ungerecht miteinander umgehen.

Manche Christen sind deshalb von christlicher Gemeinschaft enttäuscht und ziehen sich in ihr Privatleben zurück. Können sie nicht auch ohne Gemeinde gute Christen sein? Doch schon die Frage offenbart das Problem. Man will auf sich selbst gestellt ein guter Christ sein. Man hat am eigenen Maß des Glaubens genug und ignoriert die Tatsache, dass Christus uns durch andere bereichert.

Christen können nicht auf Gemeinde als Gemeinschaft des Glaubens verzichten. Jeder soll etwas dazu beizutragen. Jeder soll davon profitieren. Wo eine solche Gemeinschaft verloren gegangen ist, lohnt es sich, sie erneut zu etablieren. Denn nur in der Zuordnung zu anderen Christen findet der einzelne Gläubige sein persönliches Maß, seinen speziellen Beitrag - damit Christus in dieser Welt Gestalt gewinnt.

Die geistlichen Gaben werden von einem spezifischen Glauben begleitet. Dieser spezifische Glaube befähigt dazu, eine bestimmte Aufgabe mit Freude und Hingabe anzupacken. Er vermittelt Motivation, Kraft und Durchhaltevermögen. Mit anderen Worten: Der persönliche Glaube ist das entscheidende Kriterium dafür, wie eine Gabe angemessen in der Gemeinde eingesetzt wird. Wenn etwas in der Gemeinde nicht aus Glauben geschieht, dann ist es nicht aus Gnade, dann ist es nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden des Ganzen, dann ist es Sünde.211 Positiv ausgedrückt: Wenn Aufgaben in der Gemeinde in einem Geist des Glaubens ausgeführt werden, wird die gesamte Gemeinschaft gestärkt.

Dass jemand eine bestimmte Gnade zur Erfüllung einer bestimmten Aufgabe hat, zeigt sich nicht an dessen Anspruch, diese Gabe zu besitzen, sondern daran, dass sein Verhalten entsprechend wirkt. Deshalb klingt es fast naiv, wenn Paulus etwa die Gabe der Lehre lediglich mit dem entsprechenden Verb erläutert: „Wer zum Lehren berufen ist, der lehre.“

Paulus entfaltet an keiner Stelle eine vollständige Lehre über Geistesgaben. Auch hier nicht. Aber dieser Abschnitt macht besonders deutlich, in welche Richtung unsere Fragen gehen müssen, wenn wir geistliche Gaben identifizieren und einsetzen wollen.

Ein Gabentest kann uns dabei helfen, unsere Gaben zu entdecken und zum Wohl anderer einzusetzen. Auf der Suche nach unseren Gaben sollten wir uns jedoch nicht auf uns selbst fixieren. Es sollte uns nicht so sehr darum gehen, ob wir in der Gemeinde mit einer bestimmten Gabe zum Zuge kommen. Wir sollten uns vielmehr fragen, auf welche Weise wir in einer bestimmten Situation anderen dienen und somit die Gemeinschaft stärken können.214 In unterschiedlichen Zusammenhängen kann der Heilige Geist durchaus unterschiedliche Potenziale in uns aktivieren und für andere fruchtbar machen.

Im Übrigen erkennen andere unsere Begabung oft besser als wir selbst. Wer auf der Suche nach seinem Platz in der Gemeinde ist, sollte deshalb das Gespräch mit anderen Gemeindegliedern suchen. Selbst eine Gemeindeleitung wird nach Bestätigung durch die Gemeinde fragen, wenn Leitungsaufgaben neu besetzt werden sollen. Der „Platz in der Gemeinde“ wird nicht einmal für immer eingenommen. Man kann ihn nicht mit einem Stuhl vergleichen, den man für sich in Anspruch nimmt und gegenüber anderen verteidigt. Die Beziehungen der Gläubigen untereinander sind so dynamisch wie der Glaube selbst. Immer wieder müssen Rollen überdacht und Aufgaben angepasst werden. Gott wird uns im Rahmen der Gemeinde jedenfalls weder überfordern, noch auf die Zuschauertribüne verweisen wollen.

Auf jeden Fall soll im Gemeindealltag die Freude daran dominieren, dass wir im Glauben nicht auf uns alleine gestellt sind, dass wir in der Gemeinschaft Ergänzung erleben und zugleich dazu beitragen dürfen, dass selbst Außenstehende etwas von der Realität Jesu unter uns wahrnehmen können.


Persönliche Vertiefung

Es gibt keine perfekte Gemeinde. Dennoch entspricht es dem Plan Gottes für Ihr Leben, dass Sie zu einer Gemeinschaft des Glaubens gehören, die sich Jesus und seinem Auftrag unterstellt. Ohne eine Gemeinschaft des Glaubens ergibt vieles von dem, was Paulus uns im praktischen Teil des Römerbriefs mitteilt, keinen Sinn.

Lectio Divina: Sprüche 11,25; Johannes 1,16; Epheser 3,14–19; 1. Petrus 2,9–10

Warum ist meine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft des Glaubens so notwendig?

Welche Entscheidungskriterien würden Sie jemandem empfehlen, der auf der Suche nach einer passenden Gemeinde ist?

Wie können Sie Ihre Gaben entdecken und zum Wohl anderer einbringen?

Worauf ist vor der Einsetzung von Leitern mehr zu achten, auf die Gaben des Kandidaten oder auf seinen Charakter?


… in Beziehungen (12,9–21)

Text: 9 Eure Liebe soll echt und ohne Heuchelei sein. Verabscheut das Böse, haltet am Guten fest. 10 Seid im Umgang miteinander herzlich. Übertrefft euch gegenseitig darin, einander Achtung zu erweisen. 11 Lasst im Eifer nicht nach, lasst euch vielmehr vom Geist entflammen und dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung. Haltet unter äußeren Belastungen am Glauben fest und hört nicht auf, zu beten. 13 Helft Gemeinde-gliedern, die sich in einer Notlage befinden und übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit denen, die sich freuen; weint mit denen, die weinen. 16 Seid untereinander eines Sinnes. Strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für klug. 17 Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf das bedacht, was vor allen Menschen ehrbar ist. 18 So weit es an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern überlasst Gott das Gericht. Denn es heißt in der Schrift (5. Mose 32,35): »Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.« 20 Mehr noch: »Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen. Ein solches Verhalten wird ihn beschämen« ((Sprüche 25,21–22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Was bereits über den Sinn christlicher Gemeinschaft gesagt wurde, wird in diesem Abschnitt deutlich bestätigt. Zugleich wird aber auch deutlich, dass die demütige Grundhaltung zueinander, die wir als Christen bewusst einüben wollen, sich nicht auf christliche Veranstaltungen eingrenzen lässt. Sie wirkt sich auf alle Menschen aus, mit denen wir zu tun haben.

Der hier vorliegende Abschnitt ist sprachlich gesehen so einfach und konkret, dass er keiner weiteren Auslegung bedarf. Tatsächlich geht es auch nicht um eine theoretische Auslegung. Die Worte dieser Unterweisung wollen mit unserem Leben ausgelegt werden.

Doch wie geht das? Obwohl uns das hier gezeichnete Bild eines christlichen Lebens spontan fasziniert, so schnell wird uns auch klar, wie wenig wir diesem Bild entsprechen. Was Paulus zu unserer Inspiration geschrieben hat, wird bald zu einem unerfüllbaren Anspruch, wenn wir nicht verstehen, dass er uns hier kein neues Gesetz präsentiert. Gesetze können nämlich einen solchen Lebensstil nicht hervorbringen.

Auch wenn die meisten Leser dieses Buches keine Juden sind, sollten wir, was das Gesetz angeht, so viel Klarheit wie möglich haben. Denn wenn wir in der Bibel lesen, können wir viele Text so lesen, als wären sie ein Gesetz. Auch im Neuen Testament. Wie gehen wir mit solchen Texten um? Wie lesen wir sie? Auf welche Weise lesen wir sie mit Gewinn?

Der messianische Jude Arnold G. Fruchtenbaum hat darauf hingewiesen, dass das mosaische Gesetz ein System aus Geboten und Verboten ist. Ein Jude versteht es immer als Einheit. Auch Paulus spricht meist vom Gesetz als Ganzes. Wenn jemand auch nur eines der im Gesetz enthaltenen Gebote verletzt, wird er an Gott schuldig.218 Weil das Gesetz als Ganzes von Gott eingesetzt wurde, wird es immer diese religiöse Dimension haben. Das schuldig werden vor Gott hat letztlich eine pädagogische Funktion. Es lässt den Schuldigen auf seinen Erlöser warten, der diese Schuld vergeben wird.

Das System des Gesetzes ist entweder von Gott autorisiert, oder von Gott außer Kraft gesetzt. Paulus lässt keinen Zweifel daran, dass Gott dieses System durch Kreuz und Auferstehung Jesu außer Kraft gesetzt hat. Das bedeutet freilich nicht, dass etwa die Zehn Gebote uns heute nichts mehr zu sagen hätten. Für unsere Ethik bleibt relevant, was von Jesus und den Aposteln bestätigt wurde. Trotzdem ist das Gesetz als Ganzes nicht mehr die Grundlage unserer Beziehung zu Gott.

Fruchtenbaum veranschaulicht diese Wahrheit mit einem Bild aus der Welt des Verkehrsrechts. Wenn Sie als deutscher Autofahrer in England Urlaub machen, dann müssen Sie die deutsche Straßenverkehrsordnung hinter sich lassen, denn in England gilt die britische Straßenverkehrsordnung. Das bedeutet, dass Sie dort auf der linken Straßenseite fahren müssen. Doch in England ist deshalb nicht alles umgekehrt. Auch dort wird Sie eine rote Ampel dazu veranlassen anzuhalten und eine grünen Ampel gibt Ihnen auch dort freie Fahrt. An bestimmten Punkten sind also die Straßenverkehrsordnungen der Länder vergleichbar, an anderen Punkten jedoch nicht. Entscheidend ist, dass Ihr Fahrverhalten nach dem geltenden Gesetz des jeweiligen Landes beurteilt wird. Deshalb können Sie sich in England nicht auf die deutsche Straßenverkehrsordnung berufen.

Mit dem Kommen Jesu ist das Reich Gottes angebrochen. Durch unseren Glauben an ihn wurden wir Bürger des Reiches, in dem er regiert. Er beurteilt unser Verhalten nicht mit dem Maßstab des Alten Bundes, sondern mit dem Maßstab des Neuen Bundes. Er selbst ist dieser Maßstab. Die Liebe, die er uns gebietet, ist zugleich die Liebe, mit der er uns beschenkt. Sein Gebot dürfen wir deshalb nicht als Idee, Motto, Lehrsatz oder Vorschrift auffassen. Gottes Liebe ist doch in ihm konkret und erfahrbar geworden. Sie will auch durch uns konkret und erfahrbar werden. Das ist nur möglich, wenn wir in seiner Liebe bleiben. Dann sind wir in der Lage, seine Liebe mit anderen teilen.221 Wenn wir aber nur deshalb lieben, weil uns Liebe geboten ist, werden wir am Ende nur nach außen hin etwas darstellen wollen, was wir von innen her gar nicht sind.

Deshalb sollten wir in unserem Abschnitt nicht nur die Ähnlichkeiten zu den Geboten des Alten Testaments wahrnehmen, sondern auch die Unterschiede. Im vorliegenden Text begegnet uns nirgendwo jenes „du sollst“ oder „du sollst nicht“, welches uns aus den Zehn Geboten her so vertraut ist. Trotzdem weisen die Ermunterungen zur christlichen Tat, die wir hier finden, über das hinaus, was das Gesetz des Alten Testaments gefordert hat. Paulus geht ganz selbstverständlich davon aus, dass sich ein verändertes Sein in einem veränderten Verhalten ausdrückt. Er ist fest davon überzeugt, dass die Gegenwart des Heiligen Geistes zur Liebe befähigt und beschreibt beispielhaft, wie sie sich in konkreten Situationen auswirkt.

Steht Christus im Mittelpunkt unserer Beziehung zu Gott, sind wir nicht auf die Grenze hin orientiert, was für ein Leben unter dem Gesetz typisch wäre. Wir wollen ihm doch immer ähnlicher werden. Nur mit dieser Gesinnung können wir so handeln, wie es ihm in einer gegebenen Situation entsprechen würde. Wenn wir diesen Textabschnitt mit unserem Leben interpretieren, dann interpretieren wir letztlich die Liebe, die wir von Jesus empfangen haben.

So fordert uns dieser Abschnitt zur Hingabe an Gott und zu unseren Mitmenschen auf, damit unser ganzes Leben zu einem einzigen Gottesdienst wird. Diese Hingabe steht auf dem unerschütterlichen Fundament seiner Hingabe an uns. Durch seine Gnade wird immer mehr die Frucht des Geistes in uns reifen: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.”224

Dass sich unser Herz nicht aufgrund unserer Anstrengungen wandelt, sondern aufgrund seiner Gnade, soll abschließend folgende Geschichte verdeutlichen: Eine Teilnehmerin unseres Kurses zur Vertiefung des Glaubens erkannte in der Auseinandersetzung mit den ersten Kapiteln des Römerbriefs plötzlich, dass Gott von ihr gar nicht erwartet „gut“ zu sein. Diese Erwartung lag seit ihrer Kindheit wie eine schwere Last auf ihrem Leben. Jetzt konnte sie endlich frei von solchem Erwartungsdruck mit Gott leben. In einem späteren Treffen sagte sie dann ganz fasziniert: „Ich habe den Eindruck, dass ich viel besser bin, seit ich nicht mehr gut sein will.“ Bei unserem letzten Treffen fragte ich sie dann: „Haben deine Mitmenschen denn schon etwas von deiner inneren Veränderung gespürt?“ Das konnte sie spontan bestätigen, nur dass ihr Arbeitskollege gar nicht so froh über diese Veränderung sei. Früher konnte er mit ihr viel leichter über die Verhältnisse und andere Mitarbeiter klagen. Jetzt, wo sie plötzlich so gütig sei, ginge das gar nicht mehr …


Persönliche Vertiefung

Alle unsere Beziehungen sind über unser Herz miteinander verknüpft. Wir können nicht Gott lieben und gleichzeitig unsere Mitmenschen ablehnen. Wenn wir unsere Mitmenschen ablehnen, lehnen wir zugleich auch Gott und uns selbst ab. Wenn wir uns selbst nicht lieben, wie können wir dann Gott lieben, der uns geschaffen hat? Wir können uns nicht hassen und zugleich aus vollem Herzen Gott und den Mitmenschen hingegeben sein. Wir haben nur ein Herz, mit dem wir sowohl Gott als auch die Menschen und uns selber lieben können. Diese Beziehungsebenen sind über unser Herz miteinander verknüpft.

Lectio Divina: Matthäus 10,11–14; Lukas 5,17–25; Lukas 7,36–50; Johannes 8,1–11

Lesen Sie noch einmal Römer 12,9–21 und fragen Sie sich, an welchen Stellen dieser Text besonders stark in Ihren Alltag hinein spricht.

Nehmen Sie sich etwas Zeit, um für Ihre Mitmenschen zu beten.

Fragen Sie sich vor Gott, wie diese Menschen seine Liebe konkret erfahren könnten.

Nehmen Sie Ihre inneren Blockaden wahr und setzen Sie sich der Liebe Gottes aus, damit seine Liebe diese Blockaden überwinden kann.


… im gesellschaftlichen Leben (13)

Textauszug (1.4–10): 1 Jeder leiste den Trägern staatlicher Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn die staatliche Macht kommt von Gott, und die bestehende Obrigkeit ist von ihm verordnet … 4 Denn sie steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber das Böse tust, so gibt sie dir Anlass, dich zu fürchten. Nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Denn sie vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. 5 Deshalb ist es notwendig, sich dem Staat unterzuordnen, nicht aus Furcht vor Strafe, sondern auch des Gewissens wegen. 6 Darum ist es auch richtig, dass ihr Steuern zahlt. Denn die Beamten dienen Gott, wenn sie sich darum bemühen, dass der Staat seine Aufgaben erfüllen kann. 7 Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid. Steuer, dem die Steuer gebührt. Zoll, dem der Zoll gebührt. Erweist Respekt, dem Respekt zusteht. Erweist Ehre, dem Ehre zusteht. 8 Bleibt niemandem etwas schuldig. Nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. 9 Wenn nämlich das Gesetz sagt (2. Mose 20,13–17): »Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren«, dann sind diese und alle anderen Gebote in dem einen Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Liebe deine Mitmenschen wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist also die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Das 13. Kapitel kann in zwei Abschnitte gegliedert werden, die inhaltlich aufeinander bezogen sind. Im ersten Abschnitt werden Christen herausgefordert, die staatliche Autorität anzuerkennen. Im zweiten Abschnitt227 werden sie dazu aufgefordert, sich von der Liebe Gottes leiten zu lassen. In meinen Erläuterungen verbinde ich beide Aspekte zu einer Perspektive auf das Thema.

Da das christliche Verhalten am Willen Gottes ausgerichtet sein soll, beginnt Paulus mit einer klaren theologischen Ansage: „Die staatliche Macht kommt von Gott.“ Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, warum Christen jener Tage diese klare Ansage nötig hatten.

Erstens war Juden die römische Fremdherrschaft in Judäa ein Dorn im Auge. Die meisten erwarteten die Wiederherstellung jüdischer Souveränität und brachten diese Erwartung mit dem Kommen des verheißenen Messias in Verbindung. Da die ersten Jünger in Jesus den Messias erkannt hatten, glaubten sie auch noch nach seiner Auferstehung, die Wiederherstellung jüdischer Souveränität unter messianischer Herrschaft stünde unmittelbar bevor. Zweitens gab es auch unter Christen nicht-jüdischer Herkunft solche, die mit der baldigen Wiederkunft Jesu rechneten und deshalb die gegenwärtigen Rahmenbedingungen ihres Lebens nicht ernst genug nahmen.230 Zumal das heidnische Kaisertum nicht gerade die Werte vertrat, die Jesus verkündigt hatte. Im Gegenteil: Juden und Christen waren ständig gefährdet, als Staatsfeinde abgestempelt zu werden, da sie den Kult um den Kaiser ablehnten, der durchaus auch religiöse Züge hatte.

Für Paulus ist jedoch in Übereinstimmung mit dem Alten Testament klar, dass auch die staatliche Autorität heidnischer Völker von Gott gegeben ist. Als das jüdische Volk in die Babylonische Gefangenschaft verschleppt worden war, wollte Gott, dass sie auch dort das Wohl der Stadt suchen.

Christen und Nichtchristen leben gemeinsam im Raum des Staates. Für beide Gruppen gelten dieselben Ordnungen. Christen sollen nicht nur die staatliche Autorität anerkennen, sondern auch das Wohlergehen aller im Blick haben.

Gott hat dem Staat die Aufgabe zugewiesen, Unrecht zu bestrafen. Ihm steht deshalb das Gewaltmonopol zu. Das Strafrecht setzt dem egoistischen Streben der Menschen Grenzen. Das ist eine gute göttliche Ordnung für eine Welt, die weitgehend von Sünde bestimmt wird.234 Im Blick auf Gottes eigentliche Absicht freilich, erscheint die staatliche Ordnung nur als Übergangsordnung. Christen befinden sich nämlich auf dem Weg zu einer neuen Ordnung. Sie erwarten tatsächlich, dass Gott selbst einmal regieren wird. Aber gerade deshalb wäre es für sie beschämend, wenn sie nur mit Furcht vor Strafe dazu motiviert werden könnten, sich staatlicher Autorität zu unterstellen. Sie sollen das vielmehr ihres Gewissens wegen tun.236 Geht es für sie doch darum, das Gute und Richtige aus innerer Überzeugung zu tun. Darum passen Sätze wie „Das hat ja keiner gesehen“ oder „Das wird ja sowieso nicht kontrolliert“ nicht zu einer christlichen Grundhaltung.

Wenn ein Christ seine Lebensführung auf den Willen Gottes hin ausrichtet, dann werden ihn die Maßstäbe eines Staates gewiss nicht überfordern, die ja moralisch gesehen hinter den Zielen Gottes mit seinem Leben zurückbleiben. Freiheit vom Gesetzlegitimiert keine Gesetzlosigkeit gegenüber einem säkularen Staat.

Paulus wäre sogar bereit gewesen, eine vom Staat verhängte Todesstrafe zu akzeptieren, wenn er wirklich etwas getan hätte, das der Todesstrafe würdig wäre. Und das, obwohl er zugleich der Vergebung Gottes gewiss sein könnte. Dass seine grundsätzliche Anerkennung des weltlichen Staates sehr weit ging, zeigt schon die Tatsache, dass die Abfassung des Römerbriefs in die Regierungszeit des römischen Kaisers Nero fällt, der ein sehr umstrittener Kaiser war.

Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die vorliegende Unterweisung auf das alltägliche gesellschaftliche Leben von Christen zielt. Sie sollen sich den gegebenen staatlichen Autoritäten unterordnen, weil staatliche Autorität in ihrer ordnenden und moralischen Funktion von Gott gewollt ist. Paulus schreibt hier nicht an den Kaiser, an den er sicher andere Worte gerichtet hätte. Auch darf uns nicht entgehen, dass Paulus nicht gerade euphorisch über den Staat schreibt, als würde er vom Staat das Heil erwarten. Er zielt weder auf einen christlichen Staat, noch legitimiert er mit seinen Ausführung Herrscher, die sich selbst als Heilsbringer verstehen und machthungrig ein staatliches System missbrauchen. Ein Mann wie Paulus, der das Heil noch nicht einmal vom göttlichen Gesetz erwartet hat, ist weit davon entfernt, staatliche Gesetzgebung zu glorifizieren. Gesetze sollten so gerecht wie möglich sein. Aber Gesetze verändern Menschen nicht grundlegend. Unter Androhung von Strafe tragen sie immerhin zu sozialem Verhalten bei und unterbinden gröbstes Unrecht.

Christen sollten sich nicht scheuen, das gesellschaftliche Leben mit zu gestalten und politische Verantwortung zu übernehmen. Gott gebraucht einzelne Menschen zum Heil von vielen. Das bedeutet aber nicht, dass sich ein staatliches System zum Reich Gottes auf Erden weiterentwickeln ließe. Die staatliche Macht ist nicht unser Vater. Sie wird uns nicht vom Bösen erlösen. Doch wenn Gottes Sohn so sehr Mensch geworden ist, dass selbst er sich staatlicher Autorität unterordnet, können wir uns als seine Nachfolger nicht darüber hinwegsetzen. Gott hat großes Interesse am Wohl aller Menschen. Ob sie an ihn glauben oder nicht. Deshalb dürfen wir nicht der Ansicht verfallen, dass wir dem Willen Gottes nur in der Gemeinde begegnen. Auch im gesellschaftlichen Leben ist der Wille Gottes anzuerkennen und zu verwirklichen. Und das, obwohl wir wissen, dass die gegenwärtige Zeit im Vergleich zum kommenden Tag, an dem die Welt vollendet wird, nur als Nacht bezeichnet werden kann.240

Unser Glaube soll uns nicht dazu verleiten, untätig auf den Tag zu warten, an dem Gott richtend Recht schafft und seine gerechte Herrschaft verwirklicht. Vielmehr soll uns die Erwartung seiner Herrschaft selbst in den Lebensbereichen prägen, die für den Staat unsichtbar sind. Sexuelle Unmoral, Suchtverhalten und Maßlosigkeit werden auch heute gerne als Privatangelegenheit angesehen, obwohl solches Verhalten erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen hat. Die meisten Althistoriker sahen einen der wesentlichen Gründe für die stillschweigende Auflösung des Römischen Reiches im moralischen Zerfall der römischen Gesellschaft.

Deshalb tun Christen schon eine ganze Menge für die Gesellschaft, wenn die Liebe ihr Verhältnis zu Gott und ihren Mitmenschen bestimmt. Die Liebe geht über das hinaus, was ein Staat von seinen Bürgern fordern kann. Durch sie wird auch Gottes Gebot erfüllt.


Persönliche Vertiefung

Wir können von staatlicher Autorität nicht das Heil der Welt erwarten. Aber wir sollen den Staat als zeitliche Ordnung Gottes für diese Welt anerkennen. Welche Haltung nehmen Sie momentan zum Staat ein. Ist Ihre Haltung zum Staat ideologisch überhöht oder rebellisch? Welche Konsequenzen hätte eine biblisch realistische Haltung zum Staat für Ihr alltägliches Verhalten?

Lectio Divina: Markus 12,13–17; Johannes 18,33–37; Apostelgeschichte 5,26–33; 1. Timotheus 2,2–4

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Worte wie Autorität, Gehorsam und Unterordnung hören?

Warum sollen Christen den Staat anerkennen?

Wie können wir zwischen Unterordnung und bedingungslosem Gehorsam unterscheiden?

Wie können wir als Christen ein Segen für Staat und Gesellschaft sein?


… im Umgang mit Gewissensfragen (14–15,13)

Textauszug (14,1–3.7–8.14–18.23;15,1–2.5–7.13): 1 Nehmt den Schwachen im Glauben auf, doch zieht ihn nicht zur Entscheidung zweifelhafter Fragen heran. 2 Der eine glaubt, dass er alles essen darf. Wer in seinem Glauben jedoch schwach ist und Angst davor hat sich zu versündigen, verzichtet auf Fleisch. 3 Wer Fleisch isst, soll den nicht verachten, der es nicht isst. Und wer kein Fleisch ist, soll den nicht richten, der es isst. Gott hat ihn doch angenommen … 7 Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben, wir gehören immer dem Herrn … 14 Als einer, der dem Herrn gehört, habe ich die feste Überzeugung: Nichts ist in sich selbst unrein. Unrein ist es nur für den, der es für unrein hält. 15 Wenn aber dein Bruder verwirrt oder betrübt wird, weil du in seiner Gegenwart etwas isst, was sein Gewissen ihm verbietet, dann handelst du nicht mehr der Liebe gemäß. Verdirb nicht deiner Speise wegen den Glauben eines Menschen, für den Christus gestorben ist. 16 Es darf doch nicht der Lästerung preisgegeben werden, was euren Glauben in Wirklichkeit auszeichnet. 17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. 18 Wer Christus so dient, gefällt Gott und ist zugleich glaubwürdig vor den Menschen … 23 Wer etwas isst, obwohl er Bedenken hat, zieht sich ein schlechtes Gewissen zu, weil er gegen seine Glaubensüberzeugung handelt. Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde … 15,1 Wenn wir im Glauben stark sind, sollen wir das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht an uns selbst Gefallen haben. 15,2 Jeder soll Rücksicht auf seinen Nächsten nehmen und die Gemeinschaft der Glaubenden stärken … 15,5 Der Gott der Geduld und der Ermunterung gebe euch, untereinander gleichgesinnt zu sein. So wie es Christus Jesus entspricht. 15,6 Dann könnt ihr mit einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus preisen. 15,7 Darum nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat, zum Lob Gottes … 15,13 Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass eure Hoffnung immer reicher werde durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Wer Gottes Gnade im Glauben an Jesus angenommen hat, dem steht das Leben offen. Er muss nicht mehr versuchen, sein Leben mit einem umfassenden System von Geboten in Einklang zu bringen. Der Glaube an Jesus vermittelt ihm Freiheit. Andererseits kann falsch verstandene Freiheit christliche Gemeinschaft belasten. Wie also kann ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Freiheit gestaltet werden?

Diese Frage wird in unserem Abschnitt an Beispielen erläutert, die dem Alltag der urchristlichen Gemeinschaft entnommen sind. Die genauen historischen Hintergründe der hier beschriebenen Spannungen müssen wir nicht unbedingt kennen. Denn wir können sehr leicht vergleichbare Beispiele aus unserer Zeit und Kultur heranziehen.

Auch heute gibt es unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten. Es gibt Gläubige, die fast alles essen und genießen. Auf der anderen Seite gibt es auch christliche Asketen. Manche sind Vegetarier, manche sogar Veganer, wieder andere halten sich an unterschiedliche Diäten. Auch im Blick auf Alkohol werden unterschiedliche Haltungen eingenommen. Manche Christen verzichten mühelos darauf, andere praktizieren einen maßvollen Alkoholgenuss, wieder andere befinden sich im Umgang mit alkoholischen Getränken in einem Spannungsfeld, das ihren Glauben herausfordert. Auch im Blick auf die Frage, wie stark sich ein Christ auf die ihn umgebende Kultur einlassen darf, gibt es unterschiedliche Vorstellungen. So haben Sie sich sicher auch schon gefragt: Welche Filme darf ich sehen? Welche Musik darf ich hören? An welche Orte darf ich gehen? Wie viel Fernsehkonsum verträgt sich mit meinem Christsein? Ist das Internet für mich eher eine Chance oder eher eine Gefahr? Wie wichtig sind mir Statussymbole? Wie viel meines Vermögens verbrauche ich für mich selbst? Wie viel davon setze ich für andere ein? Wie viel spende ich? Kaufe ich beim Lebensmitteldiscounter oder im Bioladen? Fahre ich einen Benziner oder ein Elektroauto oder benutze ich nur öffentliche Verkehrsmittel? Wie viel Zeit verbringe ich mit Freunden? Welchen Stellenwert hat für mich der Umgang mit anderen Christen? Auf welche Beziehungen soll ich mich tiefer einlassen? Welche Beziehungen soll ich lieber meiden?

Freiheit schafft Raum für viele Fragen. Manche von uns würden sich lieber einen Regelkatalog zulegen, als einen verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit einzuüben.

Interessanterweise hält Paulus die Christen für stark, die sich viel Freiheit nehmen und grundsätzlich eine breite Palette von Möglichkeiten vor sich sehen. Diejenigen, die ihre Entscheidungsmöglichkeiten von vornherein einschränken, sind aus seiner Sicht schwach im Glauben. Sie neigen eher als die Starken dazu, sich auf Regeln zu verlassen, statt auf den Beistand des Heiligen Geistes. Trotzdem wertet Paulus die Schwachen gegenüber den Starken nicht ab. Der Glaube der Schwachenist in den Augen von Paulus genauso viel wert, wie der Glaube der Starken. Er will die Schwachen noch nicht einmal dazu überreden, es den Starken gleich zu tun. Paulus respektiert die Stimme ihres Gewissens, weil das Gewissen grundsätzlich eine Gabe Gottes ist. Der Mensch weiß durch sein Gewissen um seine Verantwortung vor Gott.243 Es hat die Aufgabe zu prüfen, inwiefern sein Verhalten mit seinen Überzeugungen übereinstimmt.

Paulus würde sicher nicht behaupten, dass im Gewissen eines jeden Menschen genau das einprogrammiert ist, was allgemein richtig und für alle verbindlich ist. Denn dann müsste er ja einfach nur dazu auffordern, sich an die Stimme des Gewissen zu halten. Schnell wären alle Unterschiedlichkeiten aus dem Weg geräumt und alle würden im Gleichschritt laufen. Doch das Gewissen des Einzelnen hat auch etwas mit dessen Individualität zu tun. Was für den einen richtig ist, kann für den anderen falsch sein. Obwohl sich das Urteil des Gewissens von Mensch zu Mensch unterscheidet, darf es nicht übergangen werden. Menschen, die ihr Gewissen ignorieren, schaden sowohl sich selbst, als auch ihren Mitmenschen. Beispielsweise sollte ein trockener Alkoholiker niemals zum Genuss von Alkohol überredet werden, weder offensiv, noch unterschwellig. Er könnte leicht in die Sucht zurückfallen. Dieses Beispiel zeigt, dass das, was für den einen unproblematisch ist, für den anderen verhängnisvoll sein kann. Das Gewissen hat also etwas mit unserem persönlichen Verhältnis zu Gott und damit mit unserem persönlichen Glauben zu tun. Und damit sind wir beim springenden Punkt. Wenn jemand gegen das Urteil seines Gewissens handelt, kann er nicht zugleich in der Freiheit bestehen, die aus dem Glauben kommt. Und jetzt kommt die alles entscheidende Aussage: „Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“. Weil Sünde trennend wirkt, kann sich der Betreffende nicht mehr an der Gemeinschaft mit Gott und anderen Christen erfreuen.

Den Starken ist von daher der Zweck der Freiheit deutlich zu machen. Wahre christliche Freiheit führt nicht zu selbstgefälligem Stolz, sondern zum Dienst am Nächsten. So hat Jesus selbst Freiheit verstanden und praktiziert. Deshalb werden die Starken ihre Freiheit zum Wohl anderer gebrauchen. Verstehen sie jedoch den Zweck ihrer Freiheit nicht, werden sie möglicherweise sogar von der Gnade so gesetzlich, dogmatisch und fordernd reden, dass sie dabei gerade nicht den angenehmen Duft jener Gnade verbreiten, deren Fürsprecher sie angeblich sind. So aber werden nicht nur sie, sondern auch ihre Botschaft, unglaubwürdig.

Deshalb gilt für das Zusammenleben der Christen: „Nehmt einander an, gleichwie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes!“ Dabei ist Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.“

Wofür sind wir also verantwortlich? Erstens ist jeder Gläubige für sein eigenes Leben verantwortlich und sollte prüfen, welches Verhalten dem Willen Gottes für sein Leben entspricht. Er sollte sich fragen, was ihm guttut oder was ihm schadet, was sein Leben fördert oder seine Lebenskraft hemmt, was ihm hilft, seine Berufung zu verwirklichen, beziehungsweise was die Entfaltung seiner Berufung behindert. Zweitens ist jeder Gläubige dafür verantwortlich, sein Verhalten gegenüber anderen Christen zu prüfen. Was er für sich als richtig erkannt hat, muss deshalb noch lange nicht für alle gelten. Er muss sich also fragen, wie er die geistliche Entwicklung anderer fördern kann. In einer christlichen Gemeinschaft steht nämlich nicht er, sondern Jesus Christus im Mittelpunkt. Wo Christus regiert, erleben wir als Gemeinschaft der Glaubenden „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“.248

Die Gemeindeleitung hat insbesondere darauf zu achten, dass das, was für alle verbindlich gemacht wird, den dienenden Charakter im Blick auf die gesamte Gemeinschaft nicht verliert. Die Ermahnung zu Beginn des Kapitels gilt wohl besonders ihr: „Den Schwachen im Glauben aber nehmt auf, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter Fragen“. Wo Einzelne versuchen, ihre engen Ansichten für alle verbindlich zu machen, da ist die Grenze individueller Freiheit erreicht. Da geht es meist auch nicht mehr um Gewissensfragen, sondern um die menschliche Tendenz zu Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit.250 Dann aber gilt, was Paulus an anderer Stelle sagt: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht Knechte der Menschen.“


Persönliche Vertiefung

Schon im ersten Kapitel des Römerbriefs haben wir uns mit der Funktion des Gewissens befasst. Wir wissen bereits, dass die Stimme unseres Gewissens von Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit übertönt werden kann. Unterstellen Sie es deshalb der formenden Kraft des Heiligen Geistes, sodass es von Fehlprägungen geheilt und gereinigt werden kann. Doch üben Sie keinen Druck darauf aus und ignorieren Sie es nicht. Es soll überprüfen, inwiefern Ihr Lebensstil mit Ihrem Glauben und Ihren Überzeugungen übereinstimmt.

Lectio Divina: Psalm 139,23–24; 1. Johannes 3,18–24; 1. Timotheus 1,5; Apostelgeschichte 24,16

Wenn Paulus vor gegenseitiger Verurteilung warnt, meint er damit, dass man gar nicht über Fragen des Lebensstils urteilen sollte?

In welchen wesentlichen Inhalten müssen Christen übereinstimmen, um trotz aller Unterschiedlichkeit den Frieden und die Freude des Geistes genießen zu können?

Was fällt Ihnen leichter: Niemanden zu verachten, der eine zu enge Sicht vertritt? Oder niemanden zu verurteilen, der eine zu weite Sicht vertritt?

Welche Weisheit aus diesem Abschnitt sollten Sie aktuell beherzigen, um zu einer gesunden Gemeinschaft unter Christen beitragen zu können?









VI. Briefschluss (15,14–16,27)


Textauszug (15,14–33): Liebe Schwestern und Brüder, was euch anbelangt, so bin ich überzeugt, dass ihr selbst genügend Güte und Verständnis habt, um euch gegenseitig zu ermutigen und zu ermahnen. Trotzdem möchte ich euch gern verschiedene grundlegende Dinge noch einmal in aller Deutlichkeit schreiben. Vieles davon wird euch in Erinnerung rufen, was ihr ohnehin schon wisst. Aber ich denke, dass Gott mir dafür den Auftrag gegeben hat, denn der Dienst, den Jesus mir anvertraut hat, besteht ja darin, die Frohe Botschaft unverfälscht an die nichtjüdischen Völker weiterzugeben. Dadurch soll ihr Leben in der Kraft des Heiligen Geistes so verändert werden, dass Gott seine Freude an ihnen hat. Wenn ihr so wollt, dann ist das mein einziges Ruhmesblatt: Jesus Christus selbst hat mich zum Dienst berufen. Darum werde ich es auch nicht wagen, irgendetwas anderes zu erzählen als das, was Christus durch mich in Wort und Tat, mit Zeichen und Wundern tun konnte, um die nichtjüdischen Völker für ihn zu erreichen. All das ist einzig und allein durch die Kraft des Heiligen Geistes geschehen; anders wäre es gar nicht möglich gewesen, die Frohe Botschaft von Jesus Christus von Jerusalem bis Illyrien, von Israel bis Kleinasien zu verbreiten. Dabei waren meine Anstrengungen vor allem darauf ausgerichtet, die Frohe Botschaft dorthin zu bringen, wo man noch nie etwas von Jesus gehört hat. Ich wollte nicht auf fremdem Grund aufbauen, sondern bezog von Anfang an das Schriftwort: „Die noch nie etwas von ihm gesehen haben, denen wird er vor Augen gestellt, und die noch nie etwas von ihm gehört haben, die verstehen, was man ihnen von ihm berichtet“ (Jesaja 52,15) auf meinen Dienst.

Das ist auch der Grund, warum ich immer wieder daran gehindert wurde, zu euch zu kommen. Doch jetzt hat sich dies geändert: Es gibt hier kaum noch eine Gegend, die ich nicht schon besucht hätte. Daher wächst die Sehnsucht, endlich zu euch zu kommen. Nun habe ich schon lange vor, nach Spanien zu reisen. Das bestärkt meine Hoffnung, euch doch endlich einmal kennenzulernen, auch wenn es — auf der Durchreise wäre. Aber wenn wir eine solche Zeit gut nutzen und ich gestärkt durch die Freude über euch wieder weiterreise, dann könnten mich ja einige von euch auf meiner Missionsreise nach Spanien begleiten?!

Doch zunächst kehre ich jetzt nach Jerusalem zurück, um der dortigen Gemeinde zu helfen. Denn die Glaubensgeschwister aus Mazedonien und Achaja haben ein großartiges Zeichen ihrer Verbundenheit mit der Gemeinde in Jerusalem gesetzt: Sie haben eine große Geldsammlung abgehalten, um auf ihre Weise den Armen der Jerusalemer Gemeinde zu helfen. Sie haben sich dabei als Schuldner gegenüber dieser Gemeinde gesehen und nur versucht, mit materiellen Gaben ein wenig auszugleichen, was sie an geistlichen Gaben durch diese erhalten haben. Wenn ich das erledigt und den Ältesten in Jerusalem die gesamte Kollekte ausgehändigt habe, werde ich über Rom nach Spanien reisen. Ich bin zuversichtlich, dass Christus mir die ganze Fülle seines Segens für euch mitgeben wird. Um eines nur bitte ich euch inständig um Jesu Christi willen und weil euch die Liebe des Heiligen Geistes erfüllt: Helft mir bei meinem Kampf, indem ihr für mich betet, damit ich vor den Juden sicher bin, die in Jerusalem den Ton angeben und einfach nicht bereit sind, sich auf Gott einzulassen. Auch wünsche ich mir sehr, dass sich die Leitenden der Gemeinde in Jerusalem über meinen Dienst vorbehaltlos freuen. Wie entspannt könnte ich mich dann auf die Reise zu euch begeben, um mit euch eine gute und ruhige Zeit zu verbringen. Schon jetzt wünsche ich euch, dass der Gott des Friedens mit euch allen sei. Amen.

Diesen Textauszug habe ich der Übertragung des Neuen Testaments durch Fred Ritzhaupt entnommen. Die näher an unserem Sprachgebrauch orientierte Ausdrucksweise lässt die herzliche Verbundenheit der ersten Christen untereinander spürbar werden. Der Text bedarf in dieser Form auch kaum weiterführender Erläuterungen. Denn Paulus hat nun sein Thema entfaltet. Er fügt am Ende seines Briefs keine grundlegend neuen Einsichten hinzu.

Für uns ist der Schluss des Römerbriefs dennoch wertvoll. Denn er gibt uns Einblick in die Umstände, welche die Abfassung seines Briefs begleitet haben. Da wir uns damit schon zu Beginn unserer Lektüre befasst haben, entnehme ich dem vorliegenden Abschnitt nur noch eine Aussage, in der Paulus die Absicht seines Wirkens darlegt:

„Denn ich wage nur von dem zu reden, was Christus, um die Heiden zum Gehorsam zu führen, durch mich in Wort und Tat bewirkt hat, in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes Gottes.“

Schon zu Beginn seines Briefs hat Paulus die Absicht hinter seinem apostolischen Dienst offen angesprochen:

„Durch ihn (Jesus Christus) haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um in seinem Namen alle Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu führen.“

Wenn er am Ende seines Briefs erneut davon spricht, dass er Nicht-Juden „zum Gehorsam“ leiten will, wird sein missionarisches Anliegen deutlich unterstrichen. Er illustriert sein Anliegen mit Bildern aus dem Tempelgottesdienst, was deutlich werden lässt, dass er auch die Juden-Christen in Rom an seiner Seite wissen will. Die Bilder erinnern auch noch einmal an die Verse aus Kapitel 12 (1–2), wo Paulus die Christen in Rom zur liebevollen Hingabe ihres Lebens an Gott aufgefordert hat. So klingt noch einmal an, wie er den Gehorsam gegenüber dem Evangelium begründet.

Heute schrecken viele vor dem Wort „Gehorsam“ zurück, weil es ganz unterschiedliche Vorstellungen auslöst. Manche sehen sofort Machtstrukturen vor sich und denken an den Gehorsam, der in der militärischen Welt, im Staat oder in der Firma gefordert wird. Eltern mögen an den Gehorsam denken, den sie von ihren Kindern erwarten. Solche Vorstellungen können uns tatsächlich im Wege stehen, wenn wir verstehen wollen, was Paulus bewegt, wenn er dieses Wort gebraucht.

Ihm geht es gewiss nicht um blinden Gehorsam. Ganz im Gegenteil. Es geht ihm um den Gehorsam, der aus dem Glauben und damit aus Beziehung kommt. Gottes Liebe zu uns ist so groß, dass wir nur mit der Hingabe unseres ganzen Lebens angemessen auf sie eingehen können. Christen dienen nicht einer Sache, einer Idee oder einem Programm, sondern Christus selbst. In Christus hat sich Gottes Liebe vollkommen entfaltet. In dem Maße, wie wir uns seiner Liebe öffnen, kann sie durch unser Leben sichtbar werden.

Der griechische Begriff für „Gehorsam“ enthält übrigens das Wort „hören“. Auch im deutschen Begriff können wir diesen Zusammenhang erkennen: Ge-horchen. Aufmerksames Hinhören bewirkt Bewegung, die von innen nach außen dringt. Hören wir also zum Abschluss noch einmal auf Paulus selbst und achten wir darauf, wie selbstverständlich bei ihm Glaube und Liebe zusammengehören:

„Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“.

„Das Ziel der Unterweisung ist Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben.“

„Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet.“

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“


Persönliche Vertiefung

Lectio Divina: Matthäus 21,28–32; Lukas 17,7–10; Johannes 3,36; 15,15

Blicken Sie auf Ihre Studienreise durch den Römerbrief zurück. Was hat Sie besonders angesprochen? Was hat Ihren Glauben inspiriert? Wurde Ihre Beziehung zu Gott bereichert? Hat Ihre Liebe zu ihm und zu Ihren Mitmenschen zugenommen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Nehmen Sie sich etwas Zeit, solche Fragen zu bedenken und sich Notizen zu machen.

Falls Sie diese Studienreise durch den Römerbrief mit einer Gruppe unternommen haben, wäre es sinnvoll, dass jeder seine persönlichen Erfahrungen auf den Punkt bringt. Danken Sie Gott für alles, was durch die Beschäftigung mit den Wahrheiten des Römerbriefs an positiven Entwicklungen ausgelöst wurde. Indem Sie sich gegenseitig segnen, können Sie diese Entwicklungen bestätigen und verstärken. Ein feierlicher Rahmen kann dazu beitragen, dass die gemeinsam erlebte Studienreise in guter Erinnerung bleibt.









NACHWORT


Schon im Konfirmandenunterricht und in der Jugendgruppe habe ich den Römerbrief kennengelernt. Am theologischen Seminar schloss ich den Kurs „Exegese Römerbrief“ mit der Bestnote ab. Als junger Pastor habe ich gerne über Texte aus dem Römerbrief gepredigt und gelehrt. Doch wie stand es um meinen persönlichen Glauben? Auf diese Frage kann man nicht so leicht eine theoretische Antwort finden. Glaube muss sich in Krisen bewähren. Darüber hat Jesus seine Jünger nicht im Unklaren gelassen:

„Wer diese meine Worte hört und sich nicht nach ihnen richtet, wird am Ende wie ein Dummkopf dastehen, der sein Haus auf Sand baute. Als dann die Regenflut kam, die Flüsse über die Ufer traten, der Sturm tobte und an dem Haus rüttelte, fiel es in sich zusammen und alles lag in Trümmern.“ (Matthäus 7, 26–27)

Mein Glaube wurde besonders in meinen mittleren Lebensjahren geprüft und herausgefordert. Mein Vater starb plötzlich und unerwartet. Am 11. September 2001 stand ich sprachlos vor dem Bildschirm und sah die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York in sich zusammenkrachen. Nur wenige Monate später brach die Gemeinde auseinander, in der ich einen außergwöhnlichen geistlichen Aufbruch erlebt hatte. Kurzfristig musste ich mit meiner Familie eine neue Wohnung finden. Jahrelang wurde ich dann von existenziellen Sorgen geplagt.

Nach der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 griff ich erneut zum Römerbrief, schließlich wusste ich, dass sein Thema das Evangelium ist. Welche Bedeutung hatte die Gute Nachricht in den aktuellen Rahmenbedingungen meines Lebens? Hatte ich sie mir tief genug angeeignet? Konnte sie in meinem Leben ihre tragende Kraft entfalten? Da eine schriftliche Auseinandersetzung konkreter und nachvollziehbarer verläuft, entstand allmählich dieses Buch, das ich im Jahr 2011 unter dem Titel „Freispruch“ in seiner ersten Ausgabe veröffentlicht habe. Seitdem konnte ich es in der Gemeinde als Lehrmaterial einsetzen und mit anderen darüber ins Gespräch kommen. Inzwischen habe ich es mehrmals überarbeitet und aktualisiert. Nach rund 10 Jahren kritischer Überprüfung kann ich die vorliegende Veröffentlichung im Sinne meiner Leitidee als ausgereift betrachten. Von Anfang an wollte ich den Leser kompakt und verständlich durch den Römerbrief begleiten, ohne dabei oberflächlich zu werden.

Dieses Nachwort schreibe ich im Mai 2020. Die Corona-Krise füllt derzeit Nachrichtenprogramme und Schlagzeilen. Viele Menschen sehnen sich nach gewohnter Normalität. Mir geht es genauso. Doch möglicherweise ist die gegenwärtige Krise nur der Auftakt einer viel tiefer gehenden weltweiten Krise. Täglich nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Normalität unserer Vergangenheit nicht auch die Normalität unserer Zukunft ist. Unsere Welt verändert sich auf dramatische Weise, - ob wir das wollen, oder nicht.

Was trägt mich in der Krise? Diese Frage, die ich bereits in der Einführung anklingen ließ, war mir auf meinem Weg durch den Römerbrief immer präsent. Die Antwort darauf habe ich bewusst bei Paulus gesucht, weil er der erste Apostel ist, der Jesus nicht in seiner menschlichen Gestalt kennengelernt hat. Sein Glaube an Jesus hat mit dem auferstandenen Christus begonnen, der die Erfahrung des Todes bereits durchschritten und hinter sich gelassen hat. Er ist auf dem Weg nach Damaskus nicht dem in Niedrigkeit erschienenen Gottessohn begegnet, der in allem uns gleich wurde, sondern dem Christus, der im Himmel bereits regiert und auf den Tag wartet, an dem sich „alle Knie vor ihm beugen werden“.

Die Botschaft der Evangelien vom menschgewordenen Sohn Gottes ist für unseren Glauben grundlegend. Doch ist es uns unmöglich, Jesus in seiner leibhaftigen Gestalt kennenzulernen. Selbst die ersten Jünger, die ihm noch leibhaftig nachfolgen konnten, mussten Jesus nach seiner Auferstehung auf eine neue Art und Weise verstehen lernen und mit der Kraft aus der Höhe ausgestattet werden, bevor sie als seine Boten in die Welt hinausgesandt werden konnten.

Manchmal überkommt mich der Eindruck, dass wir heute einen rückwärts gewandten Glauben behüten wollen, der auf äußeren Sicherheiten beruht. In der Krise klammern wir uns reflexartig an dem fest, was wir kennen und schon einmal erlebt haben. Doch sollten wir dem Gekreuzigten und Auferstandenen nicht auch in den gegenwärtigen Tiefen und Höhen unseres Lebens begegnen können? Als Auferstandener ist er doch nicht an vergangenes gebunden. Als solcher ist er doch bleibende Gegenwart.

Was trägt mich in der Krise? Das ist eine gute Frage. Doch es gibt eine noch bessere Frage: Wer trägt mich in der Krise? In der Krise ist tatsächlich kein größerer Glaube gefragt, sondern der Glaube an einen Gott, der alles überragt.

Was Paulus uns in seinen Briefen vermittelt, hilft uns, unser Leben im Licht des Himmels zu begreifen:

• Du bist mit Jesus gestorben und auferstanden
• Du bist gerecht
• Du bist heilig
• Du bist ein Glied am Leib Christi
• Du bist ein Tempel des Heiligen Geistes

Was es bedeutet, unser Leben aus der Perspektive des Himmels zu begreifen, möchte ich abschließend beispielhaft an der Rechtfertigungslehre aufzeigen. Ein klares Verständnis der Rechtfertigung aus Gnade, ist für unsere christliche Existenz nämlich wesentlich. Unter dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“ hat die EKD im Gedenken an 500 Jahre Reformation einen Grundlagentext dazu veröffentlicht. Darin wird die grundlegende Bedeutung der Rechtfertigung für unseren Glauben sehr schön hervorgehoben:

»Die Reformatoren waren davon überzeugt, dass die »Rechtfertigung« durch Gott die Perspektive auf das Leben jedes Menschen fundamental verändern kann. Sie beschreibt keine theologische Spezialthese, sondern die Grundlage für ein getröstetes, geheiltes, getragenes Leben. Die Frage nach der Rechtfertigung stellt »den hauptsächlichen Pfeiler dar, … auf dem unsere Gottesverehrung ruht – Grund genug, hier die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen!«

Dieser Aussage stimme ich voll und ganz zu. Die Rechtfertigung aus Glauben war mir seit meiner theologischen Ausbildung wichtig. Ich hätte diesen Grundstein des Glaubens jederzeit verteidigt.

Doch in der Krise begriff ich allmählich, dass ich nicht in dieser Wahrheit lebe, nur weil ich an diese Wahrheit glaube und eine entsprechende Lehrmeinung vertrete. Ein Leben in der Wahrheit geht über intellektuelle Zustimmung weit hinaus. Ein Leben in der Wahrheit führt nämlich zu einer neuen Perspektive. Das wurde mir unter anderem durch eine geistliche Übung bewusst, die auf Ignatius von Loyola zurückgeht. Man nennt diese Übung auch das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“, mit dem man seinen Tag vor Gott abschließt. Ignatius selbst hat dieses Gebet deshalb als „Examen“ bezeichnet. Es ist in verschiedene Schritte untergliedert, die ich nachfolgend kurz skizziere:

• Werde still und nehme wahr, wie es Dir jetzt gerade geht.
• Richte Dich innerlich auf Gottes Gnade aus.
• Bitte ihn um Hilfe, Deinen Tag mit einem geöffneten Blick und einem wachen Herzen wahrnehmen zu können.
• Gehe die Ereignisse und Begegnungen des Tages in Gedanken durch, - ohne alles gleich bewerten zu wollen.
• Achte auf Deine Gefühle. Wo hast Du Ermutigung, Trost und Hoffnung gespürt? Wo hast du Misstrauen, Angst und Entmutigung gespürt?
• Bringe Deine Wahrnehmungen ins Gespräch mit Gott, so, als würdest Du mit einem Freund reden.
• Blicke auf das, was vor Dir liegt und bitte um Beistand in den Dingen, die auf Dich zukommen.

Nachdem ich diese Übung eine gewisse Zeit praktiziert hatte, nahm ich wahr, wie ungnädig ich tagtäglich mit mir selbst umgehe. Mir wurde bewusst, wie schwer es mir fällt, aufmerksam und liebevoll zurückzublicken. Stehts hatte ich etwas an mir auszusetzen. Dabei vertrat ich doch die richtige Lehrmeinung. Sicher wusste ich etwas „über“ die Wahrheit. Doch offensichtlich hatte ich noch nicht gelernt, in der Kraft dieser Wahrheit zu leben. Statt mir die Wahrheit anzueignen, dass von Gottes Seite her alles vollbracht ist, hatte ich mich mit einem Lehrgebäude zufriedengegeben.

Wie wäre es, wenn wir uns nicht so sehr von unseren Erfahrungen her definieren würden? Erfahrungen sind gut und wichtig. Sie prägen uns. Doch gerade auch geistliche Erfahrungen markieren nicht das Ende, sondern den Anfang eines Weges. Kennen wir aufgrund unserer Erfahrungen bereits die Wahrheit? Hat Jesus nicht behauptet, die Wahrheit in Person zu sein? Wenn das so ist, dann liegt die Wahrheit niemals hinter uns, weder in Form von Wissen, noch in Form von Erfahrung. Dann steht die Wahrheit vielmehr im auferstandenen Christus vor uns. Ihn ihm begegnet sie uns als immer neue Einladung, tiefer in sie hineinzuwachsen.

Als evangelische Christen müssen wir lernen, Martin Luther aus seinem ursprünglichen Kontext heraus zu verstehen. Hat er doch monastische Gewohnheiten des Gebets nie abgelegt. Für ihn war das Leben in der Rechtfertigung kein geistiger Besitz, sondern eine tägliche Übung. Er betont: „Man soll jeden Tag in die Taufe hineinkriechen, damit man frisch belebt wieder daraus hervorkommt“ und war davon überzeugt, dass jeder in der Heiligen Schrift die Wahrheit finden kann, die er zum Leben braucht. Dementsprechend äußert er sich über den Umgang mit der Bibel: „Willst du dem bösen Feind nicht ins Netz fallen, so halte dich an diese göttlichen Worte. Da kriech hinein und bleib drinnen wie ein Hase in seiner Steinritze. Spazierst du heraus und lässt dich auf Menschengeschwätz ein, so wird der Feind dich führen und zuletzt stürzen, sodass du nicht weißt, wo Vernunft, Glaube, Gott und du selbst bleibst.“

Die Liebe Gottes, die wir in unserer Rechtfertigung bedingungslos erfahren, will uns immer wieder zum Leben erwecken. Wenn ich darüber predige, spüre ich zuweilen eine gewisse Ungeduld bei den Hörern. Sie suchen nach einer zuverlässigen Methode, wie sie ihr geistliches Leben produktiv gestalten können. Doch wir können uns der göttlichen Gnade nicht bemächtigen, wir können nur empfänglicher für sie werden, indem wir gewisse Ansprüche loslassen.

In diesem Buch taucht immer wieder das Motiv der Reise auf. So möchte ich abschließend von einem Urlaub berichten, der für mich und meine Frau unerwartet in eine abenteuerliche Reise überging.

Im Jahr 2018 verbrachten wir einen Urlaub auf Kreta. Da es uns immer wichtig ist, Land und Leute kennenzulernen, nahmen wir einen guten Reiseführer mit. Beim Lesen wurden wir mit einem dunklen Kapitel der Geschichte Kretas konfrontiert, das zugleich auch ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte ist. Gegen Ende des 2. Weltkriegs hatten deutsche Soldaten Kreta besetzt. Im Zuge einer Truppenverlagerung in den Westen Kretas kam es an verschiedenen Orten zu Kriegsverbrechen. Ein Dorf in den Bergen, das wir mit einem Mietwagen erreichen konnten, war einer dieser Orte. Der deutsche Kommandant der “Festung Kreta” hatte damals den Befehl gegeben, den Ort zu zerstören und jeden männlichen Einwohner hinzurichten. Nachdem deutsche Soldaten den Ort eingekesselt hatten, befahlen sie Frauen und Kindern, den Ort innerhalb einer Stunde zu verlassen. Die verbliebene männliche Bevölkerung wurde hingerichtet, ebenso die Einwohner, welche aufgrund ihres Alters oder ihrer Gebrechen das Dorf nicht verlassen konnten. Dann wurden die 950 Gebäude des Ortes niedergebrannt und gesprengt. Kein Stein blieb auf dem anderen. Im Internet fand ich den Text eines Liedes von Nikiforos Aerakis, der auf eine Zeitzeugin zurückgeht:

O, meine Madonna aus Anogia.
Eines Sonntagmorgens, zur Zeit der Liturgie,
kamen die Deutschen nach Anogia
und wollten Partisanen für sich gewinnen.
Partisanen, die mit ihnen gemeinsame Sache machten,
konnten sie nirgends finden,
sie fanden nur Alte, Frauen und Kinder vor
und nahmen sie ein, besetzten das Dorf.
Oh, Blumen blüht nicht,
Vöglein zwitschert und singt nicht.

Anogia wird von den Deutschen
bis auf die Grundmauern abgebrannt.
Ihr sollt darum trauern,
ihr sollt darüber betrübt sein.
Zugvögel kamen aus der Wüste und der Einsamkeit,
um den Sommer dort zu verbringen.
Aber sie fanden in Anogia
keine einzige Mauer und Wand vor,
um ihre Nester darin zu bauen.
Oh, Panagia mou, Anogiani, wo warst Du
zu jener Stunde, als sie Feuer gelegt haben
in unserem geliebten, berühmten Anogia.

Meine Frau und ich waren tief betroffen. Wir dachten an Verwandte, die am Krieg beteiligt waren, möglicherweise war ein Onkel sogar in Kampfhandlungen auf Kreta verwickelt. Da wir uns im Urlaubsmodus befanden, konnten wir uns nur allmählich diesem dunklen Kapitel der Geschichte stellen. Doch spürten wir, dass dies aus irgendeinem Grund wichtig ist, so dass wir schließlich tatsächlich diesen Ort aufgesucht haben. Er befand sich abseits der üblichen Wege. Dort sind uns wenige Touristen begegnet. Wir wollten wissen, inwiefern diese dunkle Geschichte immer noch lebendig ist und mussten nicht lange nach entsprechenden Zeichen suchen. Schließlich ließen wir uns an einem alten Dorfplatz nieder und bestellten uns einen Kaffee. Umgeben von leeren Stühlen bedrückte mich zunehmend der Gedanke, dass uns jemand nach unserer Herkunft fragen könnte. Um zu bezahlten, betrat ich das Café. Am Eingang lag ein Bildband, in dem in englischer Sprache die Geschichte des Cafés erzählt wurde. Nachdem ich mich damit für eine gewisse Zeit beschäftigt hatte, ging ich zur Kasse. Die Inhaberin fragte mich „Where do you come from?“ (Woher kommt ihr?). Diese Frage hatte ich befürchtet. Trotzdem war ich überrascht und verunsichert zugleich. Aus meinem Inneren stieg in diesem Moment eine ungeheure Scham auf. Nie hatte ich mich in diesem Ausmaß dafür geschämt, ein Deutscher zu sein. Mit gesenktem Haupt brachte ich hervor: „I‘am a German“. Inzwischen kam auch Beate in den Raum und stellte sich dazu. Die etwa vierzigjährige Frau führte uns an einer Wand ihres Cafés entlang, an der Bilder ihrer Vorfahren zu sehen waren. Sie erzählte uns die Geschichte ihrer Familie. Sie erzählte uns von Vorfahren, die umgekommen waren und von ihrem Vater, der als kleiner Junge die toten Männer begraben musste. Wir waren erschüttert und fanden keine Worte. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches. Die Frau legte ihre Hände auf unsere Schultern, schaute uns in die Augen und sagte: „It is not your fault“ („Es ist nicht eure Schuld”). Meine Frau begann zu weinen; auch meine Augen füllten sich mit Tränen. Sie umarmte uns, küsste uns sogar auf unsere Wangen und sagte immer wieder: „It is not your fault“. Dann erzählte sie uns, dass nur sehr wenige Deutsche an diesen Ort kommen und dass viele Einwohner des Ortes der Ansicht sind, dass Deutsche kalt und unberührbar seien. Doch vor zwei Wochen sei bereits ein deutsches Ehepaar da gewesen. Nachdem sie gehört hatten, was an diesem Ort geschehen war, verließen sie den Dorfplatz, kamen dann aber mit Blumen in der Hand zurück. An einem Denkmal legten sie die Blumen nieder und begannen zu weinen. Über diese Geste der Anteilnahme hatte die Inhaberin des Cafés einen Artikel geschrieben, der in Kreta durch die Presse ging. Wir seien nun das zweite deutsche Paar, das sich von ihrer Geschichte hat berühren lassen.

Als Beate und ich den Ort verließen und wieder mit dem Auto unterwegs waren, schwiegen wir. Wir konnten kaum fassen, was da gerade geschehen war. Wir wurden an einem Ort mit Liebe überschüttet, an dem wir dies überhaupt nicht erwarten konnten. Dabei hatten wir eigentlich gar nichts außergewöhnliches getan. Wir hatten uns nur einem dunklen Kapitel unserer Geschichte gestellt und dann war es plötzlich so, als hätte uns Jesus selbst zugesprochen: „Ihr seid frei von dieser Schuld“. Doch diese Worte kamen aus dem Munde einer uns völlig unbekannten Frau.

