POSTMILLENNIALISMUS
Postmillennialismus ist vereinfacht
eine eschatologische Lehre, die besagt, dass
die Rückkehr Christi auf die Erde am Ende
des Tausendjährigen Reiches stattfindet.
Der zeitgenössische Rekonstruktionist und
Postmillennialist Kenneth L. Gentry nennt
folgende sieben Charakteristika des
evangelikalen Postmillennialismus:
1. Der Postmillennialismus »begreift das
messianische Reich so, dass es durch den
irdischen Dienst und durch das Erlösungswerk
des Herrn Jesus Christus auf der Erde
begründet wurde ... die Gemeinde wird das
umgestaltete Israel.«
2. »Die grundlegende Natur dieses Reiches
ist im Kern erlösend und geistlich ...
Christus regiert sein Reich geistlich in
seinem und durch sein Volk in der Welt
(Stellvertretung) ebenso wie durch seine
universelle Vorsehung.«
3. »Das Reich Christi übt in der
Weltgeschichte dadurch einen umgestaltenden
soziokulturellen Einfluss aus, dass sich
mehr und mehr Menschen zu Christus
bekehren.«
4. »Der Postmillennialismus erwartet so die
allmähliche wachsende Ausdehnung des Reiches
Christi mit der Zeit und auf der Erde ...
Christi persönliche Anwesenheit auf der Erde
ist für die Expansion seines Reiches nicht
erforderlich.«
5. »Der Postmillennialismus sagt
zuversichtlich eine Zeit in der
Weltgeschichte (über die Gegenwart hinaus)
voraus, zu dem das bereits in der Welt
wirksame Evangelium durch die Erfüllung des
großen Missionsauftrages den weltweiten Sieg
errungen hat ... Zu dieser Zeit wird die
überwältigende Mehrheit der Menschen und
Nationen christianisiert sein, die
Gerechtigkeit wird hervortreten, Kriege
werden aufhören und Wohlstand und Sicherheit
werden erblühen.«
6. Es gibt »heute zwei Typen des
Postmillennialismus: der pietistische und
der gottesgesetzliche Postmillennialismus
... Der pietistische Postmillennialismus ...
verneint, was der gottesgesetzliche bejaht:
dass der postmillenniale Fortschritt des
Reiches die völlige Umgestaltung der Kultur
durch die Anwendung des biblischen Gesetzes
einschließt.«
7. »Möglicherweise »dürfen wir ein großes
goldenes Zeitalter geistlicher Blüte
erwarten, das für Jahrhunderte, vielleicht
sogar Jahrtausende anhält« ... Nach diesem
... wird die irdische Geschichte mit der
persönlichen, sichtbaren, körperlichen
Rückkehr Jesu Christi zu einem Ende kommen
(begleitet von einer buchstäblichen
Auferstehung und einem allgemeinen Gericht),
um seine vollendete ewige Form des Reiches
einzuführen.«
Während viele Vertreter des
Postmillennialismus diese Haltung einnehmen,
muss doch eine Unterscheidung getroffen
werden. Zu unterscheiden ist zwischen
Liberalen, die eine Art humanistischen
Postmillennialismus befürworten
(beispielsweise soziales Evangelium), und
dem evangelikalen Postmillennialismus, der
den Reichsfortschritt aufgrund der Predigt
des Evangeliums durch die Gemeinde und
aufgrund der Anwendung des mosaischen
Gesetzes befürwortet. Beide beharren auf
einem Evangelium, das mit sozialem Wandel
als Mittler des Wandels und des Fortschritts
kombiniert wird. Daher glauben evangelikale
Postmillennialisten in gewissem Sinn, dass
viele Postmillennialisten des 19.
Jahrhunderts mit der Annahme des
humanistischen Liberalismus in die Irre
gingen und dass sie stattdessen auf einen
traditionelleren, konservativen Weg hätten
vertrauen sollen.
Der historische Aufstieg des
Postmillennialismus und seine Entwicklung
sind Gegenstand mancher Auseinandersetzung
gewesen, teilweise wegen gewisser
Ähnlichkeiten mit dem Amillennialismus. So
könnten beispielsweise Amillennialismus und
Postmillennialismus Gentrys Punkte 1, 2 und
4 gemeinsam für sich in Anspruch nehmen.
