SEHT DA KOMMT DER TRÄUMER HER.   

Karl Gerok

Fröhlich wallt auf Sichems Triften
Joseph her im bunten Rock,
Goldbesäumt in Abendlüften
Spielt sein fliegendes Gelock;
Doch der Brüder falsche Rotte
Haßt den Jüngling, sanft und hehr,
Und sie lacht mit rohem Spotte:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Ja, wo noch in Kindesweise
Fromm ein Herz am Vater hängt
Und vom Staub zum Sternenkreise
Ahnungsvoll die Blicke lenkt:
Immer höhnt die Welt, die blinde,
Denn sie faßt es nimmermehr,
Spottet ob dem Gotteskinde:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Ja, wo noch ein Herz voll Liebe
Arglos für die Brüder schlägt,
Und durchs wüste Weltgetriebe
Offen seine Schätze trägt:
Seine Grube ist gegraben,
Tückisch, ohne Gegenwehr
fängt die Welt den armen Knaben:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Ja, wo noch der Sünde Ketten
Kühn ein Gottesmensch zerriß,
Und, die Seele zu erretten,
Kleid und Mantel fahren ließ:
Ferne von der Brüder Tischen,
Ein Verbannter, wandelt er,
Und die losen Spötter zischen:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Aber sehet zu, ihr Brüder,
Bis die Zukunft sich enthüllt,
Einst erscheint der Träumer wieder,
Und die Träume sind erfüllt;
Angstvoll liegt ihr auf den Knien,
Eure Herzen klopfen schwer,
Gerne möchtet ihr entfliehen:-
"Seht da kommt der Träumer her!"

Kommt im königlichen Kleide,
Kommt im Goldschmuck Pharaos,
Angetan mit weißer Seide,
Hehr und herrlich, fremd und groß;
Zitternd lauscht ihr, ob er zürne,
Doch, das Aug´ von Tränen schwer,
Senkt er mild die hohe Stirne,-
"Seht da kommt der Träumer her!"

Neigen jetzt nicht eure Garben
Vor des Bruders Garbe sich?
Kennt ihr ihn, vor dessen Farben
Sonne, Mond und Stern erblich?
Doch getrost, sein sanft Erbarmen
Gönnt euch frohe Wiederkehr,
Himmlisch mild mit offnen Armen,
"Seht so kommt der Träumer her!"

Und so kommt noch im Triumphe
Manch verachteter Prophet,
Den das Volk, das blinde, stumpfe,
Erst als Träumer hat geschmäht:
Kühn, von seinem Gott ergriffen,
Zog er über Land und Meer,
Siegreich, auf beflaggten Schiffen,
"Seht so kommt der Träumer her!"

Doch zuletzt kommt einer wieder,
Königlich in Himmelstracht,
Den hienieden falsche Brüder
Hart verhöhnt und schnöd verlacht;
Hinter ihm die rohe Rotte
Klirrt mit Nagel, Hammer, Speer,
Vor ihm zischt´s mit gift´gem Spotte:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Unter schwerem Kreuzesstamme
Kommt er blutend und bestaubt,
Schweigend gleich dem Opferlamme
Senkt er sein erhabnes Haupt;
Durch die ausgestorbnen Gassen,
Die von allen Freunden leer,
Wankt er einsam und verlassen:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Träumt´ er nicht von einem Throne,
Nicht von einem Königreich?
Und er trägt die Dornenkrone,
Blutbespritzt und todesbleich!
Träumt´ er nicht von Lieb und Frieden,
Nicht von Edens Wiederkehr?
Und ihm ward ein Kreuz beschieden:
"Seht da kommt der Träumer her!"

Ja er kommt, und kommt einst wieder,
Wenn die Zukunft sich enthüllt:
Dann erzittert, falsche Brüder,
Denn die Träume sind erfüllt;
Bebend liegt ihr auf den Knieen,
Eure Herzen klopfen schwer,
Gerne möchtet ihr entfliehen,
-"Seht da kommt der Träumer her!"

Kommt im königlichen Kleide,
Himmlisch fremd und göttlich groß,
Angetan mit weißer Seide,
Herrlicher denn Salomos,
Mit des Vaters Legionen,
Mit des Himmels hellem Heer,
Um zu strafen und zu lohnen -
"Seht so kommt der Träumer her!"

Neigt er dann die hohe Stirne
Gnädig euch vom Richterthron? -
O so kommt, daß er nicht zürne,
Eilt und küsset noch den Sohn,
Ehe die Posaune schallet
Und die große Wundermär
Donnernd durch die Grüfte hallet:
"Seht da kommt der Träumer her!"