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Wie sollen wir

das

Evangelium verkündigen?

 

(Ein kirchengeschichtlicher Abriss

von der Reformation bis heute)

 

 

 

Dr. theol. Karsten Ernst

 

 

© Dr. theol. Karsten Ernst, Filderstadt bei Stuttgart, 1997

 

 

 

Diese Arbeit erschien zuerst 1997 im Missionsverlag Bielefeld, dann im Informationsbrief August 1999 der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“

 

 

1. leicht überarbeitete Neuauflage Januar 2000

 

 

 

 

 

 

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Patrick Tschui, Heuweidlistr. 12, CH-8340 Hinwil

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Kommentare, Fragen und biblisch begründete Kritik zu dieser Broschüre sind ebenfalls willkommen.

Inhaltsverzeichnis

 

I. Vorwort .................................................................................. 

II. Biblische Hinführung ............................................................           

III. Hauptteil

            A. Die Reformation .............................................................          

            B. Grossbritannien und Amerika im 18. und 19. Jahrh. .....        

                        1. Der Methodismus unter John Wesley und

                                    George Whitefield .     

                                                a) John Wesley (1703-1791). 

                                                b) George Whitefield (1714-1770)   

                                                c) Der Bruch zwischen John Wesley und

                                                            George Whitefield       

                                                d) Eine Bewertung dieser Auseinandersetzung    

                        2. Charles Finney (1792-1875)   

                        3. Dwight L. Moody (1837-1899)

            C. Deutschland (17.-19. Jahrhundert)

                        1. Der alte Pietismus

                        2. Der neuere Pietismus

            D. Das 20. Jahrhundert

IV. Schlussfolgerungen

V. Quellenangaben

 

 

I. Vorwort

 

Grundlage dieser kleinen Schrift ist ein Vortrag, den ich 1997 auf der Ostfahrer-Tagung in Nonnenmiss (im Schwarzwald) gehalten habe. Diese Schrift ist in der Tat nicht viel mehr als ein kirchengeschichtlicher Abriss. Vieles in diesem Vortrag ist daher nur angedeutet, und manches konnte nur sehr knapp angesprochen werden. Wer eine umfassende kirchengeschichtliche Studie zum Thema Wie sollen wir das Evangelium verkündigen? erwartet, wird von dieser Schrift sicherlich enttäuscht sein. Es werden nur ganz grundlegende Entwicklungen in der Gemeinde Jesu aufgezeigt, die uns helfen sollen, manches, was wir heute erleben, besser einzuordnen.

Hoffentlich nehmen freikirchliche Leser keinen Anstoss daran, dass ich den kirchengeschichtlichen Abriss mit Luther beginne. Luther scheint vielen schon deswegen verdächtig zu sein, weil er eine freikirchliche Verfassung der Kirche ablehnte, die Wiedertäufer bekämpfte und sehr unfreundlich über die Juden sprach. Obwohl ich selber freikirchlich bin und manche Ansichten von Luther nicht teile, so kann ich doch nicht umhin, ihm meinen tiefen Respekt zu bezeugen. Ähnliches tat Spurgeon mit Calvin. Es wird nämlich allzuoft übersehen, aus welcher geistlichen Finsternis Luther die Gemeinde Jesu herausgeführt hat, wie er dem Worte Gottes wieder Geltung verschafft hat und wie durch ihn das Evangelium von der Gnade Gottes wieder in den Mittelpunkt der Verkündigung gerückt wurde. Der Genfer Reformator Calvin vergleicht ihn daher zu Recht mit einem „Erstling unter den Knechten Christi, dem wir alle viel schulden“. Und in einem Brief an Bullinger schreibt Calvin trefflich: „Selbst wenn er mich einen Teufel schelten sollte, so würde ich ihn dennoch für einen erlesenen Gottesmann halten, der freilich auch unter grossen Fehlern leidet, wie er an herrlichen Tugenden reich ist.“

Ich hoffe, dass diese Schrift etliche anregt, erneut oder zum ersten Mal, in der Heiligen Schrift und in der Kirchengeschichte zu forschen und zu fragen: Wie sollen wir das Evangelium verkündigen?

 

Filderstadt, den 20. Juni 1997

Dr. theol. Karsten Ernst

 

II. Biblische Hinführung

 

Liebe Geschwister! Liebe Freunde!

Wir wollen uns heute mit der Frage beschäftigen, welches Evangelium wir verkündigen – und wie wir es verkündigen – und welche Antworten wir in der Kirchengeschichte zu dieser Frage finden.

Doch zunächst lesen wir 1.Kor 7,23. Paulus redet in diesem Abschnitt davon, dass jeder in dem Stand bleiben soll, in dem Gott ihn berufen hat, und sagt dann: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.“ Schon ein Kapitel vorher hatte er, wo es um ein anderes Problem ging, den gleichen Ausdruck gebraucht. In 1.Kor 6,20 hob er hervor, dass wir teuer erkauft sind, um dann daraus den Schluss zu ziehen: „…darum so preiset Gott an (bzw. mit) eurem Leibe.“

Paulus möchte also – dies zeigen die beiden Verse ganz deutlich –, dass unser Denken und Handeln auf eine ganz bestimmte Art und Weise geprägt sein soll: Wir sind teuer erkauft, darum handelt so und so. Geht mit eurem Leