3. Ausgewählte Textstellen zur Veranschaulichung
textkritischer Entscheidungen
Im Laufe der Jahrhunderte sind beim Schreiben nach
Diktat bzw. beim Abschreiben der Texte nach der
Vorlage einer Handschrift zahlreiche, zum Teil
erhebliche Veränderungen am Textentstanden. Die sich
daraus ergebenden »neuen Lesarten« gehen nicht nur
auf Schreib- oder Hörfehler zurück. Es konnte auch
Vorkommen, dass ein Kopist Probleme mit der Vorlage
hatte und zur besseren Verständlichkeit eine
»Verbesserung« vornahm. Man unterscheidet also
zwischen versehentlichen und bewussten
Textänderungen. Die bewussten Textänderungen können
wiederum verschiedene Ursachen haben. Zum Beispiel
wollte ein Abschreiber entweder eine
stilistische Verbesserung (»Glättung«) vornehmen
oder er hielt eine lehrmäßige (dogmatische)Korrektur
für nötig. Die Textkritik spürt diesen Fehlern bzw.
Textänderungen nach, um zu versuchen, nach
bestimmten wissenschaftlichen Regeln den
ursprünglichen Text herauszufinden. Dabei stellt sie
zunächst die verschiedenen Wortlaute (»Lesarten«) zu
einem bestimmten Vers nebeneinander und vergleicht
sie. Dann versucht sie eine Beurteilung. Leitend ist
dabei u. a. die Frage: Welcher Weg ist
wahrscheinlicher - wurde Variante »1« so geändert,
dass daraus Variante »2« entstand, oder war es eher
umgekehrt?
Im Einzelnen werden die Lesarten nach folgenden
Regeln beurteilt;
a) Feststellung des Handschriftenbefundes,
b) Welche Handschriften bezeugen die Textlesart?
c) Welche Handschriften bezeugen eine davon
abweichende Lesart?
d) Handschriften wägen (Qualität) geht vor dem
Zählen (Quantität),
e) Die kürzere Lesart (lectio brevior) kann die
ursprüngliche sein,
f) Die schwierigere Lesart (lectio difflcilior) kann
die ursprüngliche sein,
g) Eine Lesart dürfte ursprünglich sein, wenn die
äußeren (d. h. die Textzeugen in ihrem Wert)mit den
inneren Kriterien (z. B. lectio difflcilior)
übereinstimmen.
Dahinter stehen folgende Schritte und Überlegungen:
a) ln welchen Handschriften kommt der betreffende
Bibelvers überhaupt vor? Der Wissenschaftler
(»Textkritiker«) hat aufgrund seiner Kenntnisse hier
gleich schon einen Eindruck, welche dieser
Handschriften älter und welche jünger sind,
b) Für einen bestimmten Wortlaut werden alle
Handschriften (»Textzeugen«) benannt, die diesen
Wortlaut unterstützen,
c) Andere Lesarten werden von anderen Handschriften
gestützt. Mal liegt nur eine einzige alternative
Lesart vor, mal sind es mehrere verschiedene. Im
einen Fall wird also Variante »1«mit Variante »2«
verglichen, in einem anderen Fall werden Varianten
»1«, »2«, »3« und »4«untereinander verglichen,
d) Es ist nicht aussagekräftig, durch wie viele
Handschriften eine Variante unterstützt wird. Es
kann Vorkommen, dass zehn oder noch mehr
Handschriften für Variante »1« sprechen und nur eine
oder zwei für Variante »2«, doch diese beiden sind
älter und bewährter als die anderen Handschriften.
Dann fällt das Urteil zugunsten von Variante »2«
aus.
e) Die Regel, dass die kürzere Lesart oft die
ursprünglichere ist, leitet sich aus folgender
Überlegung her: Der Text, den man abschrieb, war Ja
in gewisser Hinsicht heilig. Es ist weniger
wahrscheinlich, dass ein Kopist etwas vom heiligen
Text ausließ. Eher denkbar ist es, dass etwas - z.