Durch diese Ähnlichkeiten ist
Amillennialismus und Postmillennialismus
manchmal verwechselt worden. Diese
Ähnlichkeiten könnten zeitweise auch eine
klare Unterscheidung der beiden Richtungen
in der Geschichte erschweren. Kennzeichnend
sind jedoch die Unterschiede und nicht die
Ähnlichkeiten. Beide sind eindeutig
antiprämillennialistisch.
Wahrscheinlich hat Daniel Whitby (1638-1725)
einen systematischen Postmillennialismus als
eine eigentümliche Form des Millenialismus
entwickelt. Das soll nicht heißen, dass es
vor Whitby keine Elemente eines
systematischen Postmillennialismus gegeben
habe, denn die gab es ganz sicher.
Jedenfalls scheint sich die Reife des
Postmillennialismus zu einem neuen System in
der nachreformatorischen Zeit entwickelt zu
haben, in gewissem Sinn als eine
optimistische Form des Amillennialismus.
Daher ist seine Entwicklung vom
Amillennialismus abhängig.
Nur eine Handvoll im Untergrundkampf geübter
Polemiker würde den Versuch wagen zu
behaupten, es habe einen nachapostolischen
Postmillennialismus gegeben. »Alle scheinen
darin übereinzustimmen, dass der
Postmillennialismus der apostolischen
Gemeinde völlig fremd ist. Es gibt keine
Spur irgendeiner Strömung in der Gemeinde
der ersten zwei oder drei Jahrhunderte, die
als postmillennialistisch identifiziert
werden könnte.«
Der Aufstieg der symbolischen Auslegung und
Augustinus��� Theorie des Tausendjährigen
Reiches zwischen dem ersten und zweiten
Kommen Christi legten den Grund für eine
spätere Entwicklung des Postmillennialismus.
Augustinus »glaubte, dass das Zeitalter
zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen
Christi das Tausendjährige Reich sei, von
dem die Heilige Schrift spricht, und dass
das zweite Kommen am Ende dieses Reiches
stattfindet. Das ist definitiv ein
postmillennialistischer Gesichtspunkt, da
das zweite Kommen Christi hier an das Ende
des Tausendjährigen Reiches verschoben
wird.« Allerdings ist es gleichzeitig auch
ein amillennialistischer Gesichtspunkt.
Augustinus und seine Eschatologie ist am
ehesten als amillennialistisch zu
bezeichnen, weil ihm der Optimismus fehlt,
der für eine wirklich postmillennialistische
Sichtweise erforderlich ist.
Eine weitere Entwicklung, die dazu beitrug,
einen systematischen Postmillennialismus zu
entwickeln, war der Aufstieg des
Christentums und die Fusion von Kirche und
Staat durch Kaiser Konstantins Deklaration,
dass das Christentum hinfort im Römischen
Reich toleriert werden sollte (313 n.Chr.).
Es wird geschätzt, dass vor Konstantin nur
acht bis zehn Prozent der Bevölkerung des
Kaiserreiches Christen waren. Als das vierte
Jahrhundert zu Ende ging, bezeichneten sich
allerdings praktisch alle Bürger des Reiches
als Christen. Diese Entwicklung führte zu
einer Form der Siegesgewissheit und des
Optimismus über die Ausbreitung des
Christentums und seine Fähigkeit, auch ein
feindseliges Staatswesen wie das zuvor
gottlose Römische Reich zu überwinden. Der
Optimismus wurde allerdings durch den
Aufstieg des militanten Islam in
Vorderasien, Nordafrika und Spanien im 7./8.
Jahrhundert später abgeschwächt.
Joachim von Fiores Aufstieg und Prominenz im
zwölften Jahrhundert war gewiss ein
Gipfelpunkt in der Entwicklung der
Eschatologie. Er legte nicht nur den Grund
für die historizistische Auslegung der
prophetischen Literatur. Sein Optimismus
wird von einigen als Beitrag zur Entwicklung
des Postmillennialismus verstanden. Ob man
ihn nun als einen eindeutigen
Postmillennialisten klassifiziert oder
nicht, ganz sicher trug er zu einer
optimistischen Sicht der Geschichte bei. E.
