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Textus Receptus oder Nestle-Aland?Was ist der richtige Text des Neuen Testaments? Nachdem es in den USA schon geraume Zeit eine Auseinandersetzung über die Frage gibt, ob der Urtext des Neuen Testaments durch den sog. Textus Receptus (d. h. der „anerkannte Text“, der zur Reformationszeit vorlag) oder durch moderne wissenschaftliche Ausgaben wie etwa der Nestle-Aland richtig wiedergeben wird, hat dieser Streit seit kurzem auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst. Weil zahlreiche Gläubige dadurch im Vertrauen auf die Bibel als das inspirierte und unfehlbare Wort Gottes verunsichert sind, soll ihnen mit der vorliegenden kurzen Gegenüberstellung der Hauptargumente eine Hilfe geboten werden.1 Behauptung: Der Textus Receptus [nachfolgend TR abgekürzt] ist der von Gott bewahrte Text. Er ist eine getreue Wiedergabe des inspirierten Originaltextes. Tatsache:
Behauptung: Der TR überliefert die reine Lehre des Evangeliums, während der Nestle-Aland [nachfolgend NA abgekürzt] Irrlehren unterstützt. Tatsache:
Behauptung: Textkritik ist Bibelkritik bzw. zeigt eine geistliche Wesensverwandtschaft zur Bibelkritik auf. Tatsache:
Behauptung: Die Vertreter der modernen textkritischen Ausgaben des griechischen NT waren bzw. sind Irrlehrer oder zumindest irregeführt, die des TR hingegen rechtgläubig. Tatsache:
Behauptung: Westcott und Hort4 waren Spiritisten. Tatsache: Diese Behauptung ist nachweislich falsch.5 Behauptung: Die alexandrinischen Textzeugen stammen aus Ägypten. Ägypten aber war das Zentrum gnostischer Irrlehren, was sich auf diese Handschriften niederschlug. Tatsache: Irrlehrer gab und gibt es auf der ganzen Welt – auch in Byzanz, woher der Mehrheitstext stammt! Würde diese Logik stimmen, dann könnten wir keiner einzigen Bibelhandschrift mehr trauen. Behauptung: Auch wenn die griechisch-orthodoxe Kirche einen ganz ähnlichen geistlichen Niedergang und Abfall vom wahren Glauben durchmachte wie die katholische Kirche des Westens, wurde sie doch durch Gottes Vorsehung und Wirken zur Hüterin des ursprünglichen Textes […] Tatsache: Seltsam: Die alexandrinischen Handschriften sind also zwangsläufig korrupt, weil sie aus einer Gegend stammen, in der Irrlehrer dominierten; die griechisch-orthodoxe Kirche hingegen ist trotz ihrer Irrlehren die „Hüterin des ursprünglichen Textes“?Aus welchem objektiv nachvollziehbaren Grund soll es nur so und nicht anders sein? Behauptung: Die alexandrinischen Lesarten waren Erasmus und den Reformatoren bekannt, doch sie verwarfen diese als minderwertig. Tatsache:
Behauptung: Einige wenige Handschriften [damit sind wohl vor allem der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus gemeint] können unmöglich die überwiegende Mehrheit korrigieren.
Behauptung: Die Textkritik behandelt die Mehrheit der griechischen Handschriften unfair, da sie diese in der Regel unberücksichtigt lässt. Tatsache: In der Textkritik wird der Mehrheitstext nicht ignoriert,8 sondern meist wie ein einziger Zeuge behandelt, gerade weil die Übereinstimmung aufgrund der gemeinsamen Abstammung der Handschriften so groß ist. Nicht deren Menge ist ausschlaggebend, sondern ihre Qualität. Diese muss durch sorgfältiges Vergleichen und Abwägen ermittelt werden, nicht durch bloßes Zählen. Behauptung: Die alexandrinischen Handschriften lassen viele von 90% der Handschriften bezeugten Worte der Heiligen Schrift aus, ersetzen andere durch dunkle und schwer verständliche Wendungen, enthalten zahlreiche Widersprüche und grammatikalische Fehler.
Behauptung: Der Mehrheitstext kommt aus der Gegend, wo die ursprünglichen Empfänger der neutestamentlichen Briefe zuhause waren (Kleinasien und Syrien). Er steht deshalb den Originalen am nächsten, da die Abschriften problemlos mit diesen verglichen werden konnten. Tatsache: Diese Meinung lässt völlig außer acht, dass gerade in dieser Gegend die schwersten Christenverfolgungen stattfanden. Hierdurch wurden neben den Originalen auch zahlreiche Abschriften vernichtet. Zudem sind die ältesten Handschriften durchwegs alexandrinisch. Es gibt keine Handschriften des Mehrheitstextes aus der Zeit vor dem 4. Jahrhundert! Behauptung: Die Funde alter Papyrushandschriften zeigen ebenso wie alte „Kirchenväter“-Zitate und Übersetzungen, dass die „Mehrheitstext“-Überlieferung schon vor dem 4. Jahrhundert existiert haben muss. Tatsache:
Behauptung: Dass es keine Handschriften des Mehrheitstextes vor dem 4. Jahrhundert gibt, liegt am feuchtwarmen Mittelmeerklima, in dem Hand- schriften nur eine Lebensdauer von normalerweise 150-200 Jahren haben. Die alexandrinischen Handschriften hingegen blieben im trocken-heißen Wüstenklima Ägyptens erhalten. Tatsache: Im Mittelmeerraum ist es nicht feucht-warm, sondern überwiegend trocken. Noch heute lagern viele sehr alte Handschriften in Griechenland und Italien.Die ältesten uns erhaltenen Handschriften des Mehrheitstextes (der Codex Alexandrinus und der Codex Ephraëmi Rescriptus jeweils in den Evangelien), sind aus dem 5. Jh., also nur rund 100 Jahre jünger als der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus. Behauptung: Die sog. „Lukianische Rezension“ im 4. Jahrhundert, auf die der Mehrheitstext zurückgehen soll, ist eine willkürliche Annahme, für die es keine geschichtlichen Beweise gibt. Tatsache: Diese Beweise gibt es durchaus. Hieronymus z.B. berichtet im Vorwort zu seiner Revision der Evangelien, dass er die Hand- schriften, die auf Lukian und Hesych zurückgehen, nicht verwendet habe, da diese den griechischen Text „korrigiert“ und durch Zusätze erweitert hätten (Merkmale des Mehrheitstextes und des sog. „D-Textes“!); doch ein Vergleich mit älteren (!) Handschriften und Übersetzungen zeige, dass ihre Korrekturen falsch seien.11 Fazit: Weder der Textus Receptus noch der Nestle-Aland geben Anlass dazu, das Evangelium neu zu definieren. Die Behauptung, moderne textkritische Ausgaben des Griechischen NT beruhten auf gnostisch gefärbten Handschriften und verfälschten das Wort Gottes, muss als unhaltbar zurückgewiesen werden. Obwohl der Textus Receptus eine relativ schlechte Bearbeitung nur weniger später Handschriften ist, stimmt er mit dem Nestle-Aland insgesamt doch in erstaunlich hohem Maß überein. Man kann daher nur dankbar anerkennen, dass Gott sein Wort durch die Jahrhunderte trotz aller menschlichen Fehler bewahrt hat. Wo beide Ausgaben voneinander abweichen, ist in der Regel dem Nestle-Aland-Text der Vorzug zu geben, da dieser als Ergebnis jahrzehntelanger gründlicher Forschung nahezu alle bekannten Handschriften, insbesondere die ältesten und zuverlässigsten Textzeugen berücksichtigt. Sacherklärungen:
Alexandrinischer Text: Benannt nach Alexandria in Ägypten. Die ältesten Handschriften weisen übereinstimmend diesen Texttyp auf (durch Papyrusfunde nachweisbar bis ins frühe 2. Jh.). Byzantinischer Mehrheitstext: Texttyp, der von der Mehrheit der griechischen Handschriften geboten wird; benannt nach Byzanz, der Hauptstadt des oströmischen Reiches (nachweisbar ab dem 4./5. Jahrhundert). Dieser Text setzte sich im Osten als Norm durch. Seine Merkmale sind: Harmonisierung von Paralleltexten, v.a. der Evangelien, Kombination mehrerer zuvor überlieferter Lesarten zu einer, Verbesserung vermeintlich oder tatsächlich falscher Lesarten und leichte Angleichung der Sprache an das klassische Griechisch. „D-Text“: Früher aufgrund inzwischen als falsch erkannter Annahmen Westcotts und Horts auch „westlicher Text“ genannt. Hauptzeugen: Codex Bezae (D) in Evangelien und Apostelgeschichte sowie wenige andere Handschriften. Dieser Text weist deutlich redaktionelle Eingriffe auf (Hinzufügungen, Streichungen, Umformulierungen).
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