Als meine
Schwiegermutter im Alter von 93 Jahren eine unheilbare, bösartige
Bluterkrankung festgestellt wurde, sprachen wir mehrmals dar über,
welche Gedanken und Wünsche ihr angesichts des nahenden Lebensendes
durch den Kopf gingen. Sie war eine tiefgläubige Frau, die ihre Ruhe in
Gott gefunden hatte und Frieden und Gelassenheit ausstrahlte. Bei einem
dieser Gespräche sagte sie unvermittelt:
»Ach, es ist doch schwer, über den Tod zu sprechen!«
ja, das stimmt tatsächlich. Auch wenn der gläubige Christ weiß, dass
seine Zukunft und die Ewigkeit in Gottes Händen liegt und er vor dem
Gericht Gottes keine Angst zu haben braucht, ist das Sterben doch ein
bedrückendes Ereignis, vor allem, wenn man kurz davorsteht. Viele
empfinden es wie den Durchgang durch einen dunklen, gefahrvollen Tunnel,
hinter dem dann endlich das ewige Licht leuchtet.
Umso wichtiger ist es, dass wir den Betroffenen auf der Wegstrecke vor
und in diesem Tunnel nicht allein lassen.
An kaum einer anderen Stelle kann sich die Basis -Seelsorge in unseren
Gemeinden besser bewähren als hier, jeder wird im Laufe seines Lebens in
eine solche Situation kommen, meist in der eigenen Familie oder im
engsten Freundeskreis.
In der Kranken- und Altenpflege und in der Medizin gehört die
Konfrontation mit dem Sterben ohnehin zum Berufsbild. Andererseits bin
ich sicher, dass Gott nahezu jeden Menschen irgendwie in die Nähe des
Todes führt, um ihm die Begrenztheit seines eigenen Lebens vor Augen zu
führen. Ich muss nicht dauernd an das Sterben denken oder mich permanent
mit dem Tod beschäftigen, aber solche Gelegenheiten sind gut geeignet,
mir selbst Klarheit zu verschaffen über mein Sterben und die
nachfolgende Ewigkeit. Das Sterben eines jeden Menschen ist so
individuell wie sein Leben, kein Sterbevorgang gleicht dem anderen.
Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat zwar nach ihren Beobachtungen
fünf Sterbephasen unterschieden, aber diese Einteilung wird trotz nach
vollziehbarer Einzelschritte von vielen Fachleuten abgelehnt.
Der Tod kennt eben keine Gesetzmäßigkeiten.
Er kann ganz plötzlich eintreten, wie bei einem Unfall oder dem
Sekunden-Herztod; er kann langsam und bewusst auf den Menschen zukommen,
wenn er mit der Diagnose einer unheilbaren Krebserkrankung konfrontiert
wird; oder der Tod befreit leise und
unmerklich den bewusstlosen oder völlig verwirrten Senior von seinem
Leiden.
Wenn überhaupt, kann man in Anlehnung an die Einteilung der Deutschen
Gesellschaft für Palliativmedizin von der Vorphase, der
Rehabilitationsphase, der Terminalphase und der Finalphase des Sterbens
sprechen, allerdings nur für ein bewusstes Sterben und nicht für den
plötzlichen oder den unmerklichen Tod.
Für die Seelsorge ist wichtig zu wissen, dass auch Angehörige in diese
Entwicklung eingebunden sind.
Die Vorphase
... ist die Vorbereitung auf das Sterben im Laufe des Lebens. Wir
sind im Grunde genommen alle in dieser Vorphase. Wenn ich ans Lebensende
denke, tauchen vielfältige Befürchtungen auf: Schmerzen, Hilflosigkeit,
Schwäche, Luftnot, Schlafstörungen, Kontrollverlust, Unruhe, langes
Dahinsiechen und Pflegebedürftigkeit, Apparatemedizin und künstliche
Leidensverlängerung. Diese Ängste sind nicht unberechtigt, und ich muss
mich irgendwann einmal mit ihnen befassen, am besten im Rahmen eines
seelsorgerlichen Gesprächs. Ich kann aber noch etwas tun: Ich kann
Menschen in meinem Umfeld beobachten, wie sie mit Krankheit und Leid und
letztlich mit dem Sterben umgehen. Und da kann ich eine erstaunliche
Entdeckung machen, die mir aus meiner Zeit
als junger Krankenhausarzt nachdrücklich im Gedächtnis geblieben ist:
Ich hatte gerade in der Klinik neu angefangen, als bei einer
Routinekonferenz unserer onkologischen Abteilung (Krebsstationen) das
Gespräch unter den ärztlichen Kollegen darauf kam, wie die
Krebspatienten mit ihrer tödlichen Krankheit und dem Sterben umgehen.
Die Beiträge der erfahrenen Kollegen ha ben mich überrascht und
gleichzeitig gefreut: Eine Ärztin meinte, dass gläubige Menschen am
besten mit der Diagnose fertigwürden; ein anderer hatte den Eindruck,
man müsse einen sehr starken Willen haben; wieder andere hatten
beobachtet, dass Leute mit einer Bibel auf dem Nachttisch deutlich
ruhiger und gelassener blieben, was von einem weiteren Kol legen
bestätigt wurde, der sagte: »ja, die Patienten, die sehr fromm sind,
können friedlich sterben!« Die Kommentare haben die Kollegen nicht mir
zuliebe abgegeben, sondern sie entsprachen ihren eigenen Beobachtungen.
Mir als jungem Arzt hat dieser Gedankenaustausch sehr viel Mut gemacht.
Es war eine Bestätigung für meinen Glauben, ich konnte daran erkennen,
dass ein lebendiger Glaube auch in den Grenzsituationen des Lebens
durchträgt. Die Erfahrungen lassen sich in einem Satz zusammenfassen:
Der gelebte Glaube an Gott und die persönliche Beziehung zu Jesus
Christus sind die beste Vorbereitung auf das Sterben und den Tod.
Als Vorbeugung gegen Angst und Sorgen am Lebensende kann ich deshalb in
der Seelsorge jedem Gesprächspartner folgende Empfehlungen weitergeben:
● Pflege deine Beziehung zu Gott, deinem Vater im Himmel, und zu Jesus
Christus!
● Ordne, wenn es eben geht, alle Beziehungen zu deinen Mitmenschen!
● Das Gebet ist eine starke stützende Kraft, und zwar sowohl das
persönliche als auch das gemein same Gebet.
● Gelebte Gemeinschaft unter Christen (Haus kreise, Gemeinden) gibt auch
in den Grenzsituationen des Lebens einen wirksamen Halt.
● Seelsorgerliche Gespräche und gegenseitige Begleitung helfen uns in
Krankheiten und Krisen. Wer sich rein sachlich und medizinisch auf sein
Lebensende vorbereiten will, kann auf die Juristischen Möglichkeiten der
Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zurückgreifen.
Eine Beschreibung würde den Rahmen dieser Artikelserie sprengen.
Es gibt dazu aber Literatur und einschlägige Broschüren von
verschiedenen Organisationen, unter anderem vom Bundesjustizministerium
(www.bmjv.de).
Sterben und Tod gehören zu den natürlichen und sichersten Phänomenen
unseres menschlichen Daseins, sie sind andererseits aber auch die und
undurchsichtigsten, geheimnisvollsten und am wenigsten erforschten
Ereignisse unseres Menschseins. Es handelt sich um den Übergang aus der
sichtbaren, erforschbaren Welt in das Unsichtbare, Übersinnliche, ein
Überschreiten der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit.
Die Vorgänge entziehen sich weitgehend den naturwissenschaftlichen
Messmethoden, und niemand konnte bisher aus eigenem Erleben den Verlauf
des Sterbens und des Todes vollständig berichten, abgesehen von einigen
sogenannten »Nahtoderfahrungen« nach erfolgreichen
Wiederbelebungsmaßnahmen. Deshalb gibt es im Umgang mit Sterbenden und
mildern eigenen Tod viele Spekulationen, viele mystische Vorstellungen,
aber auch viel Angst und manche Scheu. Oft werden die Gedanken daran
auch einfach verdrängt, viele Menschen möchten sich absolut nicht damit
beschäftigen, weil die entscheidende Frage daran anschließt: Was kommt
denn nach meinem Tod? Eine Antwort auf diese Frage kann kein
Naturwissenschaftler geben, sondern nur der persönliche Glaube. Für mich
ist die Aussage der Bibel maßgeblich: »Und so, wie jeder Mensch nur
einmal sterben muss und dann vor das Gericht Gottes gestellt
wird...«(Hebr 9,27 Neü). Der erste Teil des Satzes wird von niemandem in
Zweifel gezogen, während vom zweiten Satz teil, dem Gericht Gottes,
viele Menschen leider nicht überzeugt sind. Aber die Bibel sagt weiter
unmissverständlich: »Wer an den Sohn Gottes [Jesus Christus] glaubt, wer
ihm vertraut, hat ewiges Leben. Wer dem Sohn aber nicht gehorcht, wird
das ewige Leben nie zu sehen bekommen, denn Gottes Zorn wird auf ihm
bleiben« (Joh 3,36 Neü). Es gibt also ein Leben nach dem Tod, und in
meinem Leben hier und jetzt entscheidet sich, wo ich die Ewigkeit zu
bringe: in Gemeinschaft mit Jesus Christus, in Gottes Nähe (das ist dann
der Himmel), oder in der Gottesferne (das heißtauch Gottes Zorn oder
Hölle). In der Seelsorge während der oben erwähnten Vorphase sind diese
Informationen für jeden Menschen von existenzieller Bedeutung. Wer seine
Zukunft gesichert hat, wer ganz klar weiß: Auf mich wartet nach dem
Sterben das ewige Leben in der himmlischen Herrlichkeit Gottes, der geht
deutlich ruhiger und gelassener seinem Tod entgegen als einer, der
bezüglich der Ewigkeit in Unsicherheit und Angst lebt. Leider ist die
Beschäftigung mit Tod und Ewigkeit für viele ein Tabuthema geworden. Sie
verdrängen das Bewusstsein des Sterbens und fliehen vor der Realität des
Todes. Die Menschen leben immer weniger in Verbindung mit der Natur und
der Schöpfung; Technik und moderne Medizin scheinen den Tod
zurückgedrängt und in sterile Krankenzimmer verlagert zu haben. Außerdem
widerspricht ein leidvolles Lebensende dem Wohlstandsdenken und dem
Ideal dauernder Jugend. In unserer Zeit des technischen Fortschritts
ruft die Unberechenbarkeit des Todes ein unangenehmes Gefühl der
Ohnmacht her vor. Das kann nur durchbrochen werden mit der festen
Hoffnung des Glaubens, die Paulus so beschreibt: »Denn ich bin
überzeugt: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch andere Mächte, weder
Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder hohe Kräfte noch tiefe Gewalten -
nichts in der ganzen Schöpfung kann uns von der Liebe Gottes trennen,
die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn« (Röm 8,38f Neü).
Wenn dieser Glaube mein Alltagsleben prägt, habe ich die Vorphase des
Sterbens optimal genutzt.
Die Rehabilitationsphase
Oft wird die Frage gestellt: Wann beginnt das Sterben?
Reintheoretisch kann die Antwort lauten: Mit der Geburt.
Denn von Geburten sterben Zellen im menschlichen Organismus ab und neue
bilden sich, wobei im Laufe des Lebens der erste Prozess immer stärker
und der zweite immer schwächer wird, bis zum Tod
Etwas realistischer ist die Antwort, dass mein Sterben dann beginnt,
wenn ich die Nachricht der unheilbaren und tödlichen Erkrankung bekomme.
Die Übermittlung der Diagnose, die dazugehörenden Erklärungen und die
Informationen über die mögliche Behandlung muss der Fachmann (der
behandelnde Arzt) übernehmen. Wichtig sind in diesen Gesprächen ehrliche
Aussagen, die Möglichkeit für Rückfragen und ein hohes Maß an Empathie
von Seiten des Arztes. Von diesem Zeitpunkt an werde ich mich als
Betroffener vor allem psychisch viel stärker mit dem Tod
auseinandersetzen als vorher. Das ist dann auch gleichzeitig der Beginn
der sogenannten Rehabilitationsphase. Ich lebe zwar im Bewusstsein
meiner Krankheit und meines nahenden Lebensendes, behalte aber zunächst
noch meine volle Selbständigkeit und selbstbestimmte Lebensführung.
Meist werden in dieser Zeit zahlreiche medizinische Untersuchungen und
Behandlungen durchgeführt. Die Phase kann Monate, manchmal auch Jahre
dauern. Nach der Mitteilung der Diagnose gibt es natürlich auch heftige
innere Reaktionen. Am häufigsten ist die Unruhe und Sorge sowohl bei dem
Kranken als auch bei seinen Angehörigen. Ohne viel darüber zu sprechen,
sind alle zunächst einmal schockiert von der schlimmen Krankheit und
beschäftigen sich mit den Gedanken, wie es jetzt wohl weitergeht und wie
das Ende aussehen wird. Schlaflose Nächte und ruhelose Tage mit
Grübeleien prägen den Alltag.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es eine ganze Zeit dauert
(vielleicht eine oder zwei Wochen oder mehr), bis wieder etwas Ruhe
einkehrt, Freunde können seelsorgerliche Gespräche anbieten, und
mindestens genauso hilfreich ist das Bewusstsein:
Viele beten für mich Verwandte, Bekannte, Hauskreis und Gemeinde, sie
alle stehen im Gebet hinter mir, mein eigenes Beten erreicht Gottes
Ohren, und ich erfahre, dass ich von Gottes Händen getragen und geführt
werde. Das ist das Ziel der Seelsorge: alle Ungewissheit bei Gott ab
zuladen und bei ihm zur Ruhe zu kommen, auch wenn ich nicht weiß, was
der nächste Tag bringt.
Aber ich weiß:
Mein Vater im Himmel lässt mich nicht im Stich! Weil die Angehörigen
ebenso betroffen sind, brauchen sie auch Zuspruch und Hilfe. Schlimm
wäre es, einen Kranken und seine Familie in dieser Situation
alleinzulassen. Deshalb sind lebendige Gemeinschaft und schlichte
gegenseitige Seelsorge in den christlichen Gemeinden so wichtig. Die
Seelsorge hat auch ganz praktische Aspekte. Manche Patienten möchten zum
Beispiel noch bestimmte Dinge in ihrem Leben regeln: offene
Erbangelegenheiten, noch einmal einen alten Freund sehen, einen lieb
gewordenen Ort aufsuchen oder einen alten Streit beilegen. Einige haben
den Wunsch, die Einzelheiten ihrer Beerdigung zu klären: Text der
Todesanzeige, Redner und Inhalt der Trauer rede, Lieder, Sargträger und
anderes. Seelsorge bedeutet auch, den Kranken bei der Erfüllung solcher
Wünsche zu unterstützen. Einige Kranke wollen die Diagnose der tödlichen
Krankheit nicht wahrhaben, sie vertrauen ganz und gar auf die
Fortschritte der Medizin und verdrängen die Beschäftigung mit dem Tod,
der für sie noch in weiter Ferne liegt. Viele schmieden Zukunftspläne,
kaufen sich ein neues Auto oder elegante Kleidung. Seelsorgerlich ist es
sinnlos, dagegen zu argumentieren. Solch ein Denkprozess muss ablaufen,
er sollte aber auch nicht unterstützt und dadurch künstlich verlängert
werden, weil die damit verbundene innere Unsicherheit für viele
Betroffene quälend ist. Gespräche über das Sterben sollte man nur auf
Wunsch des Patienten führen und nur mit Inhalten, die er selbst
bestimmt. Das Reden kann man in dieser Phase nicht erzwingen, aber
Offenheit für Gespräche signalisieren und dem Betroffenen entspannte
Gemeinschaft anbieten mit leichtem Sport, Hobbys und anderen
Beschäftigungen. Auch das ist praktische Seelsorge. Oft ist
verständnisvolles Schweigen besser als permanentes Einreden, Zuhören ist
besser als Belehren.
Die Terminalphase
Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem alle Therapiemöglichkeiten
ausgeschöpft sind und die Krankheit doch weiter fortschreitet. In den zu
rückliegenden Monaten hatte sich der Patient mit seiner Familie mehr
oder weniger an die Erkrankung und die Behandlung (meist ist es eine
Chemotherapie und/oder Bestrahlung) gewöhnt, alle hatten gewisse
Hoffnungen daran geknüpft. Phasenweise gab es Besserung, der Tumor war
kleiner geworden, viel leicht gab es ja doch Aussicht auf Heilung? Aber
nun ist es wieder wie am Anfang: Die bedrohlichen Symptome und der
Schrecken des Todes stehen erneut allen Beteiligten vor Augen. Jetzt
kann auch einmal Zorn hochkommen, Auflehnung gegen Gott und gegen alles
und jeden: Die Ärzte haben mich falsch behandelt, die Diät hat ja doch
nichts gebracht, Gott hat mich verlassen, meine Angehörigen sind so
gleich gültig geworden, keiner kümmert sich um mich, ich bin einfach nur
wütend ... Das darf niemand persönlich nehmen, und ich bin sicher: Gott
selbst hat Verständnis dafür (siehe die Geschichte von Hiob!), er kann
auch Wutausbrüche ertragen und umgibt sein todkrankes Kind trotzdem mit
seiner Liebe. Wenn ich als Seelsorger solche Reaktionen erlebe, sollte
ich mich genauso verhalten: Verständnis aufbringen, beruhigen und
beschwichtigen und soweit es möglich ist, die aufbrausenden Gedanken
vorsichtig korrigieren und in eine unverfängliche Richtung lenken.
Irgendwann flauen die Gefühlsausbrüche wieder ab, es kehrt Ruhe ein. Bei
Christen habe ich aber auch schon genau das Gegenteil erlebt. Als sich
die Krankheit trotz Therapie wieder verschlimmerte, waren sie sofort die
Ruhe selbst und vertrauten ganz und gar auf ihren Herrn. Sie waren sich
sicher, dass Gott keine Fehler macht und ihnen auch in der Todesstunde
zur Seite steht. Sie fühlten sich geborgen in Gottes Händen. Das ist
natürlich eine sehr gute Erfahrung, man darf sie aber nicht bei jedem
Christen erwarten. Andere erleben Gottes Nähe auch mitten im Sturm der
Gefühle. Jeden begleite ich seelsorgerlich auf seine persönliche Weise
und berücksichtige dabei auch immer die An gehörigen. In dieser Zeit, in
der die Kräfte spürbar nachlassen und die Symptome sich häufen, kann es
auch zu depressiven Reaktionen beim Kranken kommen. Vorseinem inneren
Auge steht die Trennung, das Abschied nehmen von Menschen und irdischen
Werten, die ihm wichtig waren, und wie ein dunkler Schatten taucht in
der Ferne die Todesstunde auf. Ich verstehe gut, dass er traurig wird.
Manchmal belastet ihn die Angst vor bevorstehenden Schmerzen, vor
Luftnot oder totaler Hilflosigkeit. Ich kann ihm glaubhaft versichern
(der Arzt tut es meist auch), dass therapeutisch und pflegerisch alles
getan wird, um seine Beschwer den zu lindern. Wenn eben möglich, wollen
wir seinen Wunsch erfüllen, dass er zu Hause bleiben kann und nicht mehr
ins Krankenhaus eingewiesen wird. Allerdings sollten wir ihm keine
falschen Versprechungen abgeben, sondern offen und ehrlich sein. In
manchen Fällen ist es auch notwendig, den Kranken mit seinem
Einverständnis in einem Hospiz anzumelden. Dort erwartet ihn eine
optimale menschliche und pflegerische Betreuung. Ich habe damit nur die
besten Erfahrungen gemacht. Die Terminalphase kann sich einige Wochen
oder sogar Monate hinziehen. Der Kranke wird von Tag zu Tag schwächer
werden, seine Aktivitäten lassen immer mehr nach und sein Gesichtskreis
verengt sich. Die Weltpolitik spielt keine Rolle mehr, das Fernsehen
wird oft als störend empfunden, das Interesse an der Nachbarschaft lässt
nach, und schließlich werden nur noch die nächsten Angehörigen und die
Umgebung im Krankenzimmer wahrgenommen. Besucher sind ehe reine Last,
sie müssen darauf Rücksicht nehmen und auf Besuche verzichten. Nur noch
die
Familie und die engsten Freunde sind anwesend und verhalten sich
möglichst ruhig, um dem Kranken den letzten Schritt zur inneren
Zustimmung zu erleichtern. Er muss sein Ja finden zum Loslassen und zum
Sterben. Es ist ein Entwicklungsprozess, der ihn innerlich Schritt für
Schritt auf das Lebensende vorbereitet. Lange Gespräche kann er nicht
mehr führen. Wenige liebevolle Worte genügen, um ihm zu zeigen: Wir sind
für dich da, wir lassen dich nicht allein, wir versorgen dich.
Tatsächlich sollte immer jemand im Zimmer sein oder neben dem Bett
sitzen. Auch darin brauchen Angehörige manchmal praktische
seelsorgerliche Unterstützung.
Die Finalphase
... ist dadurch gekennzeichnet, dass die Sinneswahrnehmungen und
Körperfunktionen immer weiterzurückgehen. Der Kranke schläft oft oder
dämmert vor sich hin. Viele Menschen erleben in dieser Phase einen
inneren Frieden, vor allem Christen haben ihre Ruhe in Gott gefunden und
können ja sagen zu Gottes Wegen. Hier bewährt sich wirklich der
persönlicher Glaube. Es ist ein ausgeglichener, manchmal sogar
glücklicher Zustand. Nur selten gibt es Patienten, die bis zum Schluss
kämpfen und nicht zur Ruhe kommen. Meist stecken ungeregelte Probleme
der Vergangenheit dahinter. Alle medizinischen und pflegerischen
Maßnahmen haben zum Ziel, die Beschwerden des Kranken (Schmerzen,
Übelkeit, Luftnot, Unruhe) zu lindern. Dabei nimmt man bewusst die
beruhigende Nebenwirkung der Medikamente in Kauf, sodass längere
Ruhephasen auftreten und der Patient nur begrenzt ansprechbar ist.
Trotzdem nimmt er seine Umgebung sehr genau wahr, er registriert
Gespräche, Musik, Gerüche und menschliche Anwesenheit. Sterbende
entwickeln eine besondere Sensibilität für ihre direkte Umgebung und das
Verhalten ihrer Betreuer. Deshalb sollte jeder, der das Zimmer betritt,
Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme mitbringen. Bei allen Gesprächen
ist zu bedenken, dass der Kranke jedes Wort genau versteht, selbst wenn
er seine Hörgeräte nicht mehrträgt. Die Tonlage muss der Situation
angepasst sein. Lautes Rufen, Lachen oder flapsige Bemerkungen sind
genauso zu vermeiden wie geheimnisvolles Flüstern. Es gibt Phasen der
Stille, in denen man nur am Bett sitzt, vielleicht die Hand hält oder
mit einem feuchten Lappen die Stirn abwischt, und es gibt Momente der
Andacht mit leiser Musik, kurzen Bibelversen, Gedichten oder alten,
vertrauten Liedern. Sobald der Kranke unruhig wird, sollte wieder Stille
ein kehren. Alle Anwesenden konzentrieren sich nur auf ihn, registrieren
seine Reaktionen und nehmen Rücksicht. Wenn sie untereinander etwas
klären müssen, verlassen sie den Raum. Für Angehörige sind dies sehr
emotionale und belastende Augen blicke. Sie sind damit im Allgemeinen
überfordert und sehr dankbar für praktische seelsorgerliche Begleitung.
Auch wenn ein Pflegedienst die rein körperliche Versorgung des Kranken
übernimmt, bleiben immer noch viele kleine Tätigkeiten übrig, bei denen
ich die nächsten Angehörigen mit Rat und Tat unterstützen kann. Ich kann
Ansprechpartner sein, wenn sie jemanden zum Reden brauchen oder wenn sie
Fragen haben. Ich kann Trost weitergeben und sie fragen, ob ich mit
ihnen beten soll; denn die meisten Menschen wünschen sich in diesen
Momenten ein kurzes Gebet, manche freuen sich auch über ein tröstendes
Bibelwort. Wenn eben möglich, sollten sie bewusst von dem Sterbenden
Abschied nehmen und sich dazu auch Zeit lassen. Wahrschein lieh nimmt
der Kranke dies alles noch wahr, auch wenn er keine Reaktionen mehr
zeigt. Aber es gibt auch Patienten, die dann noch einmal die Augen
öffnen und kurze, klare Worte sagen. In anderen Fällen habe ich erlebt,
wie kurz vor dem Sterben ein Lächeln oder Strahlen über das Gesicht ging
und die Gesichtszüge einen glücklichen, fast verklärten Ausdruck
annahmen. Die eigentliche Sterbephase, also die letzten Augenblicke vor
dem Tod verlaufen bei jedem Menschen anders, es gibt keine
Gesetzmäßigkeit. Die meisten Kranken wollen in diesen Stunden und Tagen
nichts mehr essen oder trinken, sie können auch oft nicht mehr
schlucken. Früher hieß es dann, dass kein Tod kranker verhungern und
verdursten darf.
Aber Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung ist ein ganz natürlicher
Vorgang und erleichtert das Sterben. Auf keinen Fall sollte man mit
Gewalt etwas einflößen, das würde nur Hustenanfälle auslösen und die
Beschwerden verstärken. Ein wenig Wasser oder Tee kann man zum
Anfeuchten von Lippen und Zunge anbieten, viel wichtiger aber ist eine
gute und regelmäßige Mundpflege. Die Atmung wird oft unregelmäßig, und
es entsteht ein rasselndes oder brodelndes Atemgeräusch, wenn der
Sterbende keine Kraft mehr hat, den Schleim abzuhusten. Angehörige
empfinden dann sofort den Drang, helfen zu müssen. Man kann den
Oberkörper hoch lagern, aber im Allgemeinen braucht man nicht
einzugreifen; die Geräusche belasten den Kranken nicht, sie können auch
wieder nachlassen. Schließlich wird der Puls immer flacher, die Atmung
seltener und das Herz bleibt stehen. Kurze Zeit später tritt der
sogenannte irreversible Hirntod ein, und damit ist das irdische Leben
eines Menschen zu Ende gegangen. Auch jetzt sind die Angehörigen für
seelsorgerlichen Beistand sehr dankbar. Oft wurde ich als Arzt in dieser
Situation gefragt, ob ich noch ein Gebet sprechen könnte. Viele
Mitbürger wussten, dass ich als Christ meine Arbeit ausübte, und ich bin
gerne ihrem Wunsch nachgekommen.
Als Zusammenfassung hier noch einige allgemeine Hinweise:
1. Bereitschaft zum Gespräch
Gespräche sollen niemals erzwungen werden. Nur wenn der Kranke es
wünscht, spreche ich über seine Fragen oder Wünsche. Bei allem, was ich
sage, bleibe ich ehrlich, echt und einfühlsam und vermeide die harten
Tatsachen des Sterbens. Ich kläre ihn geduldig auf und gebe ihm
Informationen, aber nur so weit er sie wünscht und verkraften kann. Ich
zeige ihm meine Gefühle, ohne dass ich die Fassung verliere oder mich
gehen lasse. Das Wichtigste bei allen Unterhaltungen ist das Weitergeben
von realistischen Hoffnungen, die mit den Angehörigen abgesprochen sind.
Besonders bei gläubigen Christen hat die Hoffnung auch eine geistliche
Dimension:
● Wir lassen dich nicht allein!
● Wir werden dich, wenn eben möglich, nicht ins Krankenhaus schicken.
● Wir helfen dir immer, wenn du Hilfe brauchst.
● Mit dem Arzt zusammen bekämpfen wir deine Schmerzen.
● Wir sorgen dafür, dass du ruhig schlafen kannst.
● Gott hält alle Dinge in seiner Hand, auch dein Leben und deine
Krankheit.
● Jesus Christus ist immer bei dir, er hat es dir versprochen.
● Nichts kann dich aus Gottes Hand reißen, nichts kann dich von Gottes
Liebe trennen.
● Gott führt dich auch durch die dunkle Stunde des Todes.
● Denke immer daran, dass Gottes Herrlichkeit auf dich wartet.
● Im Himmel wird es keine Krankheit, kein Leid und keinen Tod mehr
geben.
● Du weißt, dass wir alle und viele andere für dich beten.
● Wenn du willst, kann ich auch hier für dich ein Gebet sprechen oder
etwas aus der Bibel lesen.
● Wenn du irgendeinen Wunsch hast, lass es mich wissen!
2. Bereitschaft zum Schweigen
Schweigen ist für viele schwerer als Reden. Dennoch muss ich bei
Sterbenden oft die Stille aushalten. Vor allem darf ich dem Kranken, wie
oben erwähnt, kein Gespräch aufzwingen. Je nach Krankheitsverlauf muss
ich Rücksicht nehmen auf seine inneren Kämpfe, seine Empfindungen und
seine körperliche Schwäche. In bestimmten Situationen dämpfen wir unsere
Stimmen und vermeiden laute Geräusche. Gespräche In Gegenwart des
Kranken werden nur geführt, wenn sie ihn nicht belasten. Denn er bekommt
alles mit, sei bst wenn er zu schlafen scheint oder bewusstlos ist.
3. Bereitschaft zur Hilfe
Trotz des Schweigens brauche ich nicht untätig zu sein.
Wichtig ist, dass ich mich dem Kranken bewusst zuwende, auch wenn er die
Augen geschlossen hat. Ich sitze viel leicht an seinem Bett, schaue ihn
an und halte dabei seine Hand. Ich helfe bei pflegerischen Maßnahmen,
feuchte ihm die Lippen und die Zunge an oder wische seine Stirn ab.
Diese Handlungen müssen nicht dringend nötig sein, aber sie zeigen dem
Kranken meine Anwesenheit und meine Zuwendung. Das ist echter
nonverbaler Trost In schwerem Leid, und es tut unendlich gut. Ich bin
davon überzeugt, dass jeder, der seine Beziehungen geordnet hat und in
Jesus Christus die Hoffnung des ewigen Lebens besitzt, dem Sterben und
dem Tod mit innerem Frieden entgegengehen kann. Für ihn bedeutet es nur
ein Durchgang zum Paradies, zur herrlichen Gegenwart Gottes.
»Jesus erwiderte ihm:
Ich versichere dir: Heute noch wirst du mit mir im
Paradies sein.«< (Lk 23,43)
Wolfgang Vreemann
aus: "Zeit und Schrift" 4/2021
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