Randolph Daniel stellt fest: »Das zwölfte
Jahrhundert zeigte sich optimistisch über
die Geschichte und über die Zukunft. Die
gregorianischen Reformer glaubten gewiss,
dass sie die Kirche auf der Erde in
dramatischem Ausmaß reformieren und reinigen
könnten. Joachim, dessen Sympathien
eindeutig dem Gregorianismus galten,
glaubte, dass sich die Geschichte zum
Heiligen Geist hin entfalte ... Wenn die
Kirche eine historische Ära des Friedens und
des geistlichen Wachstums erlebe, dann würde
das alles in der Vergangenheit Erreichte
weit überbieten.«
Obgleich Joachim dazu beitrug, den Weg für
eine spätere Entwicklung des
Postmillennialismus zu bereiten, sollte er
besser doch nicht als Millennialist
betrachtet werden.
Joachims dritter
Status ist oft als chiliastisch oder
millennialistisch beschrieben worden, was
voraussetzt, dass ein neuer Anfang gesetzt
wird, das Hervorbrechen einer geistlichen
Gemeinde, die die heruntergekommene
klerikale Kirche ablösen könnte. Gewiss ist
das in
Offb 20 beschriebene Tausendjährige
Reich ein Neubeginn, aber Joachims Status
ist nicht in diesem Sinne millennialistisch
... Joachims Denken ist evolutionär, nicht
revolutionär. Er war ein Reformer, kein
Millennialist.
Joachim half, den Weg des
Postmillennialismus zu bereiten, indem er
den Gedanken des Optimismus beisteuerte, der
anhaltend den Verlauf des gegenwärtigen
Zeitalters begleiten sollte. Seine Ansicht,
dass es ein Zeitalter des Heiligen Geistes
sei, wurde später von vielen geteilt.
Die Reformation entsprang einer Haltung des
Pessimismus und der Hoffnungslosigkeit
gegenüber der Staatskirchlichen und
politischen Entwicklung. Marjorie Reeves
merkt dazu an: »E. L. Tuveson hat behauptet,
dass die klassische Haltung der
protestantischen Reformatoren im Hinblick
auf die Geschichte pessimistisch war: Alles
verfiel dem Niedergang; Verfall ist eine
grundlegende Tatsache der Geschichte.« Robin
Barnes sagt: »In den Augen vieler Lutheraner
im späten 16. Jahrhundert schien die ganze
soziale Ordnung aus den Fugen zu gehen.«
Johannes Calvin, der nicht die Tiefen von
Luthers Verzweiflung erreichte, kann nicht
für den Postmillennialismus in Anspruch
genommen werden, wie es manche getan haben,
nur weil er sich verschiedentlich
optimistisch äußerte. Solche Äußerungen
bedürfen des Optimismus vor dem Hintergrund
einer postmillennialistischen Überzeugung.
Calvin äußerte sich aber auch pessimistisch:
»Es gibt daher keinen Grund, weshalb
irgendjemand schließlich die geistige
Wandlung der Welt erwarten sollte - wenn es
zu spät sein wird, dann wird es ihnen nichts
einbringen.« Nichtsdestoweniger »ließ die
Andeutung von Progressivismus
(Fortschrittsgläubigkeit) in Calvins Denken
den Weg offen für Meliorismus (Lehre eines
stetigen Besserwerdens der Welt- und
Lebenszustände) und Chiliasmus vieler
späterer calvinisti-scher Denker -
ungeachtet seiner augusti-nischen Vermeidung
einer historisch orien-tierten Eschatologie.
Es blieb der nachreformatorischen Ära
überlassen, Entwicklungen der Art
hervorzubringen, die man mit Recht als
Postmillennialismus bezeichnen könnte.
Joachims Fortschrittsgedanke wurde
umgestaltet zu einer »neuen Auslegung der
Apokalypse und der eschatologischen Muster,
die ein großes Ereignis der Umgestaltung
eher erwarten ließen als den unvermeidlichen
Verfall.« Der Postmillennialismus kam im 17.
Jahrhundert in die Blüte, als der »Gedanke,
dass in den erregenden Hinweisen auf all die
neuen Offenbarungen des Zeitalters - die
neuen Gebiete, das neue Lernen, die neuen
Bücher, die neuen Missionare - eher der
Gedanke der Neuartigkeit als der eines
Niederganges zu sehen sei.« Das wurde
unterstützt durch die Gewinne des
Protestantismus über den Katholizismus in
Europa - das Neue siegte dauerhaft über das
Alte.
Der Postmillennialismus des 17. Jahrhunderts
stützte sich in der Hauptsache auf jene, die
an den Erfolg der Verkündigung des
Evangeliums glaubten und demgemäß an die
Bekehrung der Juden. Letzterer Glaube stand
in enger Verbindung mit dem
Prämillennialismus. Aber wenn es auch wenige
prominente Postmillennialisten im 17.
Jahrhundert gab, wurde diese Anschauung doch
populär, als das 18. Jahrhundert
heraufdämmerte - eine Folge von Whitbys
»neuer Auslegung« von
Offb 20 .
Zeitgenössische rekonstruktionistische
Postmillennialisten sträuben sich
üblicherweise gegen Whitbys Schlüsselrolle
in der Geschichte des Postmillennialismus.
Ihre Abwehrhaltung rührt wahrscheinlich von
der Tatsache her, dass Whitby ein überaus
unorthodoxer Unitarier war. Dennoch war es
die Folge der Bemühungen Whitbys, der
exegetische und theologische Definitionen
für den Postmillennialismus vorbrachte, dass
der an Boden zu gewinnen begann und vor
seinem Niedergang zur vorherrschenden
Eschatologie in Europa und schließlich auch
in Nordamerika wurde.
Walvoord notiert über Whitby Folgendes:
���Er war ein Liberaler und ein unorthodoxer
Denker, unbehindert von Traditionen oder
früheren Konzeptionen der Kirche. Seine
Ansichten über das Tausendjährige Reich
würden vielleicht niemals bekannt geworden
sein, wenn sie nicht so gut zum Geist der
Zeit gepasst hätten. Die aufsteigende Flut
intellektueller Freiheit, Wissenschaft und
Philosophie, gepaart mit Humanismus,
erweiterte die Vorstellungen vom
menschlichen Fortschritt und malte ein
strahlendes Bild der Zukunft. Whitbys
Ansicht von einem künftigen goldenen
Zeitalter für die Gemeinde war gerade das,
was die Menschen hören wollten. Es traf das
Denken der Zeit. Es ist nicht verwunderlich,
dass Theologen, die in einer sich wandelnden
Welt händeringend nach Neuordnungen suchten,
schließlich in Whitby den Schlüssel zur
Beantwortung ihrer Fragen fanden. Er war
anziehend für jede Art von Theologie. Den
Konservativen bot er ein scheinbar
wirkungsvolleres Prinzip der
Schriftauslegung ... Das zunehmende Wissen
des Menschen über die Welt und unübersehbare
wissenschaftliche Fortschritte passten in
dieses Bild. Andererseits gefiel diese den
Liberalen und Skeptikern. Wenn sie schon
nicht den Propheten glaubten, so glaubten
sie doch zumindest, dass der Mensch nun in
der Lage war, sich und sein Umfeld selbst zu
verbessern. Auch sie glaubten, dass das
goldene Zeitalter bevorstand.
Nachdem der Postmillennialismus in Europa
und Amerika unter Konservativen und
Liberalen die Vorherrschaft errungen hatte,
begann ein Niedergang bis beinahe zum
völligen Verlöschen. Die Auswirkungen der
Französischen Revolution in Europa
bereiteten dem postmillennialistischen
Optimismus einen ernsten Rückschlag. Später
ging in den Staaten der Niedergang des
Postmillennialismus dem Jahrhundertwechsel
entgegen, doch jetzt versetzten ihm der
Erste und der Zweite Weltkrieg und seine
Gleichsetzung mit sozialem Evangelium und
Liberalismus einen nahezu todbringenden
Schlag. Erst seit den Siebzigern hat der
Postmillennialismus begonnen, sich zu
regenerieren - hauptsächlich durch eine
rekonstruktionistische Bewegung. In den
letzten Jahren hat der Postmillennialismus
wieder an Boden gewonnen, doch er nimmt nach
wie vor eine Minderheitsposition auf dem
weiten Feld der Eschatologie ein.
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