Dieses Erlebnis war für mich wie ein äußeres Symbol für meinen inneren Weg, auf dem mich der Römerbrief jahrelang begleitet hatte. Den Schmerz jener Dorfbewohner konnte ich nur deshalb an mich heranlassen, weil ich dazu bereit war, mit meiner Scham konfrontiert zu werden. In diesem Moment kamen Herz und Verstand in Einklang miteinander.

Weil Gott mich gerechtfertigt hat, muss ich mich nicht mehr rechtfertigen. Ich kann zu meiner persönlichen Schuld stehen, aber auch zu erlittener Schuld, die mich aufgrund meiner Geschichte mitgeprägt hat. Ich muss Ungerechtigkeit weder im eigenen Leben, noch in dieser Welt kleinreden. Genau deshalb bin ich ja auf Gottes Gnade angewiesen. Für meine Lebenspraxis macht es einen großen Unterschied, ob ich in diesem Bewusstsein lebe. Wohl deshalb hat auch Martin Luther die tägliche Buße so stark betont. Was er als Reformator darüber gelehrt hat, hat nichts mit depressiven Gefühlen zu tun. Buße ist bei ihm vielmehr die Freiheit, sich den Tatsachen des Lebens stellen zu können, - im Glauben daran, dass Gottes Gnade größer ist.

So hat mir diese Erfahrung vor Augen geführt, wie groß das Potenzial ist, das uns in der Lehre von der Rechtfertigung überliefert worden ist - sofern sie nicht im Kopf hängenbleibt. Der Glaube an einen Gott, der für uns vollbracht hat, was wir nicht vollbringen können, versöhnt uns mit uns selbst und mit unserem Nächsten. Auf diese Weise werden wir in dieser Welt zu Botschaftern Christi, die in den Ruf eines Paulus mit einstimmen können: „Lasst euch versöhnen mit Gott …“

Die Erde ist vollgestopft mit Himmel,
und jeder gewöhnliche Busch
steht in Flammen mit Gott.
Aber nur wer Augen hat, zu sehen,
zieht seine Schuhe aus.
Die anderen sitzen herum
und pflücken Brombeeren.

Elizabeth Barrett Browning



ANHANG

Anregungen für Gruppenleiter


Wenn Sie sich dafür entschieden haben, diese Studienreise durch den Römerbrief als Hauskreis oder Kleingruppe zu unternehmen, empfehle ich folgendes Vorgehen:

• Alle Teilnehmer lesen zur Vorbereitung auf die gemeinsamen Treffen den betreffenden Abschnitt in der Bibel, sowie die entsprechenden Erläuterungen in diesem Buch.

• Alle Teilnehmer üben die meditative Betrachtung der Bibel anhand der Texte, die unter „Lectio Divina“ angegeben sind.

• In den Gruppentreffen lässt man die anderen an seiner persönlichen Reise durch den Römerbrief teilhaben. Dabei liegt die Betonung weniger auf theoretischen Fragen, als vielmehr auf geistlichen Prozessen, die man in sich wahrnimmt.

Dieses Vorgehen setzt jedoch einen gewissen Grad an Reife, Verbindlichkeit und Vertrauen voraus. Falls die Teilnehmer unregelmäßig erscheinen oder unvorbereitet kommen, kann der Gruppenleiter den Abschnitt und die dazugehörige Betrachtung auch lesen lassen. In diesem Falle ist anzunehmen, dass sich das Gespräch eher auf der Ebene des Verstandes bewegen wird. Der Gruppenleiter kann aber auch die „Lectio Divina“ zusammen mit der Gruppe einüben. In beiden Fällen wird jedoch der gemeinsame Weg durch den Römerbrief mehr Zeit in Anspruch nehmen. Sollte sich die „Reise“ dadurch zu lange hinziehen, kann man sie auch in drei oder vier Serien unterteilen.


Literaturangaben


Bruce, F. F. 1986. Der Römerbrief. Darmstadt: ICI.

de Bor, Werner 1967. Der Brief an die Römer. Wuppertal: R. Brockhaus.

Brendel, Christiane und Wenzelmann, Adelheid 2017. Martin Luther und Ignatius von Loyola. Entdeckung einer spirituellen Verwandtschaft. Würzburg: Echter-Verlag.

Coenen, Lothar (Hrsg.) 1971. Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Wuppertal: R.Brockhaus.

Fruchtenbaum, Arnold 2010. Gesetz und Gesetzlichkeit. Hüfeld: CMD.

Eckstein, Hans-Joachim 1983. Der Begriff Syneidesis bei Paulus. Tübingen: Mohr Siebeck.

Eckstein, Hans-Joachim 1992. Erfreuliche Nachricht - traurige Hörer? Holzgerlingen: Hänssler.

Eckstein, Hans-Joachim 2011. Gesund im Glauben. Holzgerlingen: SCM-Hänssler.

Eckstein, Hans-Joachim 2006. Glaube als Beziehung. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.

Fee, Gordon D 2013. Gottes Geist und die Gemeinde. Böblingen: causa mundi.

Gerloff, Johannes 2013. Verflucht und von Christus getrennt. Israel und die Heidenvölker. Eine Studie zu Römer 9–11. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.

Hahne, Peter 2008. Suchet der Stadt Bestes. Lahr: Johannis.

Hovestol, Tom 1999. Die Pharisäer-Falle. Wuppertal: R. Brockhaus.

Jalics, Franz 1994. Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet. Würzburg: Echter

Keller, Timothy, 2014. Romans 1–7 For You. Published by: The Good Book Company.

Kettling, Siegfried 1992. Typisch evangelisch. Grundbegriffe des Glaubens. Gießen: Brunnen-Verlag.

Keener S. Craig 1998. Kommentar zum Umfeld des Neuen Testaments Bd. 2, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.

Kierkegaard, Søren 1969. Die Krankheit zum Tode. München: Rowohlt.

Kopfermann, Wolfram 2008. Heiligung – Teilhabe an der neuen Schöpfung. Gießen: Brunnen.

Leppin, Volker 2016. Die fremde Reformation - Luthers mystische Wurzeln. München: C.H.Beck.

Luther, Martin 1963. D. Martin Luthers Epistelauslegung, 1. Band. Der Römerbrief. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht

Luther, Martin. Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung Werke. Band 2. Weimar: 1883

Mangold, Wilhelm 1866. Der Römerbrief und die Anfänge der römischen Gemeinde. Marburg: Elwertsche Universitätsbuchhandlung.

Maschmeier, Jan-Christian 2010. Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven. Stuttgart: Kohlhammer

Merrill, C. Tenney 1979. Die Welt des Neuen Testaments. Marburg: Franke.

Merril, H. Eugene 2001. Die Geschichte Israels. Holzgerlingen: Hänssler.

Michel, Otto 1978. Der Brief an die Römer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Pelikan, Jaroslav 1975. The Christian Tradition. Chicago: Phoenix Books

Ridderbos, Hermann 1970. Paulus – Ein Entwurf seiner Theologie. Wuppertal: R. Brockhaus.

Rienecker, Fritz & Maier, Gerhard 1998. Lexikon zur Bibel. Wuppertal: R. Brockhaus.

Schirrmacher, Thomas 2001. Der Römerbrief. 2 Bände. Nürnberg: VTR.

Schlatter, Adolf 1991. Gottes Gerechtigkeit. Stuttgart: Calwer.

Schlatter, Adolf 1982. Der Glaube im Neuen Testament. Stuttgart: Calwer.

Schleske, Martin 2010. Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens. München: Kösel

Schnabel, Eckhard 1997. Inspiration und Offenbarung. Die Lehre vom Ursprung und Wesen der Bibel. Wuppertal: R. Brockhaus.

Schnabel, Eckhard 2015. Der Brief des Paulus an die Römer. Historisch-Theologische Auslegung Kapitel 1–5. Witten: R. Brockhaus.

Stanley, Charles 1990. Angst vor der Ewigkeit? Wiesbaden: Projektion J.

Stern, David H. 1996. Kommentar zum jüdischen Neuen Testament. Bd. 2. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.

Stuhlmacher, Peter 1998. Der Brief an die Römer. Bd. 6 Das Neue Testament deutsch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Tomlin, Graham 2017. Der Geist der Fülle. Münster: Aschendorff Verlag

Wilkens, Ulrich 1980. Der Brief an die Römer. Bd. 2. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Köln: Benziger.


Dank


Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Frau Beate, die mir nicht nur den Freiraum zum Schreiben dieses Buches gegeben hat. Ihre Gedanken haben mich oft inspiriert, genauer hinzusehen und sorgfältig zu arbeiten.

Weiter danke ich Ina Twelker, die dieses Buch nicht nur lektoriert, sondern von Anfang an mit ihren Fragen begleitet hat. Ihre Fragen waren für mich besonders wertvoll, da der persönliche Glaube an Jesus Christus zu Beginn dieses Buchprojekts für sie noch Neuland war.

Nicht zuletzt danke ich Annette Schalk, die mir letztes Jahr wertvolle Tipps gegeben hat, sodass ich meinem Buchprojekt den letzten Schliff geben konnte


Schlittenhardt, U. (2020). Glauben mit Herz und Verstand - Eine Studienreise Durch den Römerbrief (I. Twelker, Hrsg.; Röm 1,1–16,27). Ulrich Schlittenhardt.