B. Erklärendes - hinzufügte
f) Die Regel, dass die schwierigere Lesart oft die
ursprüngliche ist, beruht auf folgender Einsicht:
Wenn jemand einen Text abschreibt, ist es gut
denkbar, dass er über schwierige Stellen» stolpert«.
Das können grammatische Unstimmigkeiten sein,
stilistische Härten oder inhaltlich schwierige
Ausdrücke. Eine grammatische Schwierigkeit kann dem
Kopisten oft geradezu falsch vorgekommen sein. All
das sind Situationen, wo es naheliegt, dass ein
vermeintlicher odertatsächlicher grammatischer
Fehler korrigiert wurde, dass eine stilistische
Härte geglättet und eleganter formuliert wurde, dass
ein vermeintlich anstößiger Inhalt eher mit anderen
biblischen Aussagen in Einklang gebracht wurde. Der
umgekehrte Fall - nämlich dass ein Abschreiber eine
Schwierigkeit oder Härte dort einbaute, wo zuvor
keine war - ist demgegenüber sehr unwahrscheinlich.
Daher werden die schwierigeren Lesarten meist als
ursprünglich eingeschätzt,
g) Zur abschließenden Beurteilung versucht man, die
Qualität der Handschrift insgesamt und die
Betrachtung der speziellen Stelle miteinander in
Einklang zu bringen. Das Alter und die Qualität
(Zuverlässigkeit) einer Bibelhandschrift nennt man
dabei die »äußere Bezeugung«. Das Betrachten der
Lesarten - z. B. die Benennung der »kürzeren Lesart«
und der »schwierigeren Lesart« - heißt »innere
Bezeugung«. Am klarsten ist der Fall, wenn äußere
und innere Bezeugung übereinstimmen, also wenn die
ältesten Handschriften z.B. auch die kürzeren
Lesarten enthalten. Es kann aber auch Vorkommen,
dass eine ältere Handschrift die einfachere Lesart
enthält und eine spätere Handschrift die
schwierigere Lesart. Dann muss man aufgrund der
wissenschaftlichen Erfahrung eine begründete
Entscheidung treffen. Schließlich kann es auch noch
Vorkommen, dass die Kriterien für die einzelnen
Varianten sich letztendlich die Waagehalten. Zum
Beispiel könnte man erklären, wie Variante »2« aus
Variante »1« entstanden ist, aber für den
umgekehrten Weg - Variante »1« ist aus Variante »2«
entstanden - gäbe es eine ebenso gute Erklärung.
Manchmal muss man dann die Entscheidung einfach
offen lassen.
Die getroffene Einschätzung wird dann an
entsprechender Stelle in der textkritischen
Bibelausgabe aufgenommen. Die wahrscheinlich
ursprüngliche Lesart kommt in den fortlaufenden
Bibeltext; die spätere Lesart bzw. die späteren
Lesarten werden unten auf der Seite im sogenannten
»textkritischen Apparat« dokumentiert. Dieser
Apparat meint die Aufzählung der Lesarten und der
sie unterstützenden Handschriften.
Beispiele für Ergebnisse dieser akribischen Arbeit
finden sich im textkritischen Apparat der
vorliegenden Ausgabe. Sie sind - mit freundlicher
Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft -
erstellt auf der Grundlage von: Nestle-Aland, Novum
Testamentum Graece,28., revidierte Auflage, hg. von
Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos,
Carlo M. Martini und Bruce M. Metzger in
Zusammenarbeit mit dem Institut für
Neutestamentliche Textforschung, Münster, © 2012
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Nachfolgend
einige Anschauungsbeispiele:
AUS:
Neues Testament
Textkritische Ausgabe
Bearbeitet von Michael Welte
SCM R. Brockhaus, Witten
Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg
SCM R. Brockhaus, Witten
Kunstleder grau ISBN 978-3-417-25950-6 Bestell-Nr.
225.950
Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg
Kunstleder grau ISBN 978-3-89436-794-7 Bestell-Nr.
273.79 |