Thomas Rosemann ist Experte für Hausarztmedizin. Er erklärt, wieso das
Sonnenvitamin überbewertet wird. Es helfe nicht gegen
Atemwegsinfektionen – und schon gar nicht gegen Corona.
Vitamin
D ist derzeit der heisseste Tipp, um sich vor einer Ansteckung mit
Sars-CoV-2 zu schützen. Ist eine vorsorgliche Einnahme sinnvoll?
Alle
ernst zu nehmenden Studien zeigen, dass zusätzliches Vitamin D nichts
bringt, wenn nicht ein ausgeprägter Mangel vorliegt. Es gibt ein paar
schwache Hinweise darauf, dass bei ganz speziellen Gruppen von Menschen
banale grippale Infekte und Harnwegsentzündungen etwas seltener
vorkommen. Die statistische Relevanz dieser Daten ist allerdings sehr
fragwürdig. Zu Coronavirus-Ansteckungen selber gibt es überhaupt keine
Studien. Allenfalls wundersame Fallberichte von Altersheimen, in denen
alle Vitamin D bekommen haben und keiner an Covid-19 erkrankt ist.
Solche Beobachtungen sind oft einfach Zufall. Der gegenwärtige
Vitamin-D-Hype könnte sogar gefährlich sein.
Wieso?
Die
Leute wiegen sich in einer trügerischen Sicherheit, wenn sie das
Vitamin schlucken, und verhalten sich dann unvorsichtiger. Vitamin D
wird als Immunstimulanz vermarktet, obwohl es dafür keine Daten
gibt.
Es
ist günstig und natürlich – nützt es nichts, so schadet es nicht …
Wenn
man das Gefühl hat, man tut sich etwas Gutes, dann soll man halt
Vitamin D schlucken. Die in der Schweiz empfohlene Dosis von rund
800 Einheiten pro Tag schadet tatsächlich mit hoher
Wahrscheinlichkeit nicht. Wir sehen allerdings immer, wenn so eine
Substanz propagiert wird, dass es zu Exzessen kommt. Die Menschen
glauben, dass besonders viel auch viel hilft. Das ist hier mit
Sicherheit nicht der Fall. Bei zu hohen Dosen kommt es zu vermehrter
Sturzneigung. Sehr grosse Vitamin-D-Mengen führen zu
Nierenproblemen. Was man sowieso auf jeden Fall lassen soll, sind
Vitamin-D-Tests. Die bringen nichts und kosten Unmengen Geld.
Jährlich 90 Millionen Franken für Vitamin-D-Tests
In
der Schweiz hat sich die Zahl der Vitamin-D-Tests innert sieben
Jahren verdreifacht. Der Anteil derpro Jahr getestetenBevölkerung
ist zwischen 2012 und 2018 von 7 auf 20Prozentgestiegen.
Zu diesem Schluss kommtgemäss einem Artikel in der
«SonntagsZeitung» eineStudie
von Helsana und den Universitäten Zürich und Bern, nachdemdieDaten
von einer Million Versicherten analysiertwurden. Die
meisten dieser Vitamin-D-Analysen seien medizinisch nicht sinnvoll,
so die Autoren. Eine weitere Studie im Auftrag des «Swiss Medical
Board» schätzt Kosten von90
Millionen Franken alleine im Jahr 2018,welchedie
Grundversicherung belasten. (fes)
Eine
Studie fand offenbar sogar ein erhöhtes Krebsrisiko.
In der
grossen Vitamin-D-Studie «Vital» mit 25’000 Teilnehmern zeigte sich in
manchen Untergruppen bei regelmässiger Einnahme eine Erhöhung des
Darmkrebsrisikos. Das sind zwar sehr unsichere Hinweise. Doch sie sind
ähnlich überzeugend wie die Evidenz für vermeintliche positive
Wirkungen, etwa Schutz vor Infektionen. Wenn schon sollte man unklare
negative Effekte mindestens so ernst nehmen wie vermeintlich positive.
Vitamin D galt lange Zeit bei zahlreichen Leiden als hilfreiche
Prophylaxe. Was ist daraus geworden?
Inzwischen haben wir eine grosse Menge von Untersuchungen, die
belegen, dass die Einnahme von Vitamin D keinerlei Nutzen hat. Die
erwähnte Vital-Studie untersuchte vor zwei Jahren den Effekt auf das
Herz-Kreislauf- und das Krebs-Risiko – und fand nichts. Auch bei der
im vergangenen November veröffentlichten europäischen Studie «Do
Health» unter Zürcher Leitung lief es nicht besser. Das Autorenteam
kam zum Schluss, dass Vitamin D keinen Einfluss auf den Blutdruck,
die Zahl der Knochenbrüche, die körperliche Leistungsfähigkeit und
die Infektionsraten hat.
Die
Hauptautorin Heike Bischoff-Ferrari sagte danach in den Medien
dennoch, dass Vitamin D vor Infekten schützen würde.
In
der Fachveröffentlichung steht ganz klar, dass Vitamin D alleine
oder in der Kombination mit Omega-3-Fettsäuren oder leichtem
Training nichts bringt, auch nicht gegen Infekte. Ich sehe es sehr
kritisch, wenn man dann nur eine Untergruppe betrachtet, wie in
diesem Fall die 70- bis 74-jährigen Männer, und einen fraglichen
Effekt verallgemeinert. Viele Medien greifen leider solche
Äusserungen auf und verbreiten sie unreflektiert. Wenn man genügend
lange in einer so grossen Menge Daten sucht, findet man immer
zufällige Korrelationen. Ich weiss, dass die wenigsten Mitautoren
der Do-Health-Studie eine so pauschale Empfehlung zur
Infektionsprophylaxe unterschreiben würden.
«Ich bin überzeugt, dass Vitamin D spätestens in zehn Jahren genauso
erledigt sein wird wie alle Substanzen davor.»
Der
Glaube an Vitamin D scheint unzerstörbar. Wie kommt das?
Vitamine haben als «Lebensstoffe» grundsätzlich eine positive Aura.
Im Fall vom aktuellen Favoriten Vitamin D handelt es sich um eine
Substanz, die jeder verordnen kann, auch nicht ärztliche
Therapeuten, Heilpraktiker oder Homöopathen. Das «Sonnenvitamin» ist
assoziiert mit Natur, draussen sein, gesundem Leben. Deshalb ist es
auch für Schulmediziner eine dankbare Substanz. Sie ermöglicht ein
erfreulicheres Gespräch mit den Patienten als bei Medikamenten, die
ein schlechtes Image haben wegen möglicher Nebenwirkungen und der
vermeintlich bösen Pharmaindustrie.
Im
Zusammenhang mit Vitamin D heisst es, dass in unseren Breitengraden
im Frühling jeder Zweite einen Mangel hat. Stimmt das nicht?
Das
fettlösliche Vitamin D wird im Herbst gespeichert und dann im Winter
langsam aufgebraucht. Ob der tiefe Wert, den wir jeweils im Januar
oder Februar erreichen, wirklich zu tief ist, weiss jedoch niemand.
Es ist eigentlich vernünftig, anzunehmen, dass dem nicht so ist.
Schliesslich haben unsere Vorfahren Zehntausende von Jahren in
diesen Breitengraden überlebt. Vor allem aber: Würde Ende Winter
tatsächlich ein Mangel vorliegen, müsste zusätzliches Vitamin D
einen Effekt zeigen. Das konnte bis jetzt keine einzige ernst zu
nehmende Studie nachweisen. Nur wenige Risikogruppen, insbesondere
Säuglinge und Senioren mit Osteoporose, dürften von entsprechenden
Präparaten profitieren können.
Demnach
existieren keine Daten, die die gegenwärtigen Schweizer Referenzwerte
rechtfertigen. Müssten sie geändert werden?
Es gibt
keine Einigkeit zu den Referenzwerten, schon gar nicht international.
Die USA kennen beispielsweise keine Empfehlung wie die Schweiz. Insofern
müsste man bei uns tatsächlich darüber diskutieren. Die Besonderheit
beim Vitamin D ist die jahreszeitliche Schwankung. Bei allen anderen
Blutparametern ist das nicht so. Dadurch definieren wir etwas als krank,
das physiologisch offensichtlich keine Bedeutung hat.
Vitamin D ist nicht das erste Vitamin, das sich grosser Beliebtheit
erfreut. Was ist eigentlich aus all den anderen geworden?
Sie
sind wieder aus dem Fokus geraten. Wir hatten das Zeitalter von
Vitamin C, unter anderem mit einem prominenten Fürsprecher, dem
Chemienobelpreisträger Linus Pauling, der am Tag acht Gramm davon zu
sich nahm. Später kam die ACE-Vitaminkombination, die ebenfalls
lange sehr populär waren. Bis man negative Effekte fand:
Insbesondere Vitamin E begünstigte bei Rauchern sogar das
Tumorwachstum. Seit einigen Jahren haben wir nun das Zeitalter von
Vitamin D.
«Die Substanz ist ja letztlich nur ein Indikator für einen gesunden
Lebensstil mit genügend Bewegung und Sonnenlicht. Dass man dann
bestimmte Krankheiten seltener hat, ist ja eigentlich banal.»
Jede
Generation hat ihr Trend-Vitamin.
Ich
bin überzeugt, dass Vitamin D spätestens in zehn Jahren genauso
erledigt sein wird wie alle Substanzen davor. Wissenschaftlich
gesehen ist es im Grunde bereits jetzt so weit. Was soll denn nach
den erfolglosen Studien mit Zehntausenden Patienten noch kommen?
Wenn
man seit vielen Jahren an eine Wirksamkeit glaubt, fällt es selbst
Forschern schwer, loszulassen.
Das
hat mit dem langen Lebenszyklus zu tun, den all diese Trends haben.
Am Anfang stehen immer Studien, bei denen man Korrelationen
beobachtet. Das war auch beim Vitamin D so. Die Substanz ist ja
letztlich nur ein Indikator für einen gesunden Lebensstil mit
genügend Bewegung und Sonnenlicht. Dass man dann bestimmte
Krankheiten seltener hat, ist ja eigentlich banal. Kein Wunder,
fanden Forscher in der Anfangsphase jede Woche einen neuen
vermeintlichen Gesundheitseffekt von Vitamin D.
Was
folgt danach?
In
der nächsten Phase beginnt man mit den kontrollierten Studien.
Zuerst mit kleinen, oft von Wissenschaftlern, die vom Nutzen
überzeugt sind. Die publizierten Ergebnisse sind meist positiv –
wahrscheinlich, weil negative Resultate als zu uninteressant gelten,
um veröffentlicht zu werden. Danach kommen die grossen Studien mit
vielen Probanden. Sie bringen die Ernüchterung, weil sie den
erwarteten Nutzen nicht bestätigen können.
Ist
damit der Zyklus zu Ende?
Nein. Denn in irgendwelchen Untergruppen stösst man immer auf andere
positive Effekte, die aber aus statistischen Gründen wahrscheinlich
rein zufällig auftreten. So wie die Infektionsprophylaxe in der
Do-Health-Studie. Nach weiteren Studien wird irgendwann klar, dass
sich diese neuen Effekte auch nicht bestätigen lassen. Die Substanz
muss dann endgültig begraben werden.
Zum
Schluss: Was würden Sie denn den Leuten statt Vitamin D als einfache
Infektionsprophylaxe empfehlen?
Günstiger und wahrscheinlich wirkungsvoller wäre eine Mundspülung.
Fünf Minuten mit einer Kochsalzlösung gurgeln reduziert signifikant
grippale Infekte und wirkt wahrscheinlich auch gegen Sars-CoV-2. Wir
wissen, dass die Coronaviren mehrere Stunden brauchen, um die
Schleimhaut zu durchdringen. Wenn wir in dieser Zeit durch Gurgeln
die Viruslast im Rachen reduzieren, dann bringt das wahrscheinlich
mehr als Vitamin D. Das zu prüfen, wäre sicher mal eine Studie wert.