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HERMENEUTIK
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die
Entwicklung der Hermeneutik in den ersten
Jahrhunderten der Kirchengeschichte von
einer allmählichen Aufgabe der allegorischen
Auslegung geprägt war, was letztendlich zu
einem Triumph der normalwörtlichen Auslegung
führte. Obwohl diese Entwicklung später
immer wieder Rückschläge erlitt
(insbesondere während des Mittelalters),
gehörte die antiochenische Schule zu den
wichtigen Gruppen in der Geschichte der
Kirche, die diese fortschreitende
Entwicklung unterstützten. Die
Katechetenschule, im dritten und vierten
Jahrhundert in Syrien gegründet, entwickelte
eine systematische Hermeneutik, die darauf
abzielte, die Ungereimtheiten der
allegorischen Methode von Origenes und der
alexandrinischen Schule aufzudecken.
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HERMENEUTIK
Die alexandrinische Schule
Die alexandrinische Schule wurde vom
jüdischen Ausleger Philo beeinflusst, der
die allegorische Methode benutzte und ihr
zum Durchbruch verhalf. Damit konnte er die
anthropomorphen Darstellungen Gottes, d. h.
die bildhafte Übertragung von menschlichen
Eigenschaften auf Gott, in den Heiligen
Schriften des Judentums wegerklären, die
platonischen Philosophen so anstößig waren.
Clemens von Alexandria, der Gründer der
alexandrinischen Schule, übernahm Philos
allegorische Methode als apologetischen
Kunstgriff, um Bestandteile der Schrift
wegzuerklären, die griechische Kritiker des
christlichen Glaubens beanstandeten:
anthropomorphe Darstellungen Gottes,
frühisraelitische Ausdrücke, die für
Empfindungen der Griechen anstößig waren,
das niedrige moralische Niveau vieler
Israeliten und die Ausrottung der
Kanaaniter. Außerdem wollte er unter Beweis
stellen, dass die christliche Theologie, die
wahre Philosophie, mit der griechischen
Philosophie vereinbar sei. So legte Clemens
beispielsweise die beiden Fische bei der
Speisung der Fünftausend allegorisch als
Bild für die Verschmelzung der griechischen
Philosophie mit der christlichen Theologie
aus. Nach Clemens hat Gott dem Leser beim
Herausfinden der wörtlichen Bedeutung eines
biblischen Textes bewusst Hindernisse in den
Weg gelegt, um den Verstand des Betreffenden
aufzuwecken. Er solle die verborgenen
Wahrheiten erkennen, die unter der
Oberfläche des Textes vergraben seien. Indem
er die allegorische Methode für sein
apologetisches Anliegen benutzte,
verfälschte er leider die Bedeutung der
Schrift.
Origenes (254 gestorben), den
einflussreichsten Lehrer der
alexandrinischen Schule, zog es zur
allegorischen Methode Philos, weil sie ihm
gestattete, die Schrift mit dem Platonismus
zu vereinbaren. Diese Vereinbarkeit war die
grundlegende Voraussetzung, die seinem
ganzen Denken zu Grunde lag. So wie Philo
die allegorische Methode verwandte, um die
Heiligen Schriften des Judentums mit der
platonischen Philosophie zu vereinbaren,
gebrauchte Origenes die Allegorese, um das
Neue Testament mit dieser Philosophie in
Einklang zu bringen.
Obwohl Origenes glaubte, dass die geistliche
Wahrheit widerspruchsfrei und genau sei,
behauptete er, dass die historischen
Berichte manchmal doch Widersprüche und
Ungenauigkeiten enthielten. (So beschreibe
z. B. das erste Buch Mose Tage vor der
Erschaffung der Sonne; Satan zeige Jesus
alle Reiche der Welt von einer Bergspitze
aus; und auch die Evangelien wichen in der
Reihenfolge der aus dem Leben Jesu
berichteten Ereignisse voneinander ab.) Vom
modernen hermeneutischen Standpunkt aus
gesehen, scheinen diese Fragen eher naiv zu
sein, während sie für Origenes mit Hilfe der
wörtlichen Methode unlösbar waren. Origenes
versuchte, diese angeblichen Widersprüche
und andere historischexegetische Probleme
durch die allegorische Methode zu lösen: Die
entsprechenden Berichte müssten nicht dem
Wortlaut nach verstanden werden, ihre
wirkliche Bedeutung liege auf der
allegorischen Ebene. Nach Origenes deuten
die Schwierigkeiten der Schrift auf das
Vorhandensein einer tieferen Bedeutung hin:
»Wo immer in [der Schrift] besondere Taten
beschrieben werden, die mit der
intellektuellen Wahrheit nicht
übereinstimmen, haben die Schriften in den
Bericht etwas hineingewebt, das nicht
geschehen ist, zuweilen etwas, das nicht
geschehen konnte, und gelegentlich etwas,
das hätte geschehen können, aber in
Wirklichkeit nicht passiert ist
(Vier Bücher von den Prinzipien 4,2,9).
Origenes war der Erste, der eine
systematische Methode der biblischen
Auslegung und eine hermeneutische Theorie
vorlegte, und zwar auf der Grundlage der
allegorischen Methode
(Vier Bücher von den Prinzipien 4).
Ausgehend von
Spr 22,20-21 (»Zeichne sie dreimal auf
... dass du mit Worten der Wahrheit
antworten kannst«, vertrat er die Lehre vom
dreifachen Schriftsinn: vom buchstäblichen,
moralischen und allegorischen (geistlichen)
Sinn. Nach Origenes muss die Bibel auf
besondere Weise ausgelegt werden, weil sie
göttlich inspiriert ist. Inspiration bedeute
demnach nicht, dass die in der Schrift
aufgezeichneten Worte und wiedergegebenen
Ereignisse die wahre göttliche Botschaft
seien, sondern vielmehr sei damit gemeint,
dass hinter den Worten und in den
Einzelheiten des Textes eine verborgene,
tiefere Bedeutung zu finden sei, die das
wahre Wort Gottes sei.
Die allegorische Methode wurde zu einem weit
verbreiteten apologetischen Werkzeug, das in
der Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern
des christlichen Glaubens benutzt wurde, um
verborgene alttestamentliche Jesusprophetien
ans Licht zu bringen. Die Grundlage für die
Einheit von Altem und Neuen Testament war
die allegorische Methode. So wurde
beispielsweise der Bericht von Noah und der
Taube zu einer prophetischen Allegorie auf
Christus und den Geist. Der in
Ps 1 zu findende, an Wasserbächen
gepflanzte Baum war eine prophetische
Allegorie auf das Kreuz Christi und die
christliche Taufe. Rahabs scharlachrote
Schnur und die beiden Kundschafter stellten
eine prophetische Allegorie auf die
Dreieinheit und das Werk Christi dar. Die
griechischen Ziffern der Zahl 318
(entsprechend der Anzahl der Knechte Abrams)
waren eine prophetische Allegorie auf den
Tod Christi: Die ersten beiden Ziffern
entsprachen den beiden Buchstaben im
griechischen Namen für Jesus, während die
dritte eine anschauliche Darstellung des
Kreuzes war.
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HERMENEUTIK
Die antiochenische Schule
Die von Origenes und anderen Alexandrinern
gelehrten Extreme riefen viele führende
Kirchenvertreter der Frühzeit auf den Plan,
die den allegorischen Ansatz als legitime,
zuverlässige Methode der Schriftauslegung
ablehnten. Als Reaktion auf die
allegorisierenden Methoden der
alexandrinischen Schule gründeten
Kirchenführer im syrischen Antiochien im
dritten bzw. vierten Jahrhundert eine
Schule, deren Lehrkonzept die
normalwörtliche Auslegung hervorhob und
bewusst der von der alexandrinischen Schule
gelehrten Methode entgegentrat.
Die frühesten Vertreter der antiocheni-schen
Exegese waren Theophilus (ca. 115-188),
Bischof von Antiochien, und Dorotheus (ca.
240-312), die den Weg für die Gründung der
Schule ebneten. Die zweite und
einflussreichste Zeit der Schule begann im
vierten Jahrhundert unter Diodor von Tarsus
(393 gestorben), dem Lehrer des Theodor von
Mopsuestia (ca. 350-428) und des Johannes
Chrysostomus (ca. 347- 407). Chrysostomus
wurde später Bischof von Konstantinopel und
gilt als größter Prediger in der Kirche der
Frühzeit. Seine Verkündigungen lassen
eindeutig erkennen, wie diese antiochenische
Methode in der Predigtpraxis angewandt
wurde. Theodor wurde der bedeutendste Exeget
der Kirche in der nachapostolischen Zeit,
indem er neben Theodoret (ca. 393-460) als
Lehrer der antiochenischen Schule wirkte.
Obwohl alle Antiochener die gleiche
grundlegende Methode gebrauchten, hat
Wallace-Hadrill gezeigt, dass es zwischen
ihnen lehrmäßig durchaus Unterschiede gab.
Theodor war derjenige, der die historische
Exegese am entschiedensten vertrat, während
Chrysostomus die wörtliche Methode nicht
konsequent benutzte, wenn er in seinen
Auslegungen auch Anwendungen machte. Die
antiochenische Schule begann, die
historischgrammatische Methode zu
entwickeln: Sie betonte die Bedeutung der
Analyse der hebräischen bzw. griechischen
Sprache und der Wichtigkeit der
geschichtlichen Hintergründe und bildlichen
Redensarten. Die allegorische Methode führte
für die Antiochener zu vielen verschiedenen
Bedeutungen, jedoch hatte jede Bibelstelle
eine einfache, klare Bedeutung, die durch
die entsprechenden Wörter und die Grammatik
vermittelt wurde. So wie die Alexandriner
von Philo beeinflusst wurden, standen die
Antiochener unter dem Einfluss der
bedeutenden jüdischen Gemeinschaft in
Antiochien, deren Exegese sich meist an den
einfachen Wortsinn hielt. Statt die Schrift
in ein Korsett vorgefasster platonischer
Meinungen zu zwängen, legten sie das Wort
Gottes unter dem Blickwinkel des eigenen
semitischen Denkens aus.
Die Alexandriner behaupteten, dass der
Wortsinn eines Textes nicht dessen
metaphorische Bedeutung einschließe, die
Antiochener meinten aber, dass die wörtliche
Bedeutung die bildhafte Rede nicht
ausschließe. Obwohl die Alexandriner die
Allegorie benutzten, um die Einheit des
Alten und Neuen Testaments zu verteidigen,
gründeten die Antiochener diese Einheit auf
direkte voraussagende Prophetie und indirekt
auf voraussagende Typologie, die wegen der
fortschreitenden Offenbarung in der
Rückschau gesehen wurde. Ironischerweise
praktizierten sie oft eine extreme
Typologie, die der von ihnen so energisch
abgelehnten allegorischen Methode sehr nahe
kam. So sind beispielsweise einige der
christologischen Typologien Theodorets von
alexandrinischer Allegorie praktisch nicht
zu unterscheiden. Er behauptete, dass der
»Tau des Himmels« und das »Fette der Erde« (
1Mo 27,39 ) eine prophetisches Bild auf
die göttliche und menschliche Natur Christi
sei. Leider haben solche Extreme in der
typologischen Exegese die Kirche belastet,
bis die hermeneutische Frage des
sensus plenior kontra
sensus unum - d.h., ob es einen tieferen
Sinn der Schrift oder nur
einen gibt - im 19. und 20. Jahrhundert
besser thematisiert wurde.
Obwohl die Antiochener normalerweise eine
saubere historischgrammatische Exegese
betrieben, gebrauchten sie in ihren
populären Auslegungen gelegentlich eine
hinter den Anforderungen des Wortsinns
zurückbleibende Methode. So glaubte Theodor,
der in seinem Angriff auf die allegorische
Auslegung unnachgiebig war, in seiner
Auslegung von
Ps 45 beträchtliche Freiheit in der
Auslegung zu besitzen. Auch Chrysostomus,
der die historische Exegese betonte, wich
gelegentlich von der geschichtlichen
Bedeutung des Textes ab, um Anwendungen
vorzunehmen, wie z. B. in seiner Predigt
über die Hochzeit zu Kana. Bei Chrysostomus
findet sich oft ein methodologischer Bruch,
wenn er von der Exegese zur Anwendung
übergeht - eine Schwierigkeit, der sich
jeder Verkündiger gegenübersieht, der von
der historischen Exegese ausgeht, dann aber
wichtige Anwendungen aufzeigen will. Leider
wurde der hermeneutische Übergang von der
historischen Exegese (Sinn des Textes in der
damaligen Situation) zur heutigen Bedeutung
(Sinn des Textes in unserer Zeit) erst nach
der Entstehung der Bewegung für biblische
Theologie im 20. Jahrhundert sachgerecht
angesprochen.
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HERMENEUTIK
Die antiochenische Schule
Vertreter der antiochenischen Schule
Im Gegensatz zur allegorischen Methode der
Alexandriner hob Theophilus von Antiochien
(ca. 115-188), der Bischof dieser syrischen
Stadt, die historisch-grammatische Exegese
hervor.
Im auffallenden Unterschied zu den
Alexandrinern, welche die Historizität der
alttestamentlichen Geschichten bestritten,
betonte Theophilus unter dem Einfluss der
bedeutenden jüdischen Gemeinschaft in dieser
Stadt, dass das Alte Testament eine
geschichtlich authentische Wiedergabe des
Handelns Gottes mit dem Volk Israel sei. Um
seine Überzeugung von der Historizität der
Bibel zu begründen, erarbeitete er in seiner
Abhandlung
An Autolychus eine Chronologie von der
Schöpfung bis in seine Zeit hinein. Er
bekräftigte die Einheit von Altem und Neuen
Testament, indem er darauf hindeutete, dass
der Logos von Johannes 1 durch Mose
gesprochen habe und die Quelle des in 1.Mose
erschaffenen Lichts gewesen sei, bevor Gott
die Sonne erschuf. Während die Alexandriner
alttestamentliche Gesetze allegorisierten,
legte Theophilus die Gesetze
historisch-grammatisch aus und benutzte
viele Teile des Gesetzes als Richtlinien für
das christliche Leben.
Auf Diodor von Tarsus (393 gestorben) gehen
drei wichtige Beiträge zurück: (1) Er
schrieb die erste systematische Abhandlung,
welche die wörtliche historisch-grammatische
Methode verteidigte und erläuterte. (2) Er
bekräftigte die Gültigkeit der
historisch-typologischen Methode und
widerlegte die Argumentation des Origenes,
wonach Paulus in
Galater 4,21-31 die allegorische Methode
im Sinn der Alexandriner benutzt habe. (3)
Er war der Lehrer des Theodor von Mopsuestia
und des Johannes Chrysostomus, die zu den
bedeutendsten Vertretern der antiochenischen
Schule auf dem Gebiet der Exegese und
Auslegung wurden.
Diodors wichtigste, auf Griechisch verfasste
Veröffentlichung
(Was ist der Unterschied zwischen
Betrachtung und Allegorie ?) brandmarkte
die alexandrinische Methode und legte
Grundsätze der historisch-grammatischen
Methode dar. Nach Diodor ist nicht Allegorie
(bildhaftes Reden), sondern
theoria (Betrachtung) der Schlüssel zur
Schriftauslegung.
Die Betrachtung umfasst die Fähigkeit,
sowohl die im Text zu findenden historischen
Fakten als auch die geistliche
(theologische) Realität wahrzunehmen, worauf
diese Fakten hindeuten. Diodor spielte nicht
wie die Alexandriner den Wortsinn zu Gunsten
einer verborgenen geistlichen Bedeutung
herunter. Vielmehr sagte er, dass die
historische Bedeutung direkt dem geistlichen
(theologischen) Sinn entspreche. Sein
Begriff
theoria besagte, dass der vorliegende
historische Text mehr aussagt, als was der
Prophet sah und der Ausleger erkennt.
Der biblische Text führt den Leser zu
geistlichen (theologischen) Wahrheiten
hinauf, die nicht unmittelbar zu erkennen
sind, die aber ein umfassenderes Verständnis
des Heilsplans Gottes liefern. Anders als
die Alexandriner unterschied Diodor nicht
scharf zwischen der vom menschlichen
Verfasser beabsichtigten Bedeutung und dem,
was Gott damit gemeint hatte. Für sich
genommen enthalte das Alte Testament keine
geistlichen Bedeutungen und keine
messianischen Hinweise. Diese könnten jedoch
gefunden werden - nicht durch Allegorie,
sondern durch Betrachtung, indem man die
enge Beziehung zwischen der geschichtlichen
und der theologischen Textbedeutung
untersucht.
Diodor legte den Grundstein zu einer
Formulierung, die von der geistlichen
Erleuchtung spricht. Sie gestattet dem
Ausleger, die allumfassende theologische
Einheit der Schriften und ihre Relevanz für
seine Zeit wahrzunehmen. Origenes hatte
argumentiert, dass die Vorgehensweise des
Paulus in
Gal 4,21-31 mit der Geschichte Abrahams
und Hagars ein Allegoriebeispiel im Sinn der
Alexandriner sei. Er behauptete, dass Paulus
die Historizität der Geschichte leugne.
Diodor sagte dagegen, dass Paulus die
Geschichtlichkeit dieses Berichts nicht
bestreite - was auch immer seine sonstige
Absicht gewesen sei, als er auf Abraham und
Hagar hinwies. Paulus argumentierte
typologisch, er bekräftigte die Historizität
der Geschichte, erkannte aber auch die in
den Ereignissen liegende theologische
Bedeutung. Diodor wies darauf hin, dass die
Frage der Historizität das unterscheidende
Merkmal zwischen der typologischen Methode
des Paulus und dem allegorischen Ansatz des
Origenes ist.
Die historischtheologisch vorgehende
typologische Methode hat ihre Berechtigung,
der die Historizität verwerfende
allegorische Ansatz jedoch nicht. Jeder
Vertreter der Antiochener behandelte die
Frage der alttestamentlichen Prophetie
anders. In seinem Psalmenkommentar legte
Diodor
Ps 2 als direkten prophetischen Hinweis
auf die Tatsache aus, dass Jesus von den
Juden an Herodes und Pilatus ausgeliefert
wurde. Er verwarf jedoch die weit
verbreitete Ansicht, dass
Ps 22 eine direkte Prophetie auf die
Passion Christi sei; die Leiden des
Psalmisten entsprächen nicht den von
Christus erduldeten.
Viele sehen Theodor von Mopsuestia (ca.
350-428) als größten Ausleger der
antiochenischen Schule an. Er lehnte die von
Origenes und den Alexandrinern praktizierte
allegorische Methode am hartnäckigsten ab.
Außerdem vertrat er die
historischgrammatische Auslegung am
entschiedensten und kam daher in seinen
exegetischen Schlussfolgerungen der
ursprünglichen Bedeutung am nächsten. Obwohl
er die analytische Exegese betonte, war ihm
auch die Synthese - d. h. die Gesamtschau
der Stelle auf dem Hintergrund ihrer
Bestandteile - wichtig. Sein Kommentar zu
den Paulusbriefen ist das erste und fast
letzte exegetische Werk, das in der alten
Kirche entstand und Ähnlichkeiten mit den
heutigen exegetischen Kommentaren aufweist.
Wie Diodor lehnte er in
Wider Origenes: Zur Allegorie und Geschichte
, dem letzten seiner fünf auf Griechisch
verfassten Bücher, den unhistorischen Ansatz
der allegorischen Methode ab. Er sagte, dass
Origenes die biblische Geschichte ihrer
Realität beraube, was am deutlichsten darin
erkennbar sei, dass er die Historizität
Adams leugne. Theodor fragte: »Wie kam die
Sünde in die Welt, wenn Adam keine
tatsächlich existierende Person war?«
Theodor meinte weiter, Origenes mache
dadurch, dass er die Realität des
Sündenfalls Adams leugne, die Wirklichkeit
der Erlösung zunichte. Paulus habe all diese
Ereignisse jedoch als historische Fakten
ausgelegt. Im Gegensatz zu den Behauptungen
des Origenes habe Paulus in
Galater 4,21-31 keine allegorische
Auslegung im Sinn der Alexandriner benutzt,
sondern vielmehr Abraham und Hagar als
Beispiel bzw. Veranschaulichung gebraucht.
Theodor war der erste, der die übertragene
Bedeutung eindeutig und ausdrücklich als
Teil der wörtlichen Bedeutung sah. Anders
die Alexandriner: Sie bezogen die
metaphorische Bedeutung nicht in den
Wortsinn eines Textes mit ein. Nach den
Alexandrinern bestand beispielsweise die
wörtliche Bedeutung des Begriffs »der Arm
Gottes« darin, dass Gott wirklich einen Arm
hat. Statt dies als metaphorischen
Anthropomorphismus anzusehen,
allegorisierten die Alexandriner den Text,
so dass ein völlig zusammenhangloser
Sachverhalt entstand. Theodor argumentierte
jedoch, dass der Wortsinn einer Stelle die
jeweilige Metapher und ihre nahe liegende
Bedeutung einschließt. Nach seiner Ansicht
hat jede Stelle eine wörtliche Bedeutung -
ganz gleich, ob im normalen oder
übertragenen Sinn.
In seiner Reaktion auf die extremen
alexandrinischen Allegorien wich er von
traditionellen Ansichten über die
Messiasprophetie ab, indem er die Anzahl der
alttestamentlichen Texte, die
christologische Hinweise enthalten,
drastisch verkleinerte. In seinem Kommentar
zu den Kleinen Propheten versuchte er, in
seiner Verpflichtung gegenüber der
historisch-grammatischen Exegese konsequent
zu bleiben und die Allegorie zu verwerfen.
Sein entscheidender Grundsatz bestand darin,
dass ein Text keine christologischen
Merkmale aufweise, wenn er nicht tatsächlich
im Neuen Testament zitiert werde. Einfache
Anspielungen seien unzureichend, um
nachzuweisen, dass ein Text messianische
Voraussagen enthalte. Und selbst wenn das
Neue Testament einen alttestamentlichen Text
zitiere, geschehe dies oft nur zur
Veranschaulichung und sei kein Hinweis auf
eine unmittelbar prophetisch-messianische
Voraussage. Selbst wenn
Mt 2,15; Hos 11,1 zitiere, enthalte
diese Stelle keinen direkten Christusbezug.
Andererseits ließ Theodor gelten, dass
Joel 3,1-5 die Ausgießung des Geistes
voraussagte, wobei ihre eschatologische
Bedeutung im Kommen Christi enthüllt worden
sei. Er legte Wert auf die
historisch-grammatische Auslegung und daher
behauptete er, dass die meisten
alttestamentlichen Prophezeiungen
historischer Art seien und sich auf
Ereignisse der israelitischen Geschichte
bezögen. Nur sehr wenige seien wirklich
christologisch ausgerichtet. Nach Theodor
enthielten nur vier Psalmen direkte
Prophezeiungen auf Christus (
Ps 2; 8; 45; 110 ). Der apostolische
Gebrauch anderer alttestamentlicher Texte im
Blick auf Christus seien keine Beispiele
unmittelbarer prophetischer Voraussagen,
sondern vielmehr analoge Anwendungen oder
typologische Veranschaulichungen. Viele der
im Neuen Testament zitierten Psalmen
enthielten keine Voraussagen, sondern
lediglich analoge Beispiele von
Schwierigkeiten, die sowohl der Psalmist als
auch Jesus erfahren hätten. Zahlreiche
alttestamentliche Texte eigneten sich für
den analogen Gebrauch, weil ihre Metaphern
hyperbolisch (in der Übertreibung) für den
Psalmisten gälten, im wörtlichen Sinne aber
in der Anwendung auf Christus zuträfen.
Theodor behauptete, dass die Apostel diese
Stellen vom Wortlaut der Originaltexte her
an analoge Orte der christlichen Offenbarung
angepasst hätten. Er verwarf auch die
allegorischen Auslegungen des Hohen Liedes.
Es rede nicht von Christus und der Gemeinde,
sondern es ein Liebesgedicht, das von Salomo
anlässlich seiner Hochzeit mit einer
ägyptischen Prinzessin geschrieben worden
sei. Obwohl Theodor die alexandrinische
Methode konsequent ablehnte, waren einige
Antiochener der Meinung, dass er zu weit
gehe. Theodoret, einer seiner Schüler,
kritisierte ihn sogar dafür, dass er mehr
jüdisch als christlich eingestellt sei. Er
sagte, dass er zu sehr unter dem Einfluss
der jüdischen Gemeinschaft in Antiochien
gestanden und daher die Zahl der
christologischen Prophetien im Alten
Testament verringert habe. Obwohl Theodor
tatsächlich die Anzahl direkter
christologischer Weissagungen verringerte,
entwickelt er den Gedanken des
Typologischen, wie ihn Irenäus verstand,
weiter. Er begrenzte jedoch den
Geltungsbereich dieser Vorbilder, indem er
sagte, sie enthielten historische
Übereinstimmungen, aber keine voraussagende
Prophetie.
Nach Theodor bietet die Schrift, wenn sie
wörtlich und historisch ausgelegt wird, eine
einheitliche Darstellung von Gottes
Erlösungswerk in der Geschichte. Auf diese
Einheit werde manchmal durch typologische
Merkmale im Alten Testament hingewiesen,
deren vollständige Bedeutung erst im Neuen
Testament klar werde. Der ursprüngliche
Textsinn entspreche jedoch seiner
historischen Bedeutung. Im weiteren Verlauf
der Erlösungsgeschichte habe man historische
Entsprechungen feststellen können, die von
immer wieder auftretenden Merkmalen in
Gottes Plan herrührten. Somit müsse
Ps 22 historisch ausgelegt werden; er
berühre Christi Leiden nur am Rande - und
zwar so, wie er für jeden Leidenden gelte.
Wenn er in überzeichneten Bildern die Leiden
ganz auf Christus anwende, wolle er nicht
seinen prophetischen Charakter, sondern
Christi Stellung als allergrößter Dulder
nachweisen. Typologische Entsprechungen
deuteten nicht darauf hin, dass ein
prophetisches Element vorhanden sei.
Vielmehr spiegelten sie lediglich die
Kontinuität des Werkes Gottes in seinem
einheitlichen geschichtlichen Heilsplan
wider. Obwohl Theodor die alexandrinische
Allegorisierung theoretisch strikt ablehnte,
waren die Ergebnisse seiner Auslegung im
Grunde nicht so weit von denen des Origenes
entfernt. Theodor gebrauchte die Typologie
in ähnlicher Weise wie andere die
Allegorisierung. Der Hauptunterschied
bestand darin, dass er die Historizität der
biblischen Berichte bekräftigte und die
historische Bedeutung als den vorrangigen
Sinn des Textes hervorhob. So betonte er
z.B. in seiner Auslegung zu
Ps 45 die geschichtliche Bedeutung einer
von Salomo tatsächlich gefeierten Hochzeit,
erkannte aber auch die typologische
Übereinstimmung mit Christus und der
Gemeinde. Leider wurde sein positiver
Einfluss, den er als Hermeneutiker auf die
Kirche hatte, dadurch geschmälert, dass er
in anderer Hinsicht ziemlich unkonventionell
vorging. Er wurde zum Häretiker erklärt, was
z. T. an den Ansichten seines Schülers
Nestorius lag, dann aber auch daran, dass er
mehrere kanonische Bücher als nicht
inspiriert verwarf (die Weisheitsliteratur,
die Chronikbücher, Esra und Nehemia).
Johannes Chrysostomus (ca. 354-407) war
Erzbischof von Konstantinopel, dem Zentrum
der Ostkirche. Die antiochenische Methode
wird in seinen Kommentaren und seinen mehr
als sechshundert Predigten, die historische
Exegese mit praktischen Anwendungen
verbinden, gut veranschaulicht. Seine
Schriften übten später einen großen Einfluss
auf Johannes Calvin aus, der ihm
nachzueifern suchte. Obwohl Chrysostomus die
Wichtigkeit der wörtlichen Auslegung
betonte, sagte er, dass damit keineswegs das
Vorhandensein einer bildlichen Sprache in
der Schrift geleugnet werde. Er versuchte,
einen Mittelweg zwischen den Alexandrinern,
die alles allegorisierten, und den
Verfechtern einer einfachen wörtlichen
Auslegung zu finden, die das Vorhandensein
einer sinnbildlichen Sprache in der Schrift
nicht anerkannten. »Wir dürfen nicht die
Worte als bloße Begriffe untersuchen, weil
sonst viel Unsinn entsteht. Vielmehr müssen
wir die Gedanken des Schreibers beachten.«
Obwohl er die alexandrinische Methode
verwarf, die historische Berichte in absurde
Allegorien umwandelte, erkannte er ebenso
an, dass die Schrift manchmal Allegorien
verwendet, die sinnvoll ausgelegt werden
müssen. »Wir sind in dieser Angelegenheit
keine verantwortungslosen Verfechter von
Gesetzen, können das System allegorischer
Auslegung aber nur anwenden, wenn wir den
Gedanken der Schrift folgen ... und darin
besteht das allgemeine Gesetz der Schrift,
wenn sie in allegorischer Weise redet,
nämlich darin, dass sie uns auch die
Auslegung der Allegorie liefert.«
Chrysostomus betonte die relative Klarheit
der Schrift, wenn sie mit Hilfe der
historischgrammatischen Methode ausgelegt
wird. Er begrenzte jedoch ihre durchgängige
Verständlichkeit auf die wichtigen Punkte
des Glaubens: Alles, was notwendig ist, das
ist offenbar! Obwohl er durchaus
christologische Voraussagen im Alten
Testament fand, beschränkte er sich
gewöhnlich auf die historische Typologie.
Seine typologische Sicht des Alten
Testaments beruhte auf dem Schlussvers von
Ps 117 : »Die Wahrheit des HERRN währt
ewig.« Alttestamentliche Geschichte sei für
alle Zeitalter relevant. Die historische
Bedeutung des Alten Testaments beinhalte,
dass sie einen Entwurf der göttlichen
Wahrheit darstelle, während sich die
endgültige Form im typologischen Sinn finde,
mit dessen Hilfe die alttestamentliche
Bedeutung vollständiger herausgestellt
werde.
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HERMENEUTIK
Die antiochenische Schule
Einfluss der antiochenischen Schule
Leider begann die antiochenische Schule im
vierten und fünften Jahrhundert wegen
theologischer Kontroversen ihren
hermeneutischen Einfluss zu verlieren. Als
einigen ihrer Lehrer im nestorianischen
Streit - dort ging es um die menschliche und
göttliche Natur Christi - vorgeworfen wurde,
die Rechtgläubigkeit aufzugeben, verlor die
Schule teilweise ihre Glaubwürdigkeit. Ihr
hermeneutischer Einfluss nahm weiter ab, als
sich die Kirche in die Ost- und Westkirche
spaltete. Da für die alexandrinische Schule
nun das Korrektiv der ihr entgegenstehenden
antiochenischen Schule wegfiel, vergrößerten
sich ihre Macht und ihr Einfluss, sodass die
allegorische Methode die Vorherrschaft
eroberte. Bis zum Mittelalter war die
allegorische Methode zum dominierenden
hermeneutischen Ansatz geworden. Die Kirche
würde sich erst in der Reformationszeit von
ihrem beherrschenden Einfluss wieder lösen
können. Der Todesstoß wurde ihr erst nach
der Reformation und in der Neuzeit versetzt.
Siehe auch:
Origenes ;
Philo Judaeus .
Gordon H. Johnston
Raymond E. Brown,
The Sensus Plenior of Scripture
(Baltimore: St. Mary´s University, 1955),
45-51; Johannes Chrysostomus,
Commentary on Saint John the Apostle and
Evangelist: Homilies 1-4 7; Übersetz. T.
A. Goggin (Washington, D.C.: Catholic
University of America Press, 1957); D. S.
Dockery,
Biblical Interpretation Then and Now:
Contemporary Hermeneutics in the Light of
the Early Church (Grand Rapids: Baker,
1992); Frederic W. Farrar,
History of Interpretation (Grand Rapids:
Baker, 1961), 181-222; Karlfried Froehlich,
Biblical Interpretation in the Early Church
(Philadelphia: Fortress Press, 1984),
82-94; Daniel P. Fuller, »Interpretation,
History of« in
International Standard Bible Encyclopedia
, rev. Ausg. (Grand Rapids: Eerdmans,
1982), 2,863-874; Robert M. Grant, »History
of the Interpretation of the Bible: Ancient
Period« in
The Interpreter´s Bible (Nashville:
Abingdon Press, 1952), 1,106-114; Robert M.
Grant und David Tracy,
A Short History of the Interpretation of the
Bible (Philadelphia: Fortress Press,
1984), 63- 74; K. Grobel, »Interpretation,
History and Principles of« in
Interpreter´s Dictionary of the Bible
(Nashville: Abingdon Press, 1962),
2,718-724; Robert J. Kepple, »An Analysis of
the Antiochene Exegesis of Galatians
4:24-26« in
WJT 39,239-249 (1976-1977); Bertrand de
Margerie,
Introduction à l´histoire de l´exégèse
(Paris, Cerf, 1980-1983), 1,188-213; Bernard
Ramm,
Protestant Biblical Interpretation
(Grand Rapids: Baker, 1979); A. R. Roberts
und J. Donaldson, Hg.,
The Ante-Nicene Fathers , 10 Bd. (New
York: Charles Scribner´s Sons, 1913); J. W.
Rogerson, »Interpretation, History of« in
The Anchor Bible Dictionary (New York:
Doubleday, 1992), 3,424-433; John R.
Walchenbach, »John Calvin as Biblical
Commentator: An Investigation into Calvin´s
Use of John Chrysostom as an Exegetical
Source« (Dissertation, University of
Pittsburgh, 1974); D. S. Wallace-Hadrill,
Christian Antioch: A Study of Early
Christian Thought in the East
(Cambridge: Cambridge University Press,
1982); M. F. Wiles, »Theodore of Mopsuestia
as Representative of the Antiochene School«
in
The Cambridge History of the Bible
(Cambridge: University Press, 1970), 1,489-
510; Dimitri Z. Zaharopoulos, »Theodore of
Mopsuestia´s Critical Methods in Old
Testament Study« (Dissertation, Boston
University, 1964).
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HERMENEUTIK
mittelalterliche
Die logischen, grammatikalischen Grundsätze,
die man zur Auslegung und Erklärung der
Bibel im Mittelalter benutzte, wurden von
allegorischen Überzeugungen und der
verbindlichen Lehrgewalt des Papsttums
beherrscht. Infolgedessen widersprachen
viele Lehren, die man während dieser Zeit
aus der Schrift ableitete, der
ursprünglichen Absicht der vom Heiligen
Geist inspirierten Schreiber. Der Wechsel
von der wörtlichen Schriftauslegung der
Gemeinde des ersten Jahrhunderts zur
allegorischen Methode setzte bereits im
dritten Jahrhundert ein.
Origenes war der erste Theologe, der das
kommende Reich vergeistigte bzw. wegerklärte
und es als gegenwärtige Herrschaft Christi
im Herzen der Menschen deutete. Augustin
vergeistigte die wichtigsten prophetischen
Ereignisse, wobei seine Auslegungen die
Grundlage der allgemeinen Eschatologie bis
zur Reformation bildeten. Bis zum fünften
Jahrhundert war wegen des Einflusses von
Origenes und Augustin der Glauben an ein
Tausendjähriges Reich im wörtlichen Sinn
weit gehend verschwunden. Während des
Mittelalters wurde der Millenarismus (die
Lehre von der Erwartung eines
Tausendjährigen Reiches) im Allgemeinen als
ketzerisch angesehen.
Um das Jahr 1000 entstand eine Bewegung, die
später als Scholastik bekannt wurde. Als
ihre einflussreichsten Führer galten Anselm
von Canterbury und Thomas von Aquin. Indem
sich diese Bewegung fast ausschließlich auf
die allegorische Methode stützte und die
Bedeutung des ursprünglichen Wortlauts
biblischer Texte nicht anerkannte,
entstellte sie die Schriftwahrheit immer
mehr. Diese Auslegungsmethode war im
Mittelalter vorherrschend und zeichnete sich
durch unbegrenzte Spekulation sowie dadurch
aus, dass ihr ein objektiver, einheitlicher
Maßstab für Richtigkeit fehlte. Die
mittelalterliche Auslegung wurde durch drei
Faktoren beeinflusst und begrenzt: durch das
Vorherrschen des Analphabetentums sowohl
unter Geistlichen als auch unter
Gemeindegliedern; durch die Tatsache, dass
das Schriftstudium hauptsächlich auf Klöster
beschränkt war, und durch das Bestreben, die
Dogmen Roms zu untermauern.
Eines des bedeutsamsten Dogmen, die sich aus
der mittelalterlichen Hermeneutik
entwickelten, war die Transsubstantiation.
In dieser von Innocenz III. 1215 zum Dogma
erklärten Lehre wurde verfügt, dass Priester
die Macht hätten, Brot und Wein in den Leib,
das Blut, die Seele und die göttliche Natur
Jesu Christi zu verwandeln. Die bildliche
Sprache Christi im Johannesevangelium (
Kapitel 6 ) und bei seinem letzten Mahl
legte man wörtlich aus, um den Vollzug der
Transsubstantiation belegen zu können. Aus
diesem Dogma ergaben sich viele bedenkliche
Konsequenzen. Wenn Christus im Mahl wirklich
substanziell gegenwärtig ist, dann muss die
Hostie verehrt und angebetet werden.
Außerdem empfangen die, welche die Hostie zu
sich nehmen, Christus nicht durch den
Glauben und aufgrund des Willens Gottes,
sondern infolge eines menschlichen
Entschlusses. Das Opfer Christi, das in der
Hostie auf kirchlichen Altären dargebracht
wurde, sei - so verfügte man - die
Fortsetzung des Opfers von Golgatha zur
Besänftigung des göttlichen Zorns.
Im Mittelalter entstand auch das Dogma vom
Fegefeuer. Danach ist eine zeitliche Strafe
und durch Feuer bewirkte Läuterung von
Sünden notwendig, um in den Himmel zu
kommen. Obwohl diese Lehre durch keine
Schriftstelle belegt wird, trat sie auf
Betreiben Roms an die Stelle des gerechten
Gerichtes Gottes über die Sünde. In
Verbindung mit dieser Lehre entwickelte sich
schließlich die Praxis des Ablassverkaufs.
Die Kirche begann, Ablässe als Straferlass
von Gott zu spenden: Den Empfängern werde
die zeitliche Strafe wegen ihrer Sünden zum
Teil erlassen, denn ihre Zeit im Fegefeuer
werde verkürzt. Die Kirche belegte alle mit
dem Bann, die sagten, dass Ablässe nutzlos
seien oder dass die Kirche nicht die Macht
habe, sie zu gewähren.
Die Verschmelzung der päpstlichen Ideologie
mit der biblischen Auslegung ging 1302 sogar
so weit, dass die Bulle
Unam Sanctam von Bonifatius VIII.
verfügte, der Gehorsam gegenüber dem Papst
»ist absolut heilsnotwendig«. Päpstliche
Erlasse ersetzten bindende Beschlüsse der
Konzilien als übliche Form autoritativer
Auslegung. Da Rom das Reich Gottes im Sinn
der Kirche auslegte, übte der Papst die
dogmatische Kontrolle über das ewige
Geschick der Menschen aus. Als Besitzer der
»Schlüssel des Reiches« nahm er die Macht in
Anspruch, die Tore des Reiches zu öffnen und
zu schließen - je nachdem, wie treu ihm
Menschen ergeben waren. Wer vom Papst
exkommuniziert wurde, hatte keine Hoffnung
auf Rettung mehr. Ein solcher Mensch galt in
der Gesellschaft als Geächteter.
Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, in der
Zeit eines großen geistlichen Tiefstandes,
entwickelte sich eine Bewegung, die zu einer
wörtlichen Schriftauslegung und zur Suche
nach lehrmäßiger Reinheit zurückkehrte. Aus
diesem Bestreben, die eigentliche Bedeutung
der Schrift herauszufinden und sie
sachgerecht zu erklären, entstand eine
geistliche Erweckung und schließlich die
Reformation.
Siehe auch
Hermeneutik, reformatorische .
Michael P. Gendron
Louis Berkhof,
The History of Christian Doctrines
(Grand Rapids: Baker, 1937); Mark S. Burrows
und Paul Rorem,
Biblical Hermeneutics in Historical
Perspective (Grand Rapids: Eerdmans,
1991); David S. Dockery,
Biblical Interpretation Then and Now
(Grand Rapids: Baker, 1992); William
Webster,
The Church of Rome at the Bar of History
(Carlisle, Pa.: The Banner of Truth Trust,
1995).
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HERMENEUTIK
moderne biblische
Der Geltungsbereich dieses Begriffs
Der Geltungsbereich der evangelikalen
biblischen Hermeneutik weitete sich in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus.
Infolgedessen schloss er bald die Disziplin
der biblischen Theologie ein, weil man den
innerbiblischen, über die Zeit
fortschreitenden (diachronischen) Prozess
von der alttestamentlichen zur
neutestamentlichen Offenbarung erkannte.
Grammatische Studien gingen über Sprache und
Satzbau hinaus und bezogen auch literarische
Aspekte ein, weil man erkannte, wie wichtig
Form, Rhetorik und literarische
Interpretation waren. Zu der historischen
Auslegung gehörten der
geschichtlichkulturelle Kontext und die
rhetorische Situation der ursprünglichen
Zuhörer. Dies hat neue Perspektiven
eröffnet, die sich früheren Generationen
nicht boten.
Diese Entwicklungen spiegeln sich in einer
veränderten Beschreibung der biblischen
Hermeneutik wider. Sie entwickelte sich von
der traditionellen historisch-grammatischen
(Ramm 1956, Ryrie 1965) zur
historisch-grammatisch-rhetorischen
(Mickelsen 1963) und zur
historisch-grammatisch-literarisch-theologischen
Auslegung (Kaiser 1981; McKim 1986;
Mc-Knight 1989; Johnson 1990; Osborne 1991;
Klein, Blomberg und Hubbard 1993; Blaising
und Bock 1993; Kaiser und Silva 1994). Weil
damit kein radikaler Paradigmenwechsel
verbunden ist, wird dies nicht immer in der
neueren Literatur dargelegt. So verwendet z.
B. »Die Chicago-Erklärung zur biblischen
Hermeneutik« (1982) weiterhin die
traditionelle Überschrift
»historisch-grammatisch« (Artikel XV),
obwohl sie anerkennt, dass man bei der
Exegese literarisches Einfühlungsvermögen
braucht (Artikel XIII).
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HERMENEUTIK
moderne biblische
Biblische Theologie als Analogie zu vorher
entstandenen biblischen Texten
Welcher Methode kann sich die
analogia scripturae (Analogie der
Schrift) bedienen? Mehrere Gelehrte unserer
Zeit schlagen vor, dass »die biblische
Theologie« bei der Exegese als theologisches
Element genutzt werden kann (Childs 1970;
Kaiser 1978, 1981; Johnson 1990; Osborne
1991; Blaising und Bock 1993). Anders als
die systematische und die historische
Theologie verfolgt die biblische Theologie
die Langzeitthemen, die in all den
verschiedenen Perioden der Heilsgeschichte
in dem Maße geoffenbart wurden, wie diese
vom Alten zum Neuen Testament fortschritt.
Kaiser schlägt vor, dass die biblische
Theologie als »Analogie zuvor verfasster
Schrift« verstanden wird (Kaiser 1978,
1981). Diese Vorstellung von der
»theologischen Exegese« unterscheidet sich
von der »Analogie des Glaubens«, weil sie
sich auf die diachronische Entfaltung der
wichtigsten biblischtheologischen Themen im
Offenbarungsfortschritt der Heilsgeschichte
stützt. Die »Analogie zuvor verfasster
Schrift« ist die »Informations-Theologie«,
die sich aus ähnlichen Aussagen (manchmal
nur im Ansatz) in früheren Phasen der
fortschreitenden Offenbarung ergibt. Jeder
Bibeltext hat eine bestimmte theologische
Fassette als festen Bestandteil seines
inhaltlichen Gefüges. Diese geht oft auf
Wurzeln zurück, die bereits in historisch
vorausgehenden Texten angelegt sind. So
spielen beispielsweise Jesajas Verheißungen,
dass Gott die Nachkommen Israels segnen
wird, indem er den Geist auf sie ausgießt (
Jes 44,3 ), auf die Zusage an, die
Abraham gegeben wurde. Ihr zufolge sollte
seine Nachkommenschaft gesegnet werden (
1Mo 12,2-3 ). Jesaja erweitert jedoch
diese allgemeine Verheißung, indem er die
geistlichen Segnungen des neuen Bundes
einbezieht (
Jer 31,31-34; Hes 36,24-32 ).
Nach Kaiser besteht die Rolle der biblischen
Theologie in der Hermeneutik darin,
Grundlagen einer »Informations-Theologie«
für die Auslegung zu schaffen, indem sie die
theologischen Hauptthemen sammelt, sie den
diachronischen Perioden des
Offenbarungsfortschritts zuordnet und sie um
das kanonische Zentrum herum anordnet (1981,
139-139). Wegen des jüngsten Wiederauflebens
und Wachstums dieser Disziplin kann diese
Integration von biblischer Theologie und
biblischer Hermeneutik sowie das
Zusammenspiel beider Bereiche jetzt nutzbar
gemacht werden.
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HERMENEUTIK
moderne biblische
Die Entwicklung der biblischen Theologie im
20. Jahrhundert
Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
wurde das Interesse an alttestamentlicher
biblischer Theologie und ihr Einfluss auf
die biblische Hermeneutik durch folgende
Faktoren gemindert: (1) der destruktive
Einfluss der Quellenscheidung, welche die
Einheitlichkeit der Religion und Theologie
Israels leugnete; (2) die Sichtweise, dass
alt und neutestamentliche Theologie
voneinander unabhängige und getrennte
Disziplinen seien; und (3) die Entstehung
der klassischen Lehre von den
Heilszeitaltern, welche die Gemeinde als
Einschub in der Heilsgeschichte betrachtete
und einen radikalen Unterschied zwischen
Gottes Plan für Israel und seinem Plan für
die Gemeinde machte und die praktische
Relevanz des Alten Testaments im Leben des
neutestamentlichen Gläubigen bestritt.
Während der 30er und 40er Jahre des letzten
Jahrhunderts nahmen das Interesse an
alttestamentlicher biblischer Theologie und
ihr Einfluss auf die biblische Hermeneutik
wieder zu: (1) Die Quellenscheidung wurde in
der kritischen Bibelwissenschaft von der
Form- und Redaktionskritik abgelöst, welche
die Einheitlichkeit der Theologie Israels in
der endgültigen Textform berücksichtigte;
(2) die Bekräftigung der grundsätzlichen
Einheit der Schrift; (3) die Vorstellung,
dass die alttestamentliche biblische
Theologie auf die biblische Theologie des
Neuen Testaments abgestimmt werden kann; (4)
die Rückkehr zur reformatorischen Betonung
der Wichtigkeit des Alten Testaments für den
christlichen Glauben; und (5) die Entstehung
einer revidierten Lehre von den Heilszeiten,
die mehr Kontinuität zwischen den
Haushaltungen sah als die klassische Lehre
von den Heilszeiten. Diese Faktoren stellten
die Kontinuität innerhalb der biblischen
Theologie des Alten Testaments sowie ihren
lückenlosen Zusammenhang mit der
neutestamentlichen Theologie heraus, und die
biblische Hermeneutik sah größere
Kontinuität zwischen alt- und
neutestamentlichen Themen.
Während der 50er bis 70er Jahre des 20.
Jahrhunderts erlebte die alttestamentliche
biblische Theologie in der »Bewegung für
biblische Theologie« eine durch mehrere
Merkmale gekennzeichnete Blütezeit: (1) Als
Reaktion auf das Gedankengut, das von Rad
(1901-1971) vertrat, wurde neu die
Zuverlässigkeit des biblischen Berichts
betont. (2) Durch den Einfluss der von W. F.
Albright geführten »Bewegung für biblische
Archäologie« wurde man sich neu der Rolle
der Geschichte in ihrer Beziehung zur
Theologie bewusst. (3) Es gab neue Versuche,
das integrierende Zentrum der gesamten
biblischen Theologie des Alten Testaments zu
finden.
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HERMENEUTIK
moderne biblische
Wichtige Fragen der modernen Hermeneutik
Die Rolle des Heiligen Geistes bei der
Auslegung
Während der Reformations- und
nachrefomatorischen Zeit wurde geistliche
Erleuchtung im Allgemeinen als Prozess
verstanden, der im kognitiven Bereich
wirksam ist (insbesondere von Luther, den
Pietisten und den Brüdern): Der
Nichtwiedergeborene kann das Evangelium
nicht verstehen. Es fehlt ihm die
Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Auch
kann kein Gläubiger ohne diese Erleuchtung
die Schrift richtig auslegen. Diese Ansicht
wird heute noch immer von vielen vertreten.
Einige gehen noch weiter und behaupten gar,
dass Hermeneutik bedeutungslos sei, da ja
der Geist wirken müsse.
Mehrere Ausleger der Neuzeit haben aus
1Kor 2,14-16 gefolgert, dass geistliche
Erleuchtung vorrangig im Willensbereich und
weniger auf kognitivem Gebiet wirkt. Die
Schrift verdeutlicht als Grundsatz, dass
selbst die Nichtwiedergeborenen biblische
Wahrheiten verstehen, diese aber bewusst
ablehnen. Die Wirkung des Geistes ist nicht
so sehr, dass ihnen Wahrheiten auf kognitive
Weise geoffenbart werden, sondern dass er
die Betreffenden willig macht, das
Evangelium anzunehmen, und seinen Wert,
seine Kostbarkeit, Bedeutung und Vollmacht
in ihrem eigenen Leben, ihrer Situation und
ihrem Umfeld wahrzunehmen. Die Erleuchtung
durch den Geist bietet dem Auslegenden keine
Patentlösung, mit deren Hilfe er die
schweißtreibende Exegese umgehen kann (Ramm
1958, 1959; Fuller 1978, 1980; Kaiser
1980-81; Klooster 1984; Zuck 1984; Johnson
1990; Klein, Blomberg und Hubbard 1993).
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HERMENEUTIK
moderne biblische
Wichtige Fragen der modernen Hermeneutik
Typologische Auslegung
Bereits die Ausleger der antiochenischen
Schule (3.-5. Jahrhundert n. Chr.), welche
die historisch-grammatische Exegese
benutzten, sahen die Typologie vorwiegend im
Bereich der voraussagenden Prophetie als
Grundlage für die Einheit zwischen Altem und
Neuem Testament an. Am Anfang des 20.
Jahrhunderts wurde die Typologie von
Vertretern der klassischen Lehre von den
Heilszeiten beherrscht, die hermeneutisch
zweigleisig vorgingen, indem sie eine
geistliche (typologische) und eine wörtliche
(historisch-grammatische) Auslegung sahen.
Weil jede Heilszeit in sich abgeschlossen
war, verstand man Typologie vertikal
(Himmel-Erde- Richtung) und nicht horizontal
(historisch). Irdische Gegenstände waren
Darstellungen oder Sinnbilder himmlischer
Sachverhalte, sagten aber keine
heilsgeschichtlichen Details voraus.
Foulkes (1958) wies nach, dass die
typologische (theologisch-eschatologische)
Auslegung der Geschichte im Alten Testament
ihren Ursprung hat. Die typologische
Auslegung des Alten Testaments beruht auf
der theologischen Kontinuität
(Unwandelbarkeit Gottes, Natur des Menschen
und Kontinuität in der grundlegenden
Beziehung zwischen Gott und Mensch). Weil
sich das, was Gott in der Vergangenheit
getan hat, wiederholt, und weil Gott
unwandelbar ist, kann man die Zukunft, von
der Vergangenheit her gesehen, voraussagen.
Die Propheten stellten Gott als den dar, der
zukünftig handelt, wie er es in der
Vergangenheit getan hat (z.B. Berufung
Abrahams, Auszug aus Ägypten, Herrschaft
Davids), jedoch auf einer höheren und noch
nie dagewesenen Ebene (z.B. neuer Auszug,
neuer Tempel, neuer Bund, neue Schöpfung).
Der Messias wird dargestellt in Begriffen
von großen Führern und Befreiern der
Vergangenheit (neuer Mose, neuer Josua,
neuer David). Diese typologischen
Beschreibungen im Alten Testament dienten
als Grundlage für die neutestamentliche
Auslegung der Geschichte des Alten
Testaments im typologischen Sinn.
Progressive Vertreter der Heilszeitenlehre
unserer Zeit sehen die Typologie als Aspekt
der historisch-literarischen Auslegung an
(Blaising und Bock, Saucy). Gott handle zu
verschiedenen Zeiten auf ähnliche Weise,
sodass das ursprüngliche Ereignis einem
späteren Geschehen zugrunde liege und ihm
als Modell diene. Ein Ereignis tritt ins
Blick-feld und erklärt somit das andere.
Doch auf lange Sicht scheint dies gegen die
grammatisch-historische Auslegungsmethode zu
verstoßen, die bisher ein Grundpfeiler der
evangelikalen Welt gewesen ist, wenn es um
überzeugende, solide Hermeneutik ging. Und
dies ist auch das Kennzeichen der Leh-re von
Heilszeiten gewesen. Die progressi-ven
Vertreter der Heilszeitenlehre haben ei-nen
wichtigen Wechsel vollzogen, der sich auf
ein eindeutiges Bibelstudium und ein klares
schriftgemäßes Verständnis negativ auswirken
könnte.
Zu dem Ansatz der progressiven Heils-zeitler
scheinen noch andere Faktoren
hin-zuzukommen: z.B. der historische Kontext
des Auslegers, die Frage der Tradition, die
Rolle des Vorverständnisses des Auslegers
und die so genannte »hermeneutische
Spi-rale«. Blaising und Bock bezeichnen dies
als den
»historisch-grammatisch-litera-risch-theologischen«
Ansatz, der ihnen anspruchsvoller erscheint
und sich somit von der einfachen
grammatischhistorischen Auslegung stark
unterscheidet.
Viele glauben, dass die Lehre von den
Heilszeiten aufgrund des Ansatzes der
progressiven Heilszeitler viel von ihrer
Geschlossenheit und Stärke - einer
einheitlichen Methode der Schriftauslegung -
verlieren wird. Durch die progressiven
Heilszeitler wird in der Hermeneutik ein
größerer Bereich der Subjektivität
hinzukommen. Daraus ergibt sich - wenn auch
vielleicht ohne Absicht - ein
vielschichtiges Lesen des Bibeltextes. Das
Ergebnis ist eine »komplementäre« Bedeutung.
Es kann bis zu drei Schichten beim Lesen
eines Textes geben. Bock schreibt dazu:
»Eine solche Hermeneutik bringt bei einem
Text verschiedene Sinnschichten und
Besonderheiten hervor, da der Ausleger vom
unmittelbaren Kontext zu weiter entfernten
Aspekten wandert.« Viele meinen, dass sich
die progressiven Heilszeitenlehre wegen
ihrer Kompliziertheit unter den
Hermeneutikern kaum halten wird.
Siehe auch:
Dispensationalismus, progressiver .
Gordon H. Johnston und Mal Couch
D. L. Baker, »Typology and the Christian Use
of the Old Testament« in
SJ T, 29,137-157 (1976); A. Berlin,
Poet i cs and Interpretation of Biblical
Narrative (Sheffield: The Almond Press,
1983); C. A. Blaising und D. L. Bock,
Progressive Dispensationalism (Wheaton:
Victor Press, 1993); D. A. Carson und J. D.
Woodbridge, Hg.,
Hermeneutics, Authority, and Canon
(Grand Rapids: Zondervan, 1986); D. P.
Fuller, »The Holy Spirit´s Role in
Interpretation« in
Scripture, Tradition, and Interpretation
, Hg. W. W. Gasque und W. S. LaSor (Grand
Rapids: Eerdmans, 1978), 189-191; E. E.
Johnson,
Expository Hermeneutics: An Introduction
(Grand Rapids: Zondervan, 1990); W. C.
Kaiser jun., »Legitimate Hermeneutics« in
Inerrancy , Hg. N. Geisler (Grand
Rapids: Zondervan, 1979), 117-147;
Toward an Exegetical Theology (Grand
Rapids: Baker, 1981), und
The Uses of the Old Testament in the New
(Chicago: Moody Press, 1985); W. C. Kaiser
jun. und M. Silva,
An Introduction to Biblical Hermeneutics
(Grand Rapids: Zondervan, 1994); W. W.
Klein, C. L. Blomberg und R. L. Hubbard,
Introduction to Biblical Hermeneutics
(Dallas: Word, 1993); R. Knierim, »Criticism
of Literary Features, Form, Tradition, and
Redaction«, in
The Hebrew Bible and Ist Modern Interpreters
, Hg. D. A. Knight und G. M. Tucker
(Philadelphia: Fortress Press, 1985),
126-127; T. Longman III, »The Literary
Approach to the Study of the Old Testament:
Promise and Pitfalls« in
JET S, 28,385 (1985); D. McCartney und
C. Clayton,
Let the Reader Understand (Wheaton:
Victor, 1994); D. K. McKim, Hg.,
A Guide to Contemporary Hermeneutics
(Grand Rapids: Eerdmans, 1986); G. Osborne,
The Hermeneutical Spiral (Downers Grove,
Ill., InterVarsity, 1991); B. Ramm,
Protestant Biblical Interpretation
(Grand Rapids: Baker, 1970); E. D. Radmacher
und R. D. Preus, Hg.,
Hermeneutics, Inerrancy, and the Bible
(Grand Rapids: Zondervan, 1984); R. L.
Thomas, »The Hermeneutics of Progressive
Dispensationalism« in
TMSJ 6,79-95 (1995); R. B. Zuck, »The
Role of the Holy Spirit in Hermeneutics« in
BibSa c, 141,120-129 (1984).
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die nachreformatorische Zeit wies eine
Vielfalt von hermeneutischen Ansätzen auf.
Die historische Entwicklung der Hermeneutik
wurden von acht wichtigen Einflüssen
bestimmt, und zwar: Konfessionalismus,
Pietismus, Historizismus, Textkritik,
Rationalismus, wissenschaftlicher sowie
philosophischer Empirismus und Bibelkritik.
Der Konfessionalismus schuf das
hermeneutische Problem der Beziehung
zwischen der Verteidigung der lehrmäßigen
Orthodoxie und der exegetischen Freiheit.
Der Pietismus zeigte das hermeneutische
Problem der Beziehung zwischen persönlichem
und gottesdienstlichen Verständnis der
Schrift auf. Der Historizismus konzentrierte
sich auf hermeneutische Fragen im
Zusammenhang mit der Methode der
historisch-grammatischen Exegese im Licht
der ursprünglichen historischen Bibeltexte
(Textkritik) und ihrer ursprünglichen
Bedeutung im jeweiligen geschichtlichen
Kontext ihrer Entstehung. Der Rationalismus
warf das hermeneutische Problem auf, in
welcher Beziehung Glaube und Vernunft bei
der Schriftauslegung zueinander stehen. Der
Empirismus forderte die empirische
Überprüfung theologischer Wahrheiten. Die
Bibelkritik erfand eine hermeneutische
Methode, die sich allein darauf
konzentrierte, Verfasserschaft und Aufbau
der biblischen Texte zu bestimmen, um so die
Echtheit des Inhalts einschätzen zu können
(Quellen- und Literarkritik).
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Hermeneutik der dogmatischen Theologie
Nach dem Konzil von Trient (1543-1563)
begannen die Protestanten, ihre eigenen
Glaubensbekenntnisse zu verfassen, um ihre
Ansichten zu verteidigen. Diese Periode
wurde eine Zeit des theologischen
Dogmatismus, der Verfolgung von Ketzern und
des streng bekenntnisorientierten
Protestantismus. Die Exegese wurde durch
Dogmatismus, die Freiheit durch Tradition
abgelöst. Der Konfessionalismus trennte sich
von der freien theologischen Arbeitsweise,
vollzog eine Abkehr von der Kultur, fand
keinen Zugang zur erwachenden Wissenschaft
und endete schließlich in innerkirchlichen
theologischen Debatten.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Hermeneutik der dogmatischen Theologie
Ablösung der exegetischen Hermeneutik durch
die dogmatische Hermeneutik
Nach dem Konzil von Trient kehrten die
Reformatoren, um den Traditionalismus der
römischkatholischen Kirche zu überwinden,
zum Wortlaut der Schrift zurück, indem sie
die Exegese betonten. Unter dem Druck des
gegenreformatorischen Rückgriffs auf
Glaubensbekenntnisse begann die
nachreformatorische Kirche, ihren eigenen
Dogmatismus einzuführen. Ironischerweise
brachte genau die Bewegung, die aus der
Ablehnung des Traditionalismus entstanden
war, ihren eigenen Traditionalismus und
Dogmatismus hervor. Die Hermeneutik der
Reformation betonte die alleinige Autorität
der Schrift und die vom katholischen
Traditionalismus befreite
historisch-grammatische Exegese. Die
Ergebnisse der reformatorischen Exegese
wurden nun in Aussagen von
Glaubensbekenntnissen systematisch
festgehalten, die bald die neue Orthodoxie
der nachreformatorischen Kirche bildeten.
Die Hermeneutik der nachreformatorischen
Zeit war fast ausschließlich zur Methode
einer Exegese herabgesunken, die auf der
Grundlage der reformatorisch bedingten
Annahmen nach Belegstellen suchte. Die
biblische Hermeneutik war kaum mehr als eine
raffiniert getarnte Theologie der
Grundvoraussetzungen, welche die
dogmatischen Annahmen der
Glaubensbekenntnisse verteidigen sollte. Die
Hermeneutik wurde auf ein Regelwerk
reduziert, mit dem man den Text wörtlich so
las, dass die dogmatischen Vorverständnisse
der orthodoxen Theologen bestätigt wurden.
Als Reaktion auf das Konzil von Trient ließ
M. Flacius in seinem Werk
Clavis Scripturæ Sacræ (1567)
durchblicken, dass die Katechismen und
Glaubensbekenntnisse der Reformation der
entscheidende Maßstab für die
protestantische Auslegung waren. Daher
beruhte die nachreformatorische
protestantische Auslegung nicht auf
exegetischer historischgrammatischer
Hermeneutik, sondern auf dogmatischer
Hermeneutik. Sie sollte Glaubensbekenntnisse
untermauern und bediente sich bestimmter,
von Grundannahmen ausgehender Folgerungen,
die man aus nicht zusammenhängenden
Belegtexten gewann. Das entscheidende
hermeneutische Prinzip war die dogmatische,
von Grundannahmen ausgehende Exegese. Eine
durch Belegstellen gestützte Theologie
beherrschte die Exegese, was im Gegensatz
zum reformatorischen Ideal - der
Vorrangstellung der Exegese gegenüber der
Theologie - stand. Dadurch kam der
hermeneutische Fortschritt zum Stillstand.
Außerdem gingen wegen des Ballasts
erstarrter Dogmen die Originalität in der
Exegese und viele neue theologische
Einsichten verloren.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Hermeneutik der dogmatischen Theologie
Ausweitung des Konfessionalismus und der
dogmatischen Hermeneutik
Während der Reformationszeit wurden eifrig
exegetische Kommentare veröffentlicht,
nachdem sich die Gelehrten von der starren
Vorherrschaft des katholischen
Traditionalismus gelöst hatten. Während der
nachreformatorischen Zeit entstand jedoch
eine Vielzahl von streng
bekenntnisorientierten Abhandlungen. Die
Zunahme des Konfessionalismus wurde durch
zwei Faktoren bestimmt. Erstens begannen die
nachreformatorischen Protestanten als
Reaktion auf das Konzil von Trient ihre
Glaubensbekenntnisse zu verfassen, um ihre
Lehren zu verteidigen. Zweitens förderte die
durch die Reformatoren gewonnene exegetische
Freiheit das individuelle Schriftstudium,
was zu einer Fülle neuer Auslegungen und
unterschiedlicher theologischer
Schlussfolgerungen führte. Der Grundsatz der
Reformatoren, »Die Bibel legt sich selbst
aus«, funktionierte so lange gut, wie
jedermann zu den gleichen Auslegungen kam.
Doch statt exegetische Freiheit zu gestatten
und das gegenseitige theologische Gespräch
zu fördern, spaltete sich der
nachreformatorische Protestantismus in
miteinander streitende Lager, wobei sich
jedes als Verfechter der neuen Orthodoxie
von den anderen streng abgrenzte.
Damals veröffentlichte fast jede bedeutende
Stadt und protestantische Gruppierung ihr
eigenes Glaubensbekenntnis, so z.B. die
Marburger Artikel (1529), das Augsburger
Bekenntnis (1530), die Confessio
Tetrapolitana (1530), die Wittenberger
Konkordie (1536), die Schmalkaldischen
Artikel (1537), die Confessio Helvetica
posterior (1566), die Konkordienformel
(1580), die 39 Artikel (1562) und das
Westminster-Bekenntnis (1643). Jedes Mal
verband sich damit die Hoffnung auf
lehrmäßige Einheit im Rahmen formaler
Übereinstimmung. Statt Kontroversen zu
schüren oder zu mehren, wollte man sie auch
dadurch, dass man Glaubensbekenntnisse bis
ins Kleinste ausformulierte, beenden. Die
erstarrten Glaubensbekenntnisse und die
fehlende Toleranz unter den Gruppierungen
führten jedoch zur Zersplitterung des
Protestantismus. Die lutherischen und
reformierten Kirchen verbrauchten ihre
geistliche Kraft in Lehrstreitigkeiten, die
nur Theologen bekannt waren und an
Haarspaltereien grenzten.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Hermeneutik der dogmatischen Theologie
Die Hermeneutik des
Westminster-Bekenntnisses
Die Zunahme des Konfessionalismus wirkte
sich in vielerlei Hinsicht negativ auf die
exegetische Hermeneutik aus. Das
Westminster-Bekenntnis bestätigte die
exegetischen Ideale der Reformatoren und
verbesserte die exegetische Hermeneutik. Es
wurde 1647 vom englischen Parlament und 1649
vom schottischen Parlament angenommen als
Zusammenfasssung der Glaubenssätze des
britischen Calvinismus. Unter all den
Glaubensbekenntnissen ging es die Frage der
Hermeneutik am unmittelbarsten an, indem es
die hermeneutischen Lehrsätze von Luther und
Calvin bestätigte und verbesserte. Die
Erleuchtung des Geistes sei notwendig, um
die grundlegende Botschaft der Schrift zu
verstehen: »Wir erkennen die innere
Erleuchtung des Heiligen Geistes als
notwendig an, um die Dinge, die im Wort
geoffenbart sind, zu verstehen.« Diese
Erleuchtung führe zu einer grundsätzlichen
Verständlichkeit der Schrift: »In der
Schrift sind weder alle Dinge in sich selbst
klar noch gleich verständlich für jeden;
doch sind die Dinge, die notwendig sind zu
wissen, zu glauben und zu halten, so
deutlich vorgestellt und eröffnet an der
einen oder anderen Stelle der Schrift, dass
nicht nur der Geschulte, sondern auch der
Ungeschulte beim rechten Gebrauch der
normalen Mittel zu einem ausreichenden
Verständnis dessen gelangen kann« (Artikel
1.7). Dieses »normale Mittel« zum
Verständnis unklarer Schriftstellen ist die
»Analogie der Schrift«: »Die unfehlbare
Regel der Schriftauslegung ist die Schrift
selbst. Deswegen muss, wenn eine Frage über
die wahre und volle Bedeutung einer
Schriftstelle vorliegt (die nur einen
Wortsinn zulässt), das mit Hilfe anderer
Stellen, wo deutlicher davon die Rede ist,
erforscht und erkannt werden« (Artikel 1.9).
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
Die erste Bewegung, die dem
nachreformatorischen Konfessionalismus
kritisch gegenüberstand, war der Pietismus,
der die dogmatische und formalistische Art
der Schriftauslegung missbilligte. Die
protestantische Kirche war in ihre eigene
Form der Scholastik zurückgefallen.
Intellektuelle Übereinstimmung mit dem
protestantischen Dogma war wichtiger als
persönliche Frömmigkeit und Heiligung. Als
Reaktion auf diesen sterilen Dogmatismus hob
der Pietismus persönliche Frömmigkeit und
inneres geistliches Leben hervor. Im
Gegensatz zum ausgelaugten intellektuellen
Dogmatismus der protestantischen Scholastik
und dem sterilen Formalismus
protestantischer Gottesdienste griff er
wieder den praktischen Vollzug des
christlichen Glaubens als Lebensstil auf,
der sich in Hausbibelkreisen, Gebet und der
Pflege einer persönlichen Sittlichkeit
niederschlug. Um seine Ziele zu untermauern,
schuf der Pietismus eine neue Hermeneutik,
bei der er die persönliche Erfahrung des
Bibelauslegers hervorhob. Somit ließ der
Pietismus das hermeneutische Problem der
Beziehung zwischen persönlichem und
gottesdienstlichen Verständnis der Schrift
entstehen.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
Jakob Böhme
Der Pietismus entstand im 17. Jahrhundert in
Deutschland und breitete sich später in
Westeuropa und Nordamerika aus. Seine
Wurzeln lagen jedoch in der Mystik von Jakob
Böhme (1575-1624). Er lehrte, dass man
unabhängig von der Schrift Gott unmittelbar
erkennen und durch subjektive Erfahrung mit
ihm direkt Gemeinschaft haben könne. Er
betonte die Überlegenheit persönlicher
Erfahrung gegenüber bekenntnismäßiger
Übereinstimmung. Die Subjektivität trat an
die Stelle der objektiven exegetischen
Hermeneutik der Reformatoren und der
erstarrten dogmatischen Hermeneutik der
Konfessionalisten.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
Philipp Jakob Spener
Philipp Jakob Spener (1635-1705), ein
deutscher Pastor lutherischer Prägung, war
der Begründer des Pietismus. Er missbilligte
den toten Formalismus und erstarrten
Konfessionalismus der protestantischen
Scholastik, die zu einer Theologie der
bloßen Worte verkommen war und der
persönliche Frömmigkeit und individuelle
Gemeinschaft mit Gott fehlten. In
Pia desideria (1675) und
Das Geistliche Priestertum (1677)
betonte er die Notwendigkeit einer
persönlichen Bekehrung zu Christus und einer
innigen persönlichen Beziehung zu Gott, die
Notwendigkeit eines heiligen Lebenswandels,
das Priestertum aller Gläubigen und ein von
Bibelstudium und Gebet geprägtes Leben.
Spener reagierte auf die dogmatische
Hermeneutik, der es nur um lehrmäßige
Interessen ging, und hob das erbauliche und
praktische Bibelstudium hervor. Er
befürwortete eine exegetische,
historisch-grammatische Hermeneutik, deren
Ziel darin bestand, die erbaulichen und
praktischen Auswirkungen des Schriftstudiums
im Leben des Gläubigen umzusetzen.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
August Hermann Francke
August Hermann Francke (1663-1727) betonte
das unmittelbare persönliche Bibelstudium.
Obwohl Kommentare hilfreich seien, sollten
sie das Schriftstudium selbst nicht
ersetzen. Während der Einzelne das Recht
habe, persönliche Auslegungen zu finden, hob
Francke auch die Notwendigkeit einer
historisch-grammatischen Exegese -
insbesondere die Sprachwissenschaft -
hervor. Er betonte ebenso, dass nur der
Wiedergeborene die Bibel verstehen könne und
dass die geistliche Erleuchtung für die
richtige Auslegung notwendig sei.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
John Wesley
John Wesley (1703-1791) war der Führer der
pietistischen Bewegung in England, deren
Anliegen die Förderung einer lebendigen
individuellen Frömmigkeit und Heiligkeit
durch persönliches Bibelstudium und Gebet
war. Wesley betonte stark, dass die Schrift
verständlich sei. Nicht nur die grundlegende
Heilsbotschaft sei klar, sondern auch die
ganze Bibel: Sie könne vom einfachen
Gläubigen erfasst und verstanden werden -
allerdings je nachdem, wie ernst der
Betreffende sein Glaubensleben nehme. Wesley
verteidigte die vollständige
Verständlichkeit der Schrift und sagte, dass
die Bibel in ihrer Gesamtheit den Leser zu
Christus weise. Wenn irgendetwas nicht klar
zu sein scheine, solle man einfach Christus
in die jeweilige Stelle einbeziehen.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung des Pietismus
Jonathan Edwards
Jonathan Edwards (1703-1758), die führende
Gestalt des Pietismus in Nordamerika,
erreichte eine Ausgewogenheit, die anderen
Pietisten fehlte. Im Gegensatz zu Spener und
Wesley wollte er beim Schriftstudium nicht
nur praktische Anwendungen, sondern auch
lehrmäßige Unterweisung finden. Seine
Hermeneutik war durch die typologische
Exegese im Alten Testament gekennzeichnet,
mit deren Hilfe er christologische
Prophetien und praktische Anwendungen
ableiten konnte. So seien beispielsweise die
sieben Jahre harter Arbeit, die Jakob aus
Liebe zu Rahel ertrug (
1Mo 29,20 ), ein Bild von der Tat
Christi, der aus Liebe zu der Gemeinde das
Kreuz erlitt.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung der historischen Kritik
In früheren Zeiten hatten Theodor von
Mopsuestia, Chrysostomus und die
Reformatoren bis zu einem gewissen Grad
versucht, die Schrift historisch auszulegen.
Mit der Entwicklung der empirischen
Wissenschaften nahm das Verständnis für das
genaue Wesen einer historischen Wissenschaft
zu. Die Schrift wurde in historischer
Hinsicht gründlicher untersucht als je
zuvor. Man erkannte immer mehr, wie wichtig
Abfassungszeitpunkt, historischkultureller
Hintergrund und geschichtlicher Anlass für
die biblischen Bücher sind. Diese neue
Betonung der dem biblischen Text zu Grunde
liegenden historischen Situation entlarvte
die Unzulänglichkeit der Methode, die
Schrift lediglich als Quelle von Belegtexten
zu verwenden, die aus ihrem literarischen
und geschichtlichen Zusammenhang gerissen
wurden. Die Entstehung des Historizismus
führte zu einem Niedergang der dogmatischen,
sich auf Belegstellen stützenden
hermeneutischen Methode des
Konfessionalismus und leitete die Zeit der
historisch-kritischen Forschung ein. Die
historische Kritik führte zu einem
Verständnis der fortschreitenden Offenbarung
(Coccejus, 1603-1669) und zur Entwicklung
einer historisch-biblischen Theologie
(Gabler, 1753-1826).
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Die Entstehung der historischen Kritik
Vertreter der historischen Kritik
Einen wesentlichen Impuls für die
Entwicklung der historischen Kritik gab Hugo
Grotius (1583-1645). Er stellte eine
historische Auslegung vor, die
ausschließlich die geschichtlichen
Verhältnisse der Schreiber berücksichtigte.
So behauptete Grotius beispielsweise, dass
der Knecht in
Jesaja 53 nicht Jesus, sondern Jeremia
gewesen sei, der während der babylonischen
Gefangenschaft zu Unrecht leiden musste.
Jean-Alphonse Turretin (1671-1737),
reformierter Theologe in Genf,
veröffentlichte 1728 eine systematische
Hermeneutik, die auf eine
historisch-literarische Schriftauslegung
abzielte:
Die Schrift sollte wie jedes andere Buch
ausgelegt werden. Da derselbe Gott, der in
der Schrift Offenbarungen gab, Menschen auch
mit Vernunft begabt hat, mit deren Hilfe man
Mitteilungen verstehen kann, ist der Mensch
imstande, die Schrift ebenso wie jede andere
Mitteilung zu erfassen.
Da sie ein geschichtliches Buch ist, muss
die Schrift vom historisch-kulturellen
Hintergrund der biblischen Autoren und nicht
von irgendeinem modernen Standpunkt aus
verstanden werden. Die Worte und Meinungen
der heiligen Schreiber muss man in ihrem
Bezug zu ihrem eigenen
historisch-kulturellen Hintergrund
verstehen.
Das Ziel der Auslegung besteht darin, die
ursprüngliche Absicht des Autors in ihrem
historisch-literarischen Kontext zu
bestimmen.
Die Schrift muss im Licht des Gesetzes der
Widerspruchslosigkeit (ein Sachverhalt kann
nicht gleichzeitig wahr und falsch sein)
ausgelegt werden. Daher trifft keine
Auslegung zu, die sich nicht mit einem
bereits als wahr bekannten Sachverhalt
vereinbaren lässt.
Der Ausleger sollte (in Anlehnung an Thomas
von Aquin) das Licht des natürlichen
Verstandes gebrauchen, um scheinbare
Widersprüche miteinander zu vereinbaren.
Da man die Schrift wie jedes andere Buch für
sich selbst sprechen lassen sollte, muss
sich der Verstand - der dem Gesetz des
Widerspruchs unterliegt - frei von jeglichen
modernen Grundannahmen der Bibel nähern, als
sei sie ein unbeschriebenes Blatt.
Im Jahr 1750 betonte Johann Wettstein
(1693-1754) die Bedeutung des
historisch-kulturellen Umfelds der
biblischen Autoren. Die Auslegung sollte im
Licht der Weltsicht, der Denkgewohnheiten
und der sprachlichen Besonderheiten der
antiken Welt erfolgen, in der die biblischen
Autoren zu Hause waren. So zeigte Wettstein
beispielsweise, dass für die Exegese der
Evangelien das Studium rabbinischer
Literatur hilfreich ist.
Johann Ernesti (1707-1781) war einer der
hervorragendsten Exegeten des 18.
Jahrhunderts und veröffentlichte ein
Lehrbuch zur Hermeneutik, das über
einhundert Jahre lang für die
neutestamentliche Auslegung maßgeblich sein
sollte. Er betonte die Bedeutung der Exegese
im Licht des historisch-kulturellen und
literarischen Hintergrunds der biblischen
Autoren.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Einfluss der Textkritik
Textkritik des Alten Testaments
Als das während der Renaissance erneut
einsetzende Studium antiker Texte auf die
Heilige Schrift angewandt wurde, stellte man
fest, dass der biblische Text, historisch
gesehen, den gleichen Einflüssen ausgesetzt
gewesen war wie andere Dokumente. Obwohl das
Studium der alttestamentlichen Texte durch
den Mangel an Textmaterial erschwert wurden,
kam man voran, als die Gelehrten bemerkten,
dass die masoretischen Vokalzeichen erst
spät auftraten und dass die masoretischen
Konsonanten an bestimmten Stellen nicht
immer zuverlässig waren. Elia ben Ascher
(1469-1549) brachte die gelehrte Welt 1538
aus der Fassung, als er nachwies, dass die
Vokalzeichen und Akzente des masoretischen
Textes erst einige Zeit nach Abfassung des
konsonantischen Textes gesetzt wurden
(frühestens im 6. Jahrhundert n. Chr.). Die
Ansicht, dass die Konsonanten des
masoretischen Textes unantastbar waren,
ebnete schließlich den Weg zu den
Veröffentlichungen von Louis Cappel
(1585-1658), Jean Morin (1659) und Richard
Simon (1678), die Unterschiede zwischen der
Septuaginta (LXX) und dem masoretischen Text
aufzeigten. In einer Veröffentlichungsreihe
wies Louis Cappel, der oft als »Vater der
alttestamentlichen Textkritik« bezeichnet
wird, nach, dass die Schlussfolgerungen ben
Aschers bezüglich der masoretischen
Vokalzeichen richtig waren. Außerdem zeigte
er, dass der masoretische Text selbst alles
andere als zuverlässig war. In seinem
epochalen Werk
Critica Sacra (1650) untersuchte Cappel
die Kethiv-Qere-Lesarten, den
samaritanischen Pentateuch, die Septuaginta
und alttestamentliche Zitate im Neuen
Testament.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Einfluss der Textkritik
Textkritik des griechischen Neuen Testaments
Ähnliche Forschungen gab es zum Neuen
Testament. Schon früh hatten die ersten
Ausgaben des griechischen Textes durch
Erasmus (1516), Ximénes (Complutenser
Polyglotte, 1522) und Simon de Colines
(1534) aufgezeigt, dass die verschiedenen
griechischen Handschriften untereinander
große Unterschiede aufwiesen. In seiner
dritten Ausgabe des griechischen Textes
(1551) verglich Robert Estienne erstmals die
Varianten des griechischen Neuen Testaments
von Erasmus' vierter (1527) und fünfter
(1535) Ausgabe, die Lesarten der Fußnoten
der Complutenser Polyglotte und fünfzehn
andere Handschriften miteinander. Bei seinen
zahlreichen Ausgaben des griechischen Neuen
Testaments benutzte Theodor Beza mehrere
alte Übersetzungen. Lucas Brugensis (1580)
hob die Bedeutung der neutestamentlichen
Zitate in der Literatur der Kirchenväter
hervor. Die weitere Entwicklung der
neutestamentlichen Textkritik wurde jedoch
durch die weit verbreitete Bindung an den
Textus Receptus behindert. Dieser
erschien in England in der 1550 von Estienne
veröffentlichten Ausgabe und 1663 in der für
das übrige Europa bestimmten Ausgabe der
Gebrüder Elzevir.
Als der
Codex Alexandrinus 1628 in England
auftauchte, erwachte neues Interesse an der
Textkritik. Dies ebnete den Weg für
wissenschaftliche Versuche im 17. und 18.
Jahrhundert, den Wortlaut des Urtextes zu
rekonstruieren. Damals wurden große
Fortschritte bei dem Vorhaben erzielt, den
Urtext des Neuen Testaments zu bestimmen.
Johann Albrecht Bengel (1687-1752), als
Vater der modernen neutestamentlichen
Textkritik bekannt, war der erste, der das
Bestehen von Textfamilien auf der Grundlage
gemeinsamer Merkmale erkannte. Bengel
veröffentlichte 1734 eine kritische Ausgabe
des griechischen Neuen Testaments, der ein
kritischer Kommentar beigefügt war. Er
wählte seine Lesarten in seinem griechischen
Neuen Testament nach der Einteilung von
Handschriften in Textfamilien und dem
Prinzip aus, dass man der schwierigeren
Lesart den Vorzug geben müsse. Johann Jakob
Wettstein (1693-1754) verglich viele
neutestamentliche Handschriften und
veröffentlichte im Jahr 1751 ein
zweibändiges griechisches Neues Testament
mit einem Textkommentar. Die 1633
vorgenommene Defacto-Kanonisierung des
griechischen
Textus Receptus durch den
Protestantismus wurde aufgrund der
gründlicheren Bemühungen von Bengel und
Wettstein schließlich hinfällig. Andere
Gelehrte folgten ihrem Beispiel und
klassifizierten und bewerteten
neutestamentliche Handschriften. Dabei
wurden sie sich immer mehr bewusst, wie viel
man noch tun musste, um all die Varianten an
den verschiedenen Textstellen zu
katalogisieren und zu entscheiden, welche
Variante die beste ist.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Der Einfluss des Rationalismus
Als man sich in der Renaissance zunehmend
auf die menschliche Vernunft verließ,
entstand eine intellektuelle Bewegung, die
sich auf die biblische Hermeneutik in der
nachreformatorischen Zeit drastisch
auswirkte - der Rationalismus.
Ironischerweise liegen die Wurzeln des
Rationalismus im christlichen Humanismus von
Gelehrten wie Erasmus. Im Dienst der Kirche
hatten sie mit ihrer Vernunft die Bibel in
den Urtextsprachen studiert. Sie glaubten
auch, dass die Vernunft bei der Erforschung
der Bibel Christen helfe, ihren Glauben zu
festigen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde
die Waffe der Vernunft nicht nur gegen die
Autorität der Kirche, sondern auch gegen die
Schriftautorität eingesetzt. Dies bereitete
den Boden für eine völlige Infragestellung
der biblischen und kirchlichen Autorität im
19. Jahrhundert.
Die führenden Rationalisten waren Thomas
Hobbes (1588-1679), René Descartes
(1596-1650), John Locke (1632-1703) und
Baruch Spinoza (1632-1677). Sie stellten die
hermeneutischen Grundlagen der
traditionellen Orthodoxie in Frage, als sie
behaupteten, dass die menschliche Vernunft
das Glaubens- und Wahrheitskriterium werden
müsse. Der menschliche Intellekt sei
imstande zu entscheiden, was wahr und falsch
ist. Er tue dies, indem er über alles
nachdenke, was dem Geist in einer
Raum-Zeit-Welt begegne, und nicht aufgrund
der Offenbarung eines transzendenten Gottes.
Die Bibel sei dort wahr, wo sie den
Schlussfolgerungen der unabhängigen
menschlichen Vernunft entspreche. Was jedoch
nicht mit den Vernunftschlüssen
übereinstimme, könne ignoriert oder
abgelehnt werden. Für den Rationalismus war
der Glaube der traditionellen Orthodoxie mit
der Vernunft unvereinbar. Im Gegenzug
verwarfen John Wesley und andere
Protestanten die menschliche Vernunft, die
nichts als verdorben und gefallen sei.
Von der konfessionellen Orthodoxie
enttäuscht, schälten die Rationalisten aus
dem, was sie als theologische Hülle der
Schrift ansahen, den schlichten Kern
biblischer Wahrheit heraus, den sie mit
Hilfe der historischen Forschung und der
menschlichen Vernunft zu finden suchten.
Hobbes schloss aus dem inneren Sachverhalt
der fünf Bücher Mose, dass Mose lange vor
der Vervollständigung des Pentateuchs gelebt
habe und daher nicht sein Verfasser sein
könne. Spinoza lenkte die Aufmerksamkeit auf
die angeblichen literarischen
Ungereimtheiten, historischen Widersprüche
und chronologischen Schwierigkeiten im
ersten Buch Mose. Er meinte daher, dass
nicht Mose, sondern Esra den Pentateuch
sowie die Bücher Josua und Richter und auch
die Samuelund Königebücher geschrieben habe.
Spätere Redaktoren hätten die Bücher von der
Genesis bis zu den Königebüchern revidiert,
während die Chronikbücher nach 164 v. Chr.
geschrieben worden seien.
Die rationalistische Auffassung, die Thomas
Hobbes (1588-1679) über die Offenbarung
vertrat, führte zu einer subjektiven
Hermeneutik mit rein politischen Zielen. Er
leugnete zwar nicht, dass Gott sich direkt
oder indirekt durch Vermittlung eines
menschlichen Werkzeugs offenbaren könne. Man
könne jedoch nicht wissen, ob sich Gott
offenbart hat oder nicht. Daher könne man
auch nicht wissen, ob man die theologische
Autorität der Schrift akzeptieren solle oder
nicht. Folglich machte sich Hobbes nur die
Schriftabschnitte mit praktischem bzw.
pragmatischem Wert zu eigen. So seien
beispielsweise die Zivilgesetze nützlich für
die politischen Institutionen.
Baruch Spinoza (1632-1677), der aus Holland
stammende jüdische Philosoph, versuchte, das
Gebiet der Philosophie von den Ansprüchen
der Theologen zu befreien, indem er
behauptete, dass Theologie (Offenbarung) und
Philosophie (Vernunft) voneinander getrennte
Bereiche seien. Die Schrift solle der
Autorität menschlicher Vernunft unterworfen
werden, und nicht umgekehrt. In seinem
ursprünglich anonymen
Tractatus Theologico-Politicus (1670)
trat Spinoza für die Vormachtstellung der
Vernunft bei der Schriftauslegung ein. Die
Schrift solle wie jedes andere Buch studiert
werden - indem man die Regeln der
historischen Forschung benutzt. Aus Sicht
der Vernunft liege immer dort, wo nach
biblischem Anspruch Gott in die Geschichte
direkt eingegriffen hat, einfach eine
übliche jüdische Ausdruckweise und keine
Offenbarung vor. Wundergeschichten seien
weiter nichts als eine überzeugende Methode,
unwissende Menschen zum Gehorsam zu bewegen.
Somit solle man die Bibel nur von ihren
historischen Anliegen her studieren. Spinoza
legte mehrere hermeneutische Regeln für die
historische Auslegung fest. Sie betreffen
u.a. die Bedeutung des Hebräischen und
Griechischen, den geschichtlichen
Hintergrund, hebräische Redensarten und die
antiken Weltsichten. Richtige Auslegung sei
unmöglich, wenn keine Textkritik durch die
Vernunft dazukomme. Um die Bibel zu
verstehen, müsse der Ausleger sie genau so
betrachten, wie ein Naturforscher die
Phänomene der Natur beobachtet. Hören auf
die Schrift sei Sache der menschlichen
Vernunft und nicht der Mahnrufe bei den
orthodoxen Konfessionalisten.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Der Einfluss des Rationalismus
Die englischen Deisten
Der Einfluss des Rationalismus auf die
Hermeneutik spiegelt sich in den
exegetischen Abhandlungen der Deisten wider.
Sie übernahmen die Vernunft als oberste
Instanz in Fragen der Wahrheit und des
Glaubens. Ihrer Meinung nach müssten Teile
des Alten Testaments verworfen werden, weil
sie grausame Sachverhalte enthielten. Leben
und Lehre Jesu könne man auf der Grundlage
der natürlichen Religion und nicht der
geoffenbarten Religion erklären. Thomas
Woolston (1669-1731/33) tat die
Wunderberichte als bloße »romantische
Erzählungen« ab.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Einfluss des wissenschaftlichen Empirismus
Während des 17. und 18. Jahrhunderts wurden
neue wissenschaftliche Entdeckungen gemacht,
die mit der Weltsicht der Orthodoxie
unvereinbar waren und ihre hermeneutischen
Grundlagen in Frage stellten. Als Europäer
China und seine alte Kultur entdeckt hatten,
bestritt man die traditionelle Auffassung
über das Alter der seit Adam existierenden
Menschheit und geriet dabei mit der
Weltchronologie von Erzbischof Ussher, der
den Zeitpunkt der Schöpfung auf das Jahr
4004 v. Chr. festlegte, und seinem
hermeneutischen Ansatz bei den
Genesis-Stammbäumen in Konflikt. Die
astronomischen Beobachtungen von Kopernikus
(1473-1543), Bruno (1548-1600), Kepler
(1571-1630) und Galilei (1564-1642)
entfremdeten die Naturwissenschaftler der
biblischen Lehre. Nach Meinung zahlreicher
Bibelausleger damals konnte man nicht
behaupten, dass die Bibel ein
wissenschaftlich exaktes Bild vom Kosmos
vermittle. Angesichts der Vorherrschaft des
wissenschaftlichen Empirismus standen viele
jeder theologischen These kritisch
gegenüber, die nicht durch Sinneswahrnehmung
oder empirische Bestätigung nachgewiesen
werden konnte.
Leider verweigerte sich die konfessionelle
Orthodoxie sowohl protestantischer als auch
katholischer Prägung der wissenschaftlichen
Diskussion. Stattdessen griffen sie die
Wissenschaftler an, die ihre
bekenntnisorientierten Aussagen über den
Kosmos angefochten hatten. Anstatt ihre
naive Hermeneutik der speziellen Offenbarung
zu modifizieren, um den neuen
wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem
Hintergrund der allgemeinen Offenbarung
Rechnung zu tragen, vollzogen sie einfach
eine Abkehr von der wissenschaftlichen
Revolution. Als beispielsweise Calovius
(1612-1686) mit dem wissenschaftlichen
Beweis konfrontiert wurde, dass sich die
Erde um die Sonne drehe und nicht der
Mittelpunkt des Universums ist, erklärte er
nur, dass dies »schriftwidrig« sei. Indem
sie dachten, dass die neuen
wissenschaftlichen Entdeckungen die
Schriftautorität und nicht die
Unzulänglichkeiten ihrer kleinlichen
hermeneutischen Methoden in Frage stellen
würden, schufen die Konfessionalisten einen
Antagonismus zwischen Glauben und
Wissenschaft, der jahrhundertelang Bestand
haben sollte. Unter ihrem Einfluss wurden
Glauben und Wissenschaft zu Gegensätzen,
sodass eine unnötige Zweiteilung
(Dichotomie) entstand, welche die
Schriftautorität in den Augen der
wissenschaftlichen Welt im Lauf der Zeit
ernsthaft untergrub.
Ironischerweise machten die lutherischen,
reformierten und katholischen Tra
ditionalisten gemeinsame Sache bei dem
Anliegen, die Weltsicht der Orthodoxie zu
verteidigen. Nur wenige Protestanten nahmen
die Herausforderung an, die biblische
Weltsicht und die Grundlagen der neuen
Vernunft miteinander zu vereinbaren. Dazu
gehörten Balthasar Bekker (1643-1698) und
Christoph Wittich (1625-1687). Die meisten
nahmen jedoch eine Abwehrhaltung ein:
Vertreter der Orthodoxie zogen sich einfach
in ihre Gräben zurück und blieben umso
hartnäckiger bei ihren Aussagen. Die
simplifizierende nachreformatorische
Hermeneutik des Konfessionalismus konnte
wegen ihrer Unzulänglichkeit die
Rationalisten nicht ansprechen und war
außerstande, ihre Fragen zu beantworten. Die
biblische Hermeneutik wurde auf ein
Regelwerk reduziert, das den Text wörtlich
las - und zwar so, dass die dogmatischen
Vorverständnisse der orthodoxen Theologen
bestätigt wurden. Die Unfähigkeit der
Orthodoxie, die betreffenden Probleme
anzusprechen, führte schließlich zu den
vernichtenden Angriffen der Bibelkritik.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Einfluss des philosophischen Empirismus
David Hume (1711-1776) sagte, dass Tatsachen
nicht durch eine Apriori-Begrün-dung
nachgewiesen, sondern durch die Erfahrung
entdeckt oder aus ihr gewonnen werden
können. Alle Erkenntnis leite sich ab aus
der Sinneserfahrung und vom Nachdenken
darüber, was sich durch die Sinne dem Geist
erschließt. Im Geist gibt es nichts, was
nicht zuvor in den Sinnen war. Will man die
Stichhaltigkeit eines Gedankens prüfen, muss
man fragen, welche Sinneseindrücke ihn
veranlasst haben. Es gibt kein Licht der
Vernunft, das diesen von den Sinnen
vermittelten Eindruck durchdringt und das zu
einem wesenhaften Verständnis der
bestehenden Dinge führt. Die menschliche
Existenz wird auf ein physisches (externes)
Objekt reduziert, das untersucht werden muss
wie andere physische Objekte auch. Das
menschliche Sein ist ganz Materie und
Substanz, eine immaterielle Seele gibt es
nicht. Gottes Existenz, der Ursprung der
Welt und andere Themen, die über die
begrenzte menschliche Erfahrung hinausgehen,
sind nicht beweisbar und daher
bedeutungslos.
Hume war ein Gegner des Offenbarungs- und
Wunderglaubens. Da ein Wunder eine
Verletzung eines Naturgesetzes oder eine
Ausnahme davon darstellt, gehört es in den
unteren Bereich der Wahrscheinlichkeit. Die
Weisen werden ihren Glauben immer auf das
gründen, was am wahrscheinlichsten ist.
Daher glaubt ein Weiser nicht an Wunder.
Humes Skeptizismus stellte die Grundfesten
biblischer Hermeneutik als Studium
objektiver, verständlicher und vertretbarer
Wahrheit in Frage.
Immanuel Kants (1724-1804) Werk bildete eine
Wasserscheide und einen Wendepunkt in der
Philosophiegeschichte. Seine Wirkung war so
umfassend und tief greifend, dass keine
intellektuelle Disziplin davon unberührt
blieb - nicht einmal die Hermeneutik, obwohl
sich nur wenige Exegeten dessen bewusst
waren.
Kant begann sein Wirken mitten in der
Auseinandersetzung zwischen den beiden
damaligen Methoden der Wahrheitsfindung: dem
Rationalismus mit Anhängern in
Kontinentaleuropa und dem Empirismus mit
Befürwortern in Großbritannien. Er
versuchte, eine Synthese zwischen dem
Empirismus und Rationalismus zu finden, um
bestimmen zu können, ob es möglich sei,
metaphysische Erkenntnis über Gott zu
gewinnen.
Obwohl Kant die Rolle des Empirismus
akzeptierte, lehnte er seine skeptizistische
Schlussfolgerung ab, dass die Überzeugungen,
die außerhalb des Erfahrungsbereichs
existieren, nicht gerechtfertigt seien. Kant
verwarf jedoch die rationalistische
Behauptung, dass objektive Wahrheiten über
das, was existiert und was nicht, allein
durch den Gebrauch des Verstandes
nachgewiesen werden können. Im Grunde war
Kant Agnostiker. Keiner kann irgendeine
wahre Erkenntnis über die letzte
Wirklichkeit gewinnen. Man ist außerstande,
die von einem äußereren Erscheinungsbild
gesteckten Grenzen zu überschreiten. Es ist
nicht möglich, den Unterschied zwischen der
Erscheinung und der Wirklichkeit, die
unerkennbar ist, zu erkennen. Man hat oft
gesagt, dass Hume Kant das Problem der
Erkenntnis überlassen und Kant es
zurückgegeben habe, als wäre es die Lösung.
In vielerlei Hinsicht ist Kant ein einzelner
Vorläufer derer, die darauf vertrauen, dass
der Mensch durch die Macht seiner Vernunft
mit den materiellen Dingen fertig wird,
während er außerstande ist, irgendetwas
jenseits des materiellen Bereichs zu
bewältigen. Alles, was offensichtlich
wirklich ist, kann man rational
rechtfertigen, wohingegen alle letzten Dinge
rational nicht verteidigt werden können
Kant beschäftigte sich mit der Spannung, die
durch die Aufklärung und dem Rationalismus
zwischen Wissenschaft/ Vernunft und Glauben
entstanden war. Seine Lösung für dieses
Problem bestand darin, die beiden Bereiche
zu trennen, indem er die von beiden
wahrgenommenen Funktionen eingrenzte. Die
Religion muss ihre Beschränkungen
anerkennen: Die grundlegenden Lehrsätze des
Glaubens können nicht durch die theoretische
Vernunft nachgewiesen werden. Auch die
Wissenschaft unterliegt Grenzen: Beobachter
sehen Dinge nie so, wie sie wirklich sind,
da der Geist kein bloßes Behältnis ist, das
durch äußere Sinneseindrücke geformt wird,
sondern vielmehr ein aktives Organ
darstellt, das in die Masse ungeordneter
Daten, der es sich gegenübersieht, Ordnung
bringt. Die uns bekannte Welt ist eine durch
die Befehlsgewalt der Sinneseindrücke
geschaffene Welt. Somit sollte der Exeget
die Schrift entsprechend auslegen. Kants
hermeneutischen Ansatz hat man als eine
bloße Wiederbelebung der alten allegorischen
Methode bezeichnet.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Der Einfluss der Bibelkritik
Zahlreiche kulturelle und hermeneutische
Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass
die Bibelkritik entstehen konnte.
1. Die Entwicklung neuer hermeneutischer
Methoden (die Mystik von Böhme, der
Pietismus von Spener und der von Coccejus
betonte fortschreitende Charakter der
Offenbarung) befreiten das Denken der
protestantischen Theologen aus dem engen
Korsett des Konfessionalismus und
ermöglichte ihnen, die Schrift frei von
dogmatischen Interessen zu studieren.
2. Die Entwicklung der Textkritik ebnete den
Weg zur empirischen Erforschung von Autor,
Abfassungszeit, Aufbau und Bedeutung eines
jeden biblischen Buches. Da die historische
Kritik genauere Erkenntnisse über den Urtext
geliefert hatte, lag es auf der Hand, im
Rahmen der historischen Forschung nach einem
genaueren Verständnis des biblischen Inhalts
zu suchen.
3. Zwischen 1640 und 1750 wurde die
Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen
Testament insoweit gelockert, als das Alte
Testament nicht mehr nach dem
hermeneutischen Schema ausgelegt wurde, das
man aus dem Neuen Testament hergeleitet
hatte.
4. Die Entstehung des wissenschaftlichen
Empirismus und die Unfähigkeit der
orthodoxen Theologie und Hermeneutik, den
neuen Einblicken in die allgemeine
Offenbarung Rechnung zu tragen, führte viele
biblische Exegeten zu der Meinung, dass sie
die Bibel nicht als wissenschaftlich exakt
ansehen könnten.
5. Der Anbruch des Rationalismus und die
Auswirkungen des Deismus beeinflussten das
Denken vieler Bibelausleger, sodass sie sich
mehr dem Gedanken öffneten, dass das Alte
Testament Widersprüche enthalten könne und
sogar die Schrift selbst vielleicht nicht
inspiriert sei.
6. Gelehrte begannen, Aufbau und
Verfasserschaft antiker Dokumente zu
untersuchen - angestoßen durch ein Werk, das
eine verheerende Wirkung hatte: Lorenzo
Vallas Veröffentlichung über die so genannte
»Konstantinische Schenkung« (1440). Dies
ebnete der quellenkritischen Erforschung von
Autorschaft und Aufbau der biblischen Bücher
den Weg.
All diese Faktoren führten schließlich zu
der Entwicklung der »historisch-kritischen
Methode«. Traditionelle Überzeugungen von
der Verfasserschaft und dem Aufbau der
alttestamentlichen Bücher wurden
angefochten, was die Entstehung und
Vorherrschaft der Quellenkritik zur Folge
hatte.
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HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)
Der Einfluss der Bibelkritik
Vertreter der Bibelkritik
Eine Quelle der kritischen Wissenschaft kam
unerwarteterweise aus dem katholischen
Frankreich. Es war Richard Simons
Histoire critique du Vieux Testament
(1678). Simon, ein französischer Katholik,
wurde der Vater der Bibelkritik. Simon
verwarf viele traditionelle Ansichten über
die Verfasser alttestamentlicher Bücher. Sie
seien nicht von Mose, Josua, Samuel oder
David geschrieben, sondern vielmehr von
Schreibstuben zusammengestellt worden. Simon
sagte, dass es legitim sei, die Zusätze oder
Berichtigungen, die in den ursprünglichen
Schriften eventuell vorgenommen worden sind,
zu untersuchen. Er behauptete, dass diese
Zusätze und Änderungen eine genauso große
Autorität besäßen wie die ursprüngliche Form
des Textes. Teile des Alten Testaments
enthielten chronologisch verwirrende
Sachverhalte und Fehler.
Simon glaubte, dass ein Gelehrter die
Freiheit habe, solche Fragen kritisch zu
untersuchen, solange er die Lehrautorität
der katholischen Kirche akzeptierte. Als
theologisch konservativ Eingestellter griff
Simon nicht die traditionelle
Offenbarungsauffassung an, sondern wandte
vielmehr das hermeneutische Prinzip Spinozas
in einer Reihe gelehrter Abhandlungen auf
die Schrift an. Er beanspruchte das Recht,
die Bibel so zu erforschen, wie man jedes
andere literarische Werk der antiken Welt
betrachtet. Simons Ziel bestand darin, die
Bibel im Gegensatz zu den vorgefassten
Meinungen und Voraussetzungen der Katholiken
und Protestanten möglichst objektiv zu
studieren.
Der Wechsel der Gottesnamen YHWH (Jahwe) und
Elohim war einer der Anhaltspunkte, die den
Physiker Jean Astruc 1753 dazu veranlassten,
im ersten Buch Mose zwei Hauptquellen, zwei
untergeordnete Quellen und die Spuren von
etwa zwölf anderen Dokumenten voneinander zu
unterscheiden. Obwohl viele der Hypothesen
Astrucs später aufgegeben wurden, muss man
ihn als den ansehen, der den Anstoß zur
Quellenscheidungstheorie über den Aufbau des
Pentateuchs gab.
Siehe auch:
Edwards, Jonathan .
Gordon H. Johnston
Frederic W. Farrar,
History of Interpretation (Grand Rapids:
Baker, 1961); Daniel P. Fuller,
»Interpretation, History of« in
International Standard Bible Encyclopedia
, rev. Ausg. (Grand Rapids: Eerdmans,
1982), 2,863-874; R. M. Grant und D. Tracy,
A Short History of the Interpretation of the
Bible (Philadelphia: Fortress Press,
1984), 100-109; K. Grobel, »Interpretation,
History and Principles of« in
Interpreter´s Dictionary of the Bible
(Nashville: Abingdon Press, 1962),
2,718-724; Werner G. Jeanroud, »History of
Hermeneutics« in
Anchor Bible Dictionary (New York:
Doubleday, 1992), 3,433-443; William W.
Klein, Craig L. Blomberg und Robert L.
Hubbard jun.,
Introduction to Biblical Hermeneutics
(Dallas: Word Publishing, 1993), 21-51; W.
Neil, »The Criticism and Theological Use of
the Bible, 1700-1950« in
The Cambridge History of the Bible
(Cambridge: University Press, 1970),
3,128-165; Bernard Ramm,
Protestant Biblical Interpretation
(Grand Rapids: Baker, 1979); J. W. Rogerson,
»History of Interpretation« in
Anchor Bible Dictionary (New York:
Doubleday, 1992), 3,425-433; Samuel Terrien,
»History of the Interpretation of the Bible:
The Rise of Biblical Criticism (ca.
1650-1800)« in
The Interpreter´s Bible (Nashville:
Abingdon Press, 1952), 1,127-132.
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HERMENEUTIK
rabbinisch-orthodoxe
Einige Gelehrte glauben, dass es bereits zur
Zeit des Königs Salomo verschiedene
Richtungen der jüdischen Bibelauslegung gab.
Die Sadduzäer und Pharisäer sowie ihre
unterschiedlichen Ansichten zur Schrift kann
man auf die Rivalität Abjatars und Zadoks um
das hohepriesterliche Amt zurückverfolgen.
Die beiden jüdischen Parteien und ihre
Auslegungsmethoden erlebten während der Zeit
Esras und Nehemias ihre Blütezeit. Da das
Wort
Pharisäer von »absondern« hergeleitet
ist (und somit »heiliger sein« bedeutet),
verweisen einige auf
Esr 6,21 . Dort heißt es: »... sowie
jeder, der sich von der Unreinheit der
Nationen des Landes zu ihnen [den Führern]
abgesondert hatte.«
Während der hellenistischen Zeit waren die
beiden Gruppen in politische Lager geteilt.
Die Sadduzäer verkörperten die herrschende
Priesteraristokratie, die Pharisäer dagegen
die Mittelklasse. Die Pharisäer bauten um
die biblischen Gebote viele Zäune und
förderten damit die Entstehung einer ganzen
Gelehrtenschule. Im Lauf der Zeit gewannen
die Sadduzäer an Einfluss. Sie lehnten die
göttliche Vorsehung ab und glaubten, dass
Gott auf Erden das Gute belohnt und das Böse
bestraft. Außerdem verwarfen sie ein Leben
nach dem Tod.
Obwohl die Sadduzäer eine Bewegung bildeten,
mit der man zur Zeit Christi rechnen musste,
war das Pharisäertum dominierend, wenn es um
die Auslegung des Gesetzes ging. Es ist
interessant, dass Jesus mit den Pharisäern
nicht wegen ihrer biblischen Lehren, sondern
wegen ihrer Heuchelei und Gesetzlichkeit ins
Gericht ging! Obwohl sie an einer im
Wesentlichen wörtlichen Hermeneutik
festhielten, zeichneten sich die Pharisäer
vor allem dadurch aus, dass sie an die
mündliche Tradition des Gesetzes glaubten.
Dadurch wurde eine riesige, die eigentlichen
Gesetze überlagernde Gesetzessammlung
geschaffen. Sie vertraten diese Auffassung
mit dem Hinweis auf
Neh 10,33 : »Wir wollen uns als Gebot
auferlegen ...«
Zur Zeit des Neuen Testaments gab es zwei
rivalisierende Auslegungsschulen der
damaligen gelehrten Welt. Rabbi Hillel
systematisierte das Chaos unzähliger Regeln,
die aus dem Gesetz hervorgegangen waren. Er
stellte sieben Regeln auf, wodurch der
Hauptanteil jüdischer Traditionen aus der
Schrift hergeleitet werden konnte. Obwohl
nicht beabsichtigt, öffnete dies der
übertriebenen Allegorisierung Tür und Tor.
Rabbi Schammai gründete eine Schule, die
eine engere Auslegung bevorzugte. Er
glaubte, dass die Schrift im Sinn der vollen
Rechtsverbindlichkeit und mit äußerster
Strenge ausgelegt werden müsse. In einem
damaligen jüdischen Sprichwort hieß es:
»Hillel löste, was Schammai band.«
Insgesamt gesehen, muss man die jüdischen
Rabbiner dafür loben, dass sie allein schon
mit den Buchstaben der Schrift gewissenhaft
umgingen. Tan stellt dazu fest: »Die
jüdischen Rabbiner haben die wörtliche
Methode im Grund nicht missbraucht.
Wörtliche Auslegung und kontextloses
Festhalten am Buchstaben sind zweierlei. Als
die Rabbiner auf Abwege gerieten, ging es
nicht mehr nur darum, dass sie den bloßen
Buchstaben der Schrift verwarfen ... Der
Ausleger, der mit der wörtlichen
Auslegungsmethode richtig vertraut ist, kann
in seiner Treue gegenüber der wörtlichen
Auslegung des Wortes Gottes nie konsequent
genug sein.«
Die ägyptische Stadt Alexandria brachte
fraglos jüdische Gelehrte hervor, die im
Blick darauf, wie die Griechen das Alte
Testament betrachten würden, ein feines
Gespür hatten. Ihrer Argumentation zufolge
würden die Heiden die biblischen Berichte
als zu bedenklich (Juda verführt Tamar) und
als zu grausam (Davids militärische Siege)
bezeichnen. Daher begannen die Rabbiner, die
Philosophie und die literarischen Formen des
Griechentums zu übernehmen. Die Allegorie
wurde zur verbindlichen Auslegungsmethode.
Philo (ca. 20 v. Chr. bis 50 n. Chr.) sagte,
dass der wörtliche Sinn Milch und die
allegorische Bedeutung feste Speise sei. Er
glaubte, dass hinter dem eigentlichen
biblischen Text etwas Ungewöhnliches
verborgen sei. Dies gelte, wenn »Ausdrücke
doppelt verwendet, ... bereits bekannte
Tatsachen wiederholt (werden), ... wenn
Wörter leicht geändert werden, wenn die
Ausdrucksweise ungewöhnlich ist und wenn es
Einzahl und Mehrzahl sowie bei der der Zahl-
oder Zeitform irgendwelche Abweichungen
gibt«.
Der
Talmud ist als Werk des realistischen
Rationalismus beschrieben worden. Im
Gegensatz dazu steht die
Kabbala bzw. die Menge mystischer
Literatur, die über einen langen Zeitraum
hinweg gesammelten Schriften »verborgener
Weisheit«. Zwei der am meisten geschätzten
Bücher sind das Buch der Schöpfung und das
Zohar , eine Art Lexikon okkulter
Überlieferung. Die
Kabbala sprach abergläubische Menschen
an. Die Kabbalisten waren bestrebt, eine
erneuerte Erlösungshoffnung dadurch zu
erlangen, dass sie das Leiden des jüdischen
Volkes darstellten. Sie wollten geistliche
Wahrheit so einfach erklären, dass die Juden
auf diese Weise noch mehr nach Gott suchten.
Obwohl solche Werke auf die einfachen,
ungebildeten Juden im Mittelalter einen
gewissen Einfluss hatten, hielt die
vorherrschende rabbinische Auslegung im
Wesentlichen am Wortsinn fest.
Die wörtliche Auslegung wurde durch den
Einfluss des Raschi von Troyes (1040-1105)
gestützt, der als der »Fürst unter den
Bibelauslegern« bezeichnet wird. Rabbi Mose
ben Maimon (1135-1204), jüdischer Theologe,
Philosoph und Arzt, war ein begeisterter
rationalistischer Anhänger des Aristoteles
und legte das Alte Testament frei und auch
allegorisch aus. Es war aber Raschi, der
eine eiserne Regel aufstellte: »Die Schrift
muss ihrem klaren, natürlichen Sinn
entsprechend und jedes Wort dem Kontext
gemäß ausgelegt werden. Es können jedoch
auch traditionelle Erklärungen übernommen
werden.« Bis zum Zeitalter des Rationalismus
war für die meisten rabbinischen Exegeten
eine wörtliche Hermeneutik maßgebend. Mit
Ausnahme der orthodoxen Kreise des Judentums
herrscht eine allegorische und unhistorische
Methode der Bibelauslegung vor. Der
christliche Prämillennialismus steht den im
orthodoxen Judentum immer vertretenen
Ansichten am nächsten, wenn es um das
Tausendjährige Reich und um das Kommen des
Messias geht. Strittig ist jedoch die Frage
»Und wer ist der Messias?« gewesen.
Siehe auch:
Philo Judaeus .
Mal Couch
Nathan Ausubel,
Pictorial History of the Jewish People
(New York: Crown Publishers, 1964); Michael
Avi-Yonah und Zvi Baras, Hg.,
Society and Religion in the Second Temple
Period (Jerusalem: Massada Publishing
Ltd., 1977); Frederic W. Farrar,
History of Interpretation (London:
Macmillan and Company, 1886); Raphael Patai,
The Messiah Texts (Detroit: Wayne State
University Press, 1979); E. P. Sanders,
»Judaism« in
Practice & Belief , 63 v. Chr. bis 66 n.
Chr. (Philadelphia: Trinity Press
International, 1992; Paul Lee Tan,
The Interpretation of Prophecy
(Rockville: Mass.: Assurance Publishers,
1988); C. D. Yonge, Übersetz.,
The Works of Philo (Peabody, Mass.:
Hendrickson Publishers, 1993).
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HERMENEUTIK
reformatorische
Obwohl es zahlreiche Faktoren gab, die zur
Reformation im 16. Jahrhundert führten,
stand die hermeneutische Debatte im
Mittelpunkt. Die Reformation war eine Zeit
des sozialen und kirchlichen Umbruchs, doch
vor allem eine Phase der hermeneutischen
Umwälzung. Sie leitete eine Revolution in
der Schriftauslegung ein, deren Auswirkungen
bis in die Gegenwart fortbestehen.
Diese hermeneutische Revolution war mehr als
alles andere ein Ergebnis der kulturellen
Situation des aus dem Mittelalter und der
Renaissance hervorgegangenen Abendlandes.
Während des Spätmittelalters begannen
christliche Humanisten wie Erasmus, den
Traditionalismus der erstarrten Scholastik
durch ihre neuen Erkenntnisse in Frage zu
stellen. Die Humanisten verspotteten die nur
Eingeweihten bekannte, haarspalterische,
weit hergeholte Logik der scholastischen
Theologie, die den hungrigen Seelen der
Christen keine geistliche Nahrung bot. Viele
sehnten sich offen nach dem schlichten
Glauben und der Frömmigkeit der ersten
Christen. Da die scholastische systematische
Theologie der traditionellen Orthodoxie die
intellektuellen Stützen lieferte,
betrachteten die Humanisten die
traditionelle Scholastik als Festung, die
fallen müsse.
Wachsende Unzufriedenheit mit der
allegorischen Methode entfachte ein
Verlangen nach einem besseren
Auslegungsansatz. Bereits im 15. Jahrhundert
beklagte Geiler von Kaisersberg, dass die
Schrift wegen der allegorischen Methode zu
einer »Nase aus Wachs« werde, die der Leser
bei der Auslegung biege, wie er wolle.
Vielen widerstrebte der willkürliche,
spekulative Charakter der Allegorie. Somit
war der Boden dafür bereitet, dass die
Reformatoren die Allegorie schließlich
verwarfen und die wörtliche
historisch-grammatische Methode übernahmen.
Die Renaissance begann im 14. Jahrhundert in
Italien und breitete sich bis zum 17.
Jahrhundert über ganz Europa aus. Sie hatte
direkten Einfluss auf die Reformatoren,
insbesondere auf Erasmus, Luther und Calvin.
Das Interesse an klassischen Schriften und
speziell an ihrer Historizität, darunter an
der Bibel und ihrem geschichtlichen
Hintergrund, wurde wach. In der Renaissance
kam auch ein neues Interesse am Studium der
antiken Sprachen auf, darunter des
Hebräischen und Griechischen. Dadurch
gewannen die Gelehrten neue Einblicke in die
Schrift.
Im Jahr 1506 begann der Philologe Johannes
Reuchlin, mehrere Bücher über hebräische
Grammatik als Grundlage für das moderne
Studium der hebräischen Sprache zu
veröffentlichen. 1516 redigierte und
veröffentlichte Desiderius Erasmus, der
führende Humanist der Renaissance, die erste
moderne Ausgabe des griechischen Neuen
Testaments, dem er eine neue lateinische
Übersetzung anfügte. Erasmus gab auch
Anmerkungen zu seinem griechischen Text
heraus sowie eine Paraphrase des gesamten
Neuen Testaments mit Ausnahme der
Offenbarung. Die Veröffentlichungen von
Erasmus leiteten vor allem ein neues
Zeitalter der biblischen Wissenschaft ein
und trugen wesentlich dazu bei, die
Scholastik vergangener Epochen durch bessere
Methoden zum exegetischen und theologischen
Studium zu ersetzen.
Das zunehmende Interesse an den frühen
griechischen und hebräischen Handschriften
deckte viele Übersetzungsfehler in der
lateinischen Vulgata auf. Damit wurde ihre
uneingeschränkte Autorität untergraben, die
sie als Stütze kirchlicher Lehre genossen
hatte. Die römischkatholische Kirche hatte
ihre Autorität teilweise auf die Vulgata
gegründet. Nun stellten Zweifel an der
Genauigkeit der Vulgata die Autorität der
kirchlichen Lehre in Frage. Obwohl Erasmus
nicht der Initiator der Reformation war,
ebneten seine Veröffentlichungen der von
Luther angestoßenen exegetischen und
hermeneutischen Revolution den Weg. Einer
weit verbreiteten Redensart des 16.
Jahrhunderts zufolge brütete Luther das Ei
aus, das Erasmus gelegt hatte.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Luthers Ablehnung der traditionellen
allegorischen Methode
Während seines Studiums als Mönch war Luther
(1483-1546) mit der allegorischen Methode
vertraut gemacht worden, die während des
Früh-, Hoch- und Spätmittelalters in der
Kirche eine absolute Machtposition
eingenommen hatte. Als er jedoch Vorlesungen
über den Römerbrief und die Psalmen hielt,
wuchs seine Enttäuschung über die
traditionelle allegorische Methode der
römischkatholischen Kirche. Sein Bemühen,
sich mit der Exegese des Textes auseinander
zu setzen, konfrontierte ihn mit den
Unzulänglichkeiten seines hermeneutischen
Erbes. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn
der allegorischen Methode verwirrte nur,
weil sie viele verschiedene Ergebnisse
hervorbrachte, aber keines, das angemessen
mit dem umging, was ihm im biblischen Text
begegnete. Rückblickend schrieb er: »Als ich
ein Mönch war, verstand ich mich auf
Allegorien. Ich allegorisierte alles. Doch
nachdem ich Vorlesungen über den Römerbrief
gehalten hatte, kam ich zu der Erkenntnis
Christi. Denn dort sah ich, dass Christus
keine Allegorie ist, und ich lernte kennen,
was Christus ist.« Er verwarf die
allegorische Methode mit ausdrucksstarken
Worten: »Allegorien sind leere Vermutungen
und gleichsam der Abschaum der Heiligen
Schrift.« »Man schere sich nicht so viel um
die Allegorien des Origenes.« »Ein jeder,
der Allegorie treibt, verdreht die Schrift.«
»Am Ende ist das Allegorisieren wohl nur ein
Affenspiel.« »Allegorien sind plumpe und
absurde Phantastereien, veraltete und lose
Lumpen.«
Luther gab die vierfache allegorische
Bedeutung der Schrift auf und sagte, dass
die Schrift nur eine einzige Bedeutung (
sensus unum ) habe. Dieser einzige Sinn
entspreche der historisch-grammatischen
Bedeutung: »Nur der historische Sinn gibt
die wahre und gesunde Lehre.« Diesen Sinn
finde man heraus, wenn man die normalen
Regeln der Grammatik unter Berücksichtigung
des ursprünglichen historischen
Zusammenhangs anwende.
Er hob auch den wörtlichen Sinn (
sensus literalis ) hervor. Die Schriften
sollen »wann immer möglich in ihrer
einfachsten Bedeutung beibehalten und in
ihrem grammatischen und wörtlichen Sinn
verstanden werden, wenn der Zusammenhang
dies nicht eindeutig verbietet«. Luther
sagte: »Als ich ein Mönch war, konnte ich
die Schrift meisterhaft allegorisieren,
jetzt aber verstehe ich mich aufs Beste
darauf, den wörtlichen, einfachen Sinn der
Schrift wiederzugeben, der Kraft, Leben,
Trost und Unterweisung bringt« (
Tischreden ). Seine Ablehnung der
traditionellen Allegorisierung bewirkte eine
Revolution, deren Auswirkungen rasch
ungeheuere Ausmaße annahmen.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Die grundlegende Klarheit der Schrift .
Indem er die nur Theologen bekannte Methode
der allegorischen Auslegung verwarf, wurde
die Schrift dem Denken des gewöhnlichen
Menschen zugänglich. Luther erkannte, dass
die Grundbedeutung der Schrift klar und
einfach ist. Während die Anwendung der Lehre
vom vierfachen Schriftsinn bei der
allegorischen Methode nur zu Verwirrung
führe, lasse die einfache historische
Bedeutung die Klarheit der Schrift erkennen.
Obwohl Luther nicht der Erste war, der die
Klarheit der Schrift betonte, schaffte er
den entscheidenden Durchbruch: »Es gibt auf
Erden kein Buch, das verständlicher
geschrieben ist als die Heilige Schrift«
(Auslegung zu
Ps 37 ). Zuvor wurde die generelle
Verständlichkeit der Schrift durch
Chrysostomus (»Alles, was notwendig ist, das
ist offenbar«) und Origenes (»Alle Christen
verstehen die grundlegenden Dinge«)
herausgestellt. Auch Luther sah die
Verständlichkeit der Schrift von ihren
Grundwahrheiten her. Seine Definition
lautete: »Denn was kann in der Schrift noch
Erhabeneres verborgen sein, nachdem ...
jenes höchste Geheimnis verkündigt worden
ist, dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch
geworden, dass Gott dreifältig und doch
einer sei, dass Christus für uns gelitten
hat und ewiglich regieren werde«
(Vom unfreien Willen ).
Obwohl er die Lehre von der Verständlichkeit
der Schrift verteidigte, leugnete er nicht
deren unerschöpfliche Tiefe, sondern war
vielmehr der festen Überzeugung, dass sie in
dem Maß verständlich sei, wie sie historisch
und grammatisch ausgelegt werde. Somit
sollte man das Studium der Urtextsprachen
betonen: »Wir sollen das Evangelium nicht
ohne die Sprache bewahren. Die Sprachen sind
die Scheide, in welcher das Schwert des
Geistes steckt.« Man würde Luthers Betonung
der Verständlichkeit missverstehen, wollte
man meinen, dass Gelehrsamkeit unnötig oder
unwichtig sei. Die grundlegende Klarheit der
Schrift schließt nicht aus, dass Fachleute
die historisch-grammatische Kluft
überbrücken müssen, welche die gewöhnlichen
Menschen von den Sprachen und der Kultur der
biblischen Schreiber trennt. Luther erkannte
an, dass der Humanismus der Auslegung einen
unverzichtbaren Dienst erwies. »Was mich
betrifft, so bin ich dessen gewiss, dass
ohne literarische Fertigkeiten wahre
Theologie keinen Bestand haben kann ... Ja,
ich sehe, dass uns die außerordentlichen
Erkenntnisse betreffs des Wortes Gottes
nicht zuteil geworden wären, hätte Gott
nicht zuvor den Weg bereitet durch jene -
darunter auch Täufer -, die aufs neue die
alten Sprachen und Wissenschaften
entdeckten«
(Luthers Werke ).
Luther sah auch, dass es einige Unklarheiten
in der Schrift gibt, die wissenschaftliche
Forschung erfordern: »Das allerdings gebe
ich zu, dass viele Stellen in der Schrift
dunkel und verworren sind, nicht um der
Hoheit der Dinge, sondern um unserer
Unkenntnis der Worte und der Grammatik
willen, die aber nicht die Erkenntnis aller
Dinge in der Schrift hindern können ... Die
Dinge, welche in der Schrift verkündet sind,
liegen also klar am Tage, mögen auch einige
Stellen bisher um unbekannter Worte willen
dunkel sein. Töricht aber ist es wahrlich
und gottlos, zu wissen, dass der ganze
Inhalt der Schrift im klarsten Licht liegt,
und wegen einiger dunkler Worte die
Tatsachen für dunkel zu erklären«
(Vom unfreien Willen ).
Auch leugnete er nicht die Grenzen der
Erkenntnis und Aufnahmefähigkeit des
Einzelnen. Christen würden sich in ihrem
Reifegrad voneinander unterscheiden, wobei
ein umfassendes Studium oft die Vorbedingung
für die richtige Auslegung sei. Die
Tatsache, dass Schriftstellen nicht
verstanden werden, sei oft im Denken der
Leser begründet: »Dass aber vielen vieles
dunkel bleibt, das liegt nicht an der
Dunkelheit der Schrift, sondern an der
Blindheit und Beschränktheit jener, die sich
nicht bemühen, die ganze klare Wahrheit der
Schrift zu sehen ... Es mögen also die
elenden Menschen ablassen, an der Finsternis
und der Dunkelheit ihres Herzens mit
gotteslästerlicher Verkehrtheit der völlig
klaren Schrift Gottes die Schuld zu geben«
(Vom unfreien Willen ).
Als Folge der grundlegenden Verständlichkeit
der Schrift bekräftigte er die »Analogie des
Glaubens«
(analogia scripturae ), mit deren Hilfe
man dunkle Stellen im Licht der eindeutigen
Passagen verstehen müsse: »Wenn an einer
Stelle die Worte dunkel sind, so sind sie
doch an einer anderen klar verständlich.
Dieselbe Sache aber, welche auf das
offenkundigste aller Welt vorgetragen ist,
wird in der Schrift einmal mit klaren Worten
vorgetragen, ein anderes Mal liegt sie
bisher wegen der unverständlichen Worte
verborgen«
(Vom unfreien Willen ). Er hob hervor,
dass die Schrift ihr bester Ausleger sei:
»Dies ist die wahre Methode der Auslegung:
auf rechte und angemessene Weise Schrift
neben Schrift zu stellen.« Seine Ansicht
findet sich in Augustins Standpunkt wieder:
»Dementsprechend hat der Heilige Geist mit
vortrefflicher Weisheit und Fürsorge für
unser Wohlergehen die Heiligen Schriften so
angeordnet, dass durch die verständlicheren
Stellen unser Hunger gestillt und durch die
dunkleren Stellen unser Appetit angeregt
wird. Denn in jenen dunklen Stellen wird
fast nichts ausgegraben, was man nicht in
der verständlichsten Sprache anderswo
dargelegt finden kann«
(Über die Christliche Lehre , 2.6).
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Die Erleuchtung durch den Geist .
Für Luther gab es eine unbedingt
erforderliche Verbindung zwischen Auslegung
und geistlicher Erleuchtung. »Der Gefährte,
der sich von der Heiligen Schrift nicht
trennen lässt, ist der Heilige Geist.« Er
betonte die Erleuchtung durch den Geist. Die
Ausbildung in den Sprachen und in der
Geschichte sowie eine theologische
Beweisführung reichten nicht aus. Ohne die
Belebung durch den Geist ständen dem
Ausleger nur Wörter und Phrasen zur
Verfügung. Nur durch den Geist könne man
eine von den biblischen Schreibern gewollte
Bedeutung erschließen und diese Bedeutung
als lebendige Wirklichkeit zum Ausdruck
bringen. Wer sich mit der Bibel befasse,
müsse mehr sein als ein Philologe - er müsse
durch den Heiligen Geist erleuchtet sein.
Nach Luther hat Erleuchtung sowohl objektive
als auch subjektive Gesichtspunkte. Objektiv
gesehen, hat der Geist die grundlegende
Botschaft der Schrift geoffenbart. Luther
schrieb: »Wenn Gott seine Heilige Schrift
nicht öffnet und erklärt, kann niemand sie
verstehen, sie wird ein verschlossenes Buch
bleiben, in Finsternis gehüllt.« Subjektiv
gesehen, leite die geistliche Erleuchtung
die Christen an, den Inhalt der Schrift auf
ihr Leben anzuwenden, was zu einer
»geistlichen Anwendung« führe.
Obwohl Luther die historisch-grammatische
Bedeutung des Textes betonte, veranlasste
ihn seine Ansicht von der objektiven
geistlichen Erleuchtung, einen umfassenden
Sinn
(sensus plenior) zu erkennen. Dieser
geistgegebene Sinn würde eine »neue
Auslegung« hervorbringen, die dann den neuen
wörtlichen Sinn ergäbe. Obwohl er die
verschiedenen Ebenen allegorischer Deutung
eines Origines ablehnte, stand er ihm
vielleicht näher, als ihm bewusst war.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Die christozentrische Natur der Schrift
.
Nach Luther ist die Lehre von der
Rechtfertigung durch Glauben der Schlüssel
zur Analogie des Glaubens. Diese
grundlegende biblische Botschaft erschließe
sich denen, die durch den Geist erleuchtet
seien. Die Bedeutung Christi liege darin,
dass Gott seine Gerechtigkeit den Gläubigen
zurechne. Daher bedeute die Tatsache, dass
Christus in der Bibel im Mittelpunkt stehe,
auch, dass der hermeneutische Schlüssel die
zugerechnete Gerechtigkeit Gottes sei, die
dem Gläubigen allein durch Glauben gegeben
werde.
Luthers biblische Auslegung hat ihren
Mittelpunkt in Christus. Er hob hervor, dass
die grammatisch-historische Bedeutung des
Textes nicht Selbstzweck sei. Die
geschichtliche Bedeutung jeder Stelle
bestehe vielmehr darin, uns zu Christus zu
führen. Die ganze Bibel gewinne ihre
Bedeutung dadurch, dass sie das Evangelium
Christi hervorhebe und ihm entsprechend Raum
gebe. Luther trat für eine christologische
Bedeutung der gesamten Bibel auf der
Grundlage von
Lk 24,44-46 ein.
In Anlehnung an Lefèvre d´Étaples
(1450/1455-1536), der einen zweifachen
Wortsinn (einen wörtlich-historischen und
einen wörtlich-prophetischen Sinn) vertrat,
hielt Luther an einem zweifachen
historischen Sinn fest: Es gehe um das, was
Gott in der Vergangenheit getan habe, und um
das, was Gott zukünftig tun werde. Obwohl
das christologische Verständnis des Alten
Testaments nichts Neues war, wies Luther
darauf hin, dass Christus, der Mittelpunkt
der Schrift, uns auch in der historischen
Bedeutung der alttestamentlichen Berichte
entgegentrete. Er verwies auf
Röm 10,6-8 . Dort gebraucht Paulus
5Mo 30,12 in einer vom historischen Sinn
abweichenden Bedeutung: »Paulus lehrt uns,
dass die gesamte Schrift allerorts nur mit
Christus zu tun hat, wenn man sie von innen
her betrachtet - mag sie auch so, wie sie
aussieht, durch den Gebrauch von Schatten
und Bildern einen anderen Sinn ergeben.«
Obwohl er die Allegorie verwarf, übernahm
Luther für das Alte Testament einen
typologischen Ansatz, der ihn zahlreiche
Prophetien und Vorschattungen Christi und
der Gemeinde sehen ließ. So sah er z.B.
Ps 2 typologisch: Die Könige der Erde
waren Herodes und Pilatus; »Zion, mein
heiliger Berg«, war die Gemeinde, während
der »eiserne Stab« das Evangelium
darstellte. Für Luther gab es viele
christologische Stellen im Alten Testament,
wobei er oft über das legitime Maß
hinausging. So betrachtete er beispielsweise
Noahs Arche als typologische Prophetie auf
die Gemeinde.
Seine christozentrische Hermeneutik brachte
eine neue, schlaglichtartige Darstellung der
Schrift hervor, in der das Alte Testament
eine Unterstützungsfunktion für die
neutestamentliche Lehre hatte. Die gesamte
Bibel wurde zu einem Dokument, das die
zentralen Lehren des christlichen Glaubens
bezeugte. Daher entwickelte er auch eine
starke Gesetz-Evangelium-Antithese: Das
Gesetz überführe von Sünde, während das
Evangelium Vergebung anbiete. In seiner
Heilslehre steht das Gesetz in drastischem
Gegensatz zum Evangelium und hat daher im
Leben des Christen keinerlei Bedeutung.
Seine christozentrische Hermeneutik
beeinflusste auch seine Einschätzung
biblischer Bücher. Den Teilen der Schrift,
in denen er keine christologischen Zeugnisse
- ob nun direkte prophetische oder indirekte
typologische - finden konnte, widmete er
sich kaum. Er schätzte einige Bücher höher
als andere. Mit dem Jakobusbrief und der
Offenbarung konnte er wenig anfangen: Im
Jakobusbrief vermisste er die Untermauerung
der paulinischen Lehre von der
Rechtfertigung durch Glauben und in der
Offenbarung mochte er die jüdische
Bildersprache nicht.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Die Autorität der Schrift .
Wegen der
analogia scripturae und der
historisch-grammatischen Methode brauchten
sich Bibelleser nicht mehr auf Kommentare
der Kirchenväter verlassen, um den
betreffenden Text zu verstehen. Obwohl
Luther den Nutzen der Tradition anerkannte,
verwarf er ihre Autorität: »Die Lehre der
Väter ist nur dazu nütze, uns zu den
Schriften zu führen, wie sie geführt worden
sind, und dann müssen wir an den Schriften
allein festhalten.« In diesem Sinn legte
Luther das Grundprinzip der Reformation
fest:
sola scriptura (allein die Schrift). Er
brach mit dem seit langem etablierten
Grundsatz, nach dem kirchliche Überlieferung
und ordinierte Führerpersönlichkeiten die
gleiche lehrmäßige Autorität besaßen wie die
Bibel. Weder kirchliche Tradition noch der
Papst, sondern nur die Schrift könnten für
die Christen göttliche Autorität besitzen.
Die Hermeneutik spielte bei Luthers Bruch
mit Rom und bei der Einführung der
protestantischen Reformation eine
entscheidende Rolle. Als Luther 1518 in
Augsburg Kardinal Cajetan gegenübertrat, um
mit ihm über die durch Tetzels
Ablassverkäufe ausgelöste Kontroverse zu
debattieren, entwickelte sich das
Streitgespräch schnell zu einem Wortwechsel
über die 1343 veröffentliche päpstliche
Bulle
Unigenitu s. Darin wurde die Vorstellung
von einem Schatz der Verdienste geltend
gemacht. Während Cajetan die Bulle
bekräftigte, lehnte Luther es ab - wie er
schrieb - »so viele klare Schriftbeweise
wegen eines einzigen mehrdeutigen und
verworrenen Dekrets eines Papstes zu
verwerfen, der bloß ein Mensch ist.« In
seiner Erwiderung wandte Cajetan ein, dass
irgendjemand ja die Bibel auslegen müsse und
dass der Papst auf diesem Gebiet die höchste
Stellung einnehme. Die Auslegung wurde zu
einem entscheidenden Bestandteil in Luthers
»individuellem Ringen um eine geistliche
Existenz«. Er leugnete glatt die höchste
Autorität des Papstes und ließ dann seine
hermeneutischen Anliegen zu einem zentralen
Element in dem aufgebrochenen Konflikt
werden.
In seiner Schrift
An den christlichen Adel deutscher Nation
(1520) griff er scharf die Ansicht an,
dass die Schriftauslegung dem Papst allein
zustehe. Er meinte vielmehr, dass fromme und
mündige Christen sie auslegen könnten.
Luther sagte: »Die Kirche ist eine aus dem
Wort gezeugte Tochter, [sie ist] nicht die
Mutter des Wortes.« Überdies betonte er,
dass die Aufgabe der Auslegung nie fertig
sei. Sie befinde sich in gewisser Hinsicht
im Fluss und dürfe durch die kirchliche
Autorität nicht statisch festgeschrieben
werden.
Bis zur Zeit der Reformation war die Bibel
nach dem Urteil der meisten Menschen ein im
Grunde schwer verständliches Buch. Man
konnte nicht damit rechnen, dass die
einfachen Leute sie verstanden, wobei diese
außerdem davon abgehalten wurden, sie zu
lesen. Ja, die Bibel stand nicht einmal in
einer Sprache zur Verfügung, die sie
verstehen konnten! Sie waren fast völlig auf
die autoritative Auslegung der Kirche
angewiesen. Die geniale Leistung Luthers
bestand darin, dass er sagte, die Bibel
dürfe nicht allegorisiert werden. Jede
Stelle habe nicht mehrere Bedeutungen,
sondern einen einfachen, wörtlichen Sinn. In
diesem Fall könne man alle Christen
ermutigen, die Bibel zu lesen. Die Heilige
Schrift solle in die Sprache des Volkes
übersetzt werden. Jeder Gläubige habe das
Recht, sie persönlich auszulegen. Daher
verwandte Luther ungemein viel Energie auf
sein bekanntestes Werk, die Übersetzung der
Bibel ins Deutsche.
Rom betrachtete die Bibel als so verworren,
dass sie nur vom Klerus richtig ausgelegt
werden könne, der mit Hilfe der Allegorie
dafür sorge, dass die Heilige Schrift der
kirchlichen Tradition untergeordnet bleibe.
Ebenso misstraute Erasmus der Fähigkeit des
einfachen Gläubigen, die Bibel zu verstehen.
Luther betonte jedoch, dass der gemeine
Gläubige sie verstehen könne, weil die
grundlegende Bedeutung der Schrift klar und
allen zugänglich sei. Jeder fromme Christ
könne die Bibel verstehen. Luther
befürwortete somit ihre Übersetzung in die
Sprache des Volkes und trat für das Recht
eines jeden Gläubigen ein, die Heilige
Schrift persönlich auslegen zu können.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Luther Auffassung von der Tradition
Von Luthers Leben wird häufig gesagt, dass
er darin weithin mit der Tradition brach.
Obwohl diese Feststellung im Allgemeinen
stimmt, ist sie doch übertrieben. Er trat
der Autorität der Tradition und der Kirche
entgegen, doch nur in dem Maße, wie sich
diese Autorität die Vollmacht der Schrift
anmaßte. Luther verwarf nie den Wert der
exegetischen Überlieferung der Kirche,
solange sie sich der Heiligen Schrift
unterordnete. Er gab sich keiner Illusion
hin, als ob er anderthalbtausend Jahre
exegetischer Überlieferung überspringen und
ohne jeglichen Einfluss aus der
Vergangenheit an die Bibel herangehen könne.
Ohne das Erbe der Kirche wäre er nie der
Exeget geworden, als den man ihn kennt. Es
gab ihm einen Halt, der ihm Möglichkeiten
und Veranlassungen zur Weiterentwicklung und
Veränderung bot, den er aber nie verlor.
Luther kannte den Unterschied zwischen
Dankbarkeit und Vergötterung, wenn es darum
ging, das Erbe der Kirche anzunehmen. Somit
steht er für einen Bruch mit dem Missbrauch
der Tradition, aber nicht für eine völlige
Aufgabe der Überlieferung.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Martin Luther
Luthers überraschender Gebrauch der
Allegorie
Man könnte denken, dass Luther die
grundsätzliche Spannung im Verhältnis
zwischen wörtlicher und allegorischer
Auslegung auflöste. Dies ist aber nicht der
Fall. Obwohl er die historisch-grammatische
Auslegungsmethode befürwortete und die
Autorität traditioneller Allegorie verwarf,
stellt man seine Haltung falsch dar, wenn
man sagt, dass er sich nie auf allegorische
Auslegungen einließ. Es gibt Abschnitte in
seinen Kommentaren, die in dieser Hinsicht
überraschend mittelalterlich geprägt sind.
Er schöpfte oft aus dem Bestand an
Allegorien der Kirchenväter und bewies viel
Phantasie dabei, seine eigenen zu ersinnen.
Auf der Grundlage von
Gal 4,21-31 erkannte Luther an, dass
Allegorien als »Bilder« und »hübsche
Ausschmückungen« gebraucht werden können.
Doch im Gegensatz zu Origenes und den
traditionellen Allegorikern vertrat er die
Historizität der entsprechenden Berichte und
die historisch-grammatische Bedeutung als
Hauptsinn.
Mitten in seinen
Genesisvorlesungen (1535-1545) fügt er
in Kapitel 9 einen Exkurs über Allegorien
und deren Verwendung in seinen Schriften
ein. Er sagt, dass er als Mönch durch die
Kirchenväter (Origenes, Hieronymus und
Augustin) zu allegorischen Auslegungen
gekommen ist. Als er jedoch feststellte,
dass sie »nichtige Schatten« sind, begann
er, sie zu verabscheuen. Er sagte, dass die
Münsteraner und die Wiedertäufer Unrecht
hätten, wenn sie alles allegorisierten.
Allegorien seien jedoch erlaubt, wenn man
die Analogie des Glaubens beachte und somit
die Allegorie auf Christus hinweise. Einige
der Kirchenväter hätten diese Analogie
ausgelassen und daher Allegorien erhalten,
die nicht auf Christus verwiesen. Wer
beispielsweise behaupte, dass Sonne und Mond
in
1Mo 1 auf die päpstliche
Vormachtstellung hinweise, lasse nichts als
tollkühne Vermessenheit und ehrgeizige Ziele
erkennen. Er pflichtet jedoch denen bei, die
in Noahs Arche eine Christusallegorie sehen
und stimmt der Beobachtung zu, dass die
Proportionen der Arche denen des
menschlichen Leibes Christi ähneln, nämlich
sechsmal so lang wie breit..
An anderer Stelle stellt er klar, dass die
wörtliche historisch-grammatische Bedeutung
vorrangig sei, der allegorische Sinn aber
als Veranschaulichung verwendet werden
könne, wenn er auf der entsprechenden
christozentrischen Analogie des Glaubens
beruhe: »Ich habe oft gesagt, was die
Theologie war, als ich ein derartiges
Studium begann. Man pflegte zu sagen: »Der
Buchstabe tötet.« Daher missfiel mir Lyra
(Nikolaus von Lyra, 1270/75-1349)
zuallermeist, weil er dem Wortsinn so eifrig
folgte. Doch nun, da ich ebendiese Sache so
schätze, ziehe ich ihn fast allen Auslegern
der Schrift vor. Und ich ermahne euch auf
das Ernstlichste: Seid sehr sorgfältig bei
der Beurteilung historischer Fragen! Wenn
ihr aber jemals Allegorie treiben wollt,
dann tut es als jene, die auf die Analogie
des Glaubens achtgeben, das ist, sie auf
Christus, die Gemeinde, den Glauben und den
Dienst des Wortes hin zu finden.«
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HERMENEUTIK
reformatorische
Johannes Calvin
Neben Luther war Calvin die Gestalt, die an
der Spitze der hermeneutischen Revolution
stand. Obwohl viele Menschen Calvin
(1509-1564) nur von seinem Werk
Unterricht in der christlichen Religion
her kennen, war er zuallererst Exeget und
erst an zweiter Stelle Theologe. Er war ein
eifriger Ausleger und ein produktiver Autor,
der zu fast jedem neutestamentlichen Buch
(außer dem 2. und 3. Johannesbrief und der
Offenbarung) und zu vielen
alttestamentlichen Büchern Kommentare
schrieb.
Wie Luther sagte Calvin, dass die Schrift
die einzige, letzte Autorität der Kirche ist
(sola scriptura ) und dass die Schrift
die Schrift auslegt
(analogia scripturae ). Er betonte die
wörtliche historisch-grammatische
Auslegungsmethode, die christozentrische
Natur der Schrift, die Erleuchtung durch den
Heiligen Geist und ein ausgewogenes
Herangehen an die Typologie. Er meinte auch,
dass ein Ausleger darauf achten müsse, dass
die Auslegung nicht durch persönliche
Vorlieben verfälscht wird. In seiner Vorrede
zu seinem Römerbriefkommentar schrieb
Calvin: »Es ist die erste Aufgabe des
Auslegers, den Autor das sagen zu lassen,
was er mitteilen will, statt ihm etwas
zuzuschreiben, was er seiner Meinung nach
sagen sollte.«
Calvin betonte, dass die Bedeutung der
Schrift klar sei. Damit meinte er, dass »der
wahre Schriftsinn der natürlichen und
offenkundigen Bedeutung entspricht«. Das
Ziel der Auslegung bestehe darin, die vom
menschlichen Schreiber beabsichtigte
Bedeutung zu bestimmen, die man anhand des
literarischen und historischen Kontexts
eindeutig ermitteln könne. Calvins
exegetische Prinzipien waren vor allem:
klar, kurz und einfach
(brevitas et facilitas )! Nach Calvin
sind die Schriften prinzipiell verständlich:
»Die Schrift legt so klar von ihrer Wahrheit
Zeugnis ab wie weiße und schwarze Dinge von
ihrer Farbe.«
Wie Luther trat er leidenschaftlich für den
sensus literalis ein. Und er war bei der
Umsetzung dieses Anliegens in die Praxis
noch erfolgreicher. Seine Kommentare sind
außerordentliche Zeugnisse einer soliden,
historischen Exegese in einer Zeit, als die
vorherrschende Methode von anderen
Interessen bestimmt war.
Wie Luther verwarf Calvin allegorische
Auslegungen und hob die wörtliche
historisch-grammatische Exegese hervor. Er
sagte, dass Allegorien »leichtfertige
Spielereien« seien. Origenes und viele
andere seien schuldig geworden, »indem sie
die Schrift auf jede erdenkliche Weise ihres
wahren Sinnes beraubt haben«. Nach der
Auffassung Calvins sagt der paulinische
Hinweis auf Abraham und Hagar in
Gal 4,21-31 nicht, dass es bei der
Niederschrift Moses Absicht gewesen sei,
biblische Geschichte in Allegorie
umzuwandeln.
Calvin war in seiner Ablehnung der Allegorie
konsequenter als Luther, der sich von Zeit
zu Zeit weiterhin gewisse Allegorien
leistete. Calvin - hier war er mit Theodor
von Mopsuestia geistig sehr verwandt -
zögerte sehr, direkte (selbst typologische)
Hinweise auf Christus im Alten Testament zu
benennen, wenn das Neue Testament deren
Gebrauch nicht speziell rechtfertigt oder im
Kontext der Stelle klar darauf hingedeutet
wird. Calvin vermied im Gegensatz zu Luther
sogar die allegorische Auslegung zur
Veranschaulichung oder zur Ausschmückung. An
einer Stelle bemerkt er jedoch, dass Gottes
Abrahamsverheißung nach den Worten des
Paulus »für Abrahams leibliche Nachkommen
erfüllt werden soll - nicht nur in
allegorischer, sondern auch in wörtlicher
Hinsicht«
(Unterricht in der christlichen Religion
).
Obwohl Calvin die objektive Exegese betonte,
ließ er auch ein subjektives Element in der
Auslegung gelten - »das innere Zeugnis des
Heiligen Geistes«. Während Luther glaubte,
dass der Geist bei der Auslegung eine
wichtige Rolle spiele, lehrte Calvin, dass
das Zeugnis des Geistes nicht dazu diene,
beim Auslegungsprozess Licht zu geben.
Vielmehr wolle er im Herzen des Christen
bestätigen, dass eine bestimmte Auslegung
richtig sei. Er schrieb: »Das Zeugnis des
Geistes ist vortrefflicher als alle
Vernunft. Denn so wie Gott allein in seinem
Wort ein rechter Zeuge seiner selbst ist,
wird auch das Wort in den Herzen der
Menschen nicht angenommen werden, bevor es
durch das innere Zeugnis des Heiligen
Geistes bestätigt wird. Der gleiche Geist,
der durch den Mund der Propheten geredet
hat, muss daher in unsere Herzen eindringen,
um uns zu überzeugen, dass die Propheten
treu verkündigt haben, wozu ihnen Gott den
Auftrag gegeben hatte«
(Unterricht in der christlichen Religion
). Wiederum stellte er fest: »Selbst wenn
dem Wort wegen der ihm eigenen Hoheit
Ehrerbietung entgegengebracht wird, berührt
es uns nur, wenn es durch den Geist in
unseren Herzen bestätigt wird. Daher glauben
wir, durch seine Kraft erleuchtet, weder aus
uns selbst heraus noch aufgrund des Urteils
irgendeines Menschen, dass die Schrift von
Gott ist. Und über jedes menschliche Urteil
erhaben, versichern wir mit größter
Gewissheit ... dass die Schrift durch den
Dienst von Menschen aus dem Mund Gottes
geradewegs zu uns gekommen ist«
(Unterricht in der christlichen Religion
). Auch betonte Calvin, dass die Fähigkeit,
die grundlegende Botschaft der Schrift zu
verstehen, eine Gabe sei, die der Geist den
Erwählten habe zuteil werden lassen: »Wann
immer wir durch einen Mangel in den
Gläubigen betrübt werden ... sollten wir
daran denken, dass niemand irgendeine
Einsicht in die Geheimnisse Gottes hat außer
denjenigen, denen sie geschenkt wurde«
(Unterricht in der christlichen Religion
).
Calvins Lehre von der Analogie des Glaubens
konzentrierte sich auf die Souveränität
Gottes und die Prädestination
(Vorherbestimmung) sowie auf die Errettung
durch Glauben an Christus. Luther bestand
allzu oft darauf, christologische
Bedeutungen in Texten zu finden, deren
historisch-grammatische Exegese dies nicht
hergab. Anders Calvin: Er argumentierte,
dass die Analogie des Glaubens das Ziel
nicht verdunkeln solle, das darin bestehe,
die vom Autor ursprünglich beabsichtigte
Bedeutung klar zu verstehen.
Ein Beispiel dafür, wie Calvin die Analogie
des Glaubens gebrauchte, kann man in seinem
Versuch erkennen, den für ihn von vornherein
klaren Konflikt zwischen Errettung aus Gnade
und dem durch Werke erworbenen Erbe in
Mt 25,31-46 zu lösen. Calvin stützt sich
auf
Eph 1,18 und
Galater 4,7 bei dem Vorhaben, die
Verheißung auszulegen, dass diejenigen, die
gute Werke vollbringen, das ewige Leben
erben: »Selbst an jenen Stellen, wo der
Heilige Geist ewige Herrlichkeit als
Belohnung für Werke verheißt, zeigt er
dadurch, dass er diese Herrlichkeit
ausdrücklich als »Erbe« bezeichnet, dass sie
ihren Ursprung nicht in Werken hat, wenn sie
uns zuteil wird«
(Unterricht in der christlichen Religion
).
Calvin betonte den fortschreitenden
Charakter biblischer Offenbarung im gesamten
Verlauf der Heilsgeschichte. Gott führte
eine Ordnung, eine zeitliche Abfolge ein,
als er seinen Gnadenbund gab, und
dementsprechend gewährte er weitere
Offenbarungen »von einem Tag zum anderen«.
Die Verheißung an Adam (
1Mo 3,15 ) war ein Fünkchen. Im Laufe
der Zeit wurde das Licht immer heller bis
zum Kommen Christi, der die ganze Welt
erleuchtete
(Unterricht in der christlichen Religion
).
Nach Calvin wurde die Einheit zwischen dem
Alten und Neuen Testament durch eine
typologische Auslegung des Alten Testaments
offenbart. Das Land Kanaan sei
beispielsweise ein Typus für das ewige Erbe
(Unterricht in der christlichen Religion
). Abgesehen von seiner christologischen
Typologie der alttestamentlichen Berichte
und seiner kultischen Rituale vermied Calvin
übertragene Bedeutungen.
Wie Theodor von Mopsuestia sah Calvin viele
messianische Hinweise in den Psalmen als
Typologien und nicht als direkte Voraussagen
an, die - so meinte er - den offenkundigen
historischen Kontext ignorierten, wie z. B.
in
Ps 2,7 (»Mein Sohn bist du,
ich habe dich heute gezeugt«). Während
die kirchliche Tradition diese Stelle als
unmittelbare Christusprophetie auslegte,
bevorzugte Calvin die historische Deutung
als Hinweis auf Davids Krönung und darauf,
dass er zum königlichen »Sohn« Gottes im
politischen Sinne ernannt wurde.
Obwohl Calvin als Schriftausleger im 16.
Jahrhundert einzig war, bildete er sich
nicht ein, dass er auf den Reichtum 1500-
jähriger Auslegung der Bibel verzichten
könne oder dass er vom Einfluss der
Vergangenheit frei sei. Tatsächlich widmete
sich Calvin intensiv den Werken der
wichtigsten Theologen der Kirche, weshalb es
in
Unterricht in der christlichen Religion
zahlreiche Hinweise auf die Kirchenväter
gibt (z.B. auf Augustin, Ambrosius, Cyprian
und Theodoret). Calvin glaubte, dass er -
wenn möglich - am Werk früherer Exegeten
festhalten sollte. Er fühlte sich der
exegetischen Tradition der Kirche - vor
allem den frühkirchlichen und insbesondere
den augustinischen Werken - verpflichtet,
denen er viel verdankte. Er war nicht
bereit, den Auslegungskonsens aufzugeben;
doch dort, wo die römisch-katho-lische
Kirche die Tradition missbrauchte und den
klaren Sinn der Schrift nicht anerkennen
wollte, ging er eigene Wege.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Andere reformatorische Gelehrte
Philipp Melanchthon (1497-1560), Luthers
Mitarbeiter, war ein guter Kenner des
Hebräischen und Griechischen, so dass er
eine führende Rolle in der biblischen
Exegese seiner Zeit einnehmen konnte. Obwohl
er manchmal in Allegorien abglitt, hielt er
sich im Allgemeinen an die
historisch-grammatische Methode.
Während Calvin an der Spitze der Reformation
in Genf stand, war Ulrich Zwingli
(1484-1531) der Führer der Reformation in
Zürich. Zwingli brach mit der
römisch-katholischen Kirche wegen der Frage
ihrer Autorität. Darüber schrieb er: »Alle,
die sagen, dass das Evangelium ohne die
Billigung der Kirche nichts ist, irren und
schmähen Gott.« Zwingli vertrat die
kontextbezogene Auslegung. Wer eine Stelle
aus ihrem Zusammenhang reißt, »ist wie
einer, der eine Blume entwurzelt«. Zwinglis
Auffassung von der geistlichen Erleuchtung
ähnelte der Calvins: »Gewissheit kommt aus
der Macht und Klarheit des schöpferischen
Wirkens Gottes und des Heiligen Geistes.«
William Tyndale (1491/94-1536) ist am
meisten wegen seiner 1525 erschienenen
Übersetzung des Neuen Testaments ins
Englische bekannt. Wie die anderen
Reformatoren betonte Tyndale die wörtliche
Bedeutung der Schrift: »Die Schrift hat eine
Bedeutung, nämlich den wörtlichen Sinn.«
Tyndale erklärte, dass die Auslegung von
sprachlichen Bildern in den Bereich der
wörtlichen Deutung falle.
Während des 16. Jahrhunderts gab es viele
Gelehrte, welche die historisch-grammatische
Methode übernahmen und zahlreiche Kommentare
veröffentlichten. Dabei lobte Calvin
überschwänglich die von Melanchthon, Bucer,
Zwingli, Oekolampad und Bullinger verfassten
Werke.
Zürich erlebte 1525 die Anfänge der
Wiedertäuferbewegung. Anhänger Zwinglis
waren der Meinung, dass er in Fragen der
staatlichen Kontrolle über die Kirche und
der Kindertaufe mit dem Katholizismus nicht
völlig brach. Sie glaubten, dass ein Mensch,
der als Kleinkind durch die reformierte
(zwinglianische) Kirche getauft worden war
und sich dann als Erwachsener zu Christus
bekannte, erneut getauft werden solle. Die
Wiedertäufer hoben die Fähigkeit des
Einzelnen hervor, die Schrift mit Hilfe des
Geistes auslegen zu können. Sie ließen sich
jedoch auf zahlreiche Allegorien ein, was
Luther brandmarkte. Die Begründer der
Wiedertäuferbewegung waren Konrad Grebel,
Felix Manz und Georg Blaurock. Zu anderen
führenden Täufern gehörten Balthasar
Hubmaier, Michael Sattler, Pilgram Marbeck
und Menno Simons.
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HERMENEUTIK
reformatorische
Die Gegenreformation: Das Konzil von Trient
Als Reaktion auf die protestantische
Reformation berief die römisch-katholische
Kirche das Konzil von Trient (1545-1563)
ein, das sieben Mal zusammenkam. Es verwarf
die griechische Übersetzung von Erasmus und
bestätigte die Authentizität der Vulgata. Es
bekräftigte die römisch-katholische
Position, dass die Bibel nicht die höchste
Autorität sei. Vielmehr finde sich die
Wahrheit »in geschriebenen Büchern und
ungeschriebenen Überlieferungen«, wie sie
von den Kirchenvätern der Vergangenheit und
geistlichen Führern der Gegenwart gelehrt
werde. Das Konzil bekräftigte auch die
römisch-katholische Auslegungstradition und
verbot jedem, die Schrift nach einer Methode
auszulegen, die nicht mit der kirchlichen
Lehre in Einklang stand. Exakte Auslegung
sei nur durch die römisch-katholische
Kirche, die Spenderin und Beschützerin der
Bibel, und nicht durch Einzelne möglich. Das
Konzil stellte fest: »Niemand erdreiste
sich, in Fragen des Glaubens und der Worte,
welche die Erbauung christlicher Lehre
betreffen, die Schrift von sich aus
auszulegen. Dabei ist es gleichgültig, ob
dadurch Übereinstimmung mit dem Sinn
erreicht wird, den die heilige Mutter Kirche
... festgehalten hat und festhält, oder ob
sogar dem einmütigen Zeugnis der
Kirchenväter widersprochen wird. Er stützt
sich ja doch nur auf seine eigenen
Fähigkeiten und verfälscht die heiligen
Schriften nach eigenem Gutdünken.« Indem die
römisch-katholische Kirche auf die
Reformation negativ reagierte, wurde sie
beim Festhalten an der Vorrangstellung
kirchlicher Überlieferung noch
kompromissloser. Auf der vierten Sitzung des
Konzils von Trient (8. April 1546) wurde
verfügt: »Niemand erdreiste sich, die
besagte heilige Schrift im Gegensatz zu dem
Sinn, den die heilige Mutter Kirche
festgehalten hat und festhält, auszulegen.«
Die Protestanten antworteten mit in einer
Fülle literarischer Werke im 17. und 18.
Jahrhundert, wobei die Gegensätzlichkeit
beider Seiten immer deutlicher hervortrat.
Somit gingen aus den bedeutungsvollen
Ereignissen des 16. Jahrhunderts zwei
verschiedene Richtungen biblischer
Auslegung, eine protestantische und eine
katholische, hervor. Obwohl seitdem vier
Jahrhunderte vergangen sind, bleiben die
beiden Ansätze weiterhin unvereinbar.
Siehe auch:
Hermeneutik, nachreformatorische .
Gordon H. Johnston
Roland H. Bainton, »The Bible in the
Reformation« in
The Cambridge History of the Bible
(Cambridge: University Press, 1970), 3,1-37;
O. Chadwick,
The Reformation (Baltimore: Penguin
Books, 1972); Frederic W. Farrar,
History of Interpretation (Grand Rapids:
Baker, 1961); Daniel P. Fuller,
»Interpretation, History of« in
International Standard Bible Encyclopedia
, rev. Ausg. (Grand Rapids: Eerdmans,
1982), 2,863-874; Richard C. Gamble,
»Brevitas et facilitas: Toward an
Understanding of Calvin´s Hermeneutic« in
WJT , 47, 1-17 (1985); R. M. Grant und
D. Tracy,
A Short History of the Interpretation of the
Bible (Philadelphia: Fortress Press,
1984), 93-104; K. Grobel, »Interpretation,
History and Principles of« in
Interpreter´s Dictionary of the Bible
(Nashville: Abingdon Press, 1962),
2,718-724; C. M. Jacobs, Übersetz.,
Works of Martin Luther (Philadelphia:
Muhlenberg Press, 1932); Hans-Joachim Kraus,
»Calvin´s Exegetical Principles« in
Interpretation , 31,8-18 (1977); K. S.
Latourette,
A History of Christianity (New York:
Harper & Row, 1953); John T. McNeill,
»History of the Interpretation of the Bible:
The Reformation Period« in
The Interpreter´s Bible (Nashville:
Abingdon Press, 1952), 1,123-126; Jaroslav
Pelikan,
Luther the Expositor: Introduction to the
Reformer´s Exegetical Writings (St.
Louis: Concordia, 1959),
Reformation of Church and Dogma (1300-1700),
The Christian Tradition (Chicago:
University of Chicago Press, 1984); und
Luthers Works (St. Louis: Concordia,
1958-1986); Bernard Ramm,
Protestant Biblical Interpretation
(Grand Rapids: Baker, 1979); N. Sykes, »The
Religion of the Protestants« in
The Cambridge History of the Bible
(Cam-bridge: University Press, 1970),
3,175-176; John R. Walchenbach, »John Calvin
as Biblical Commentator: An Investigation
into Calvin´s Use of John Chrysostom as an
Exegetical Source« (Dissertation, University
of Pittsburgh, 1974; A. Skevington Wood,
Luther´s Principles of Biblical
Interpretation (London: Tyndale, 1960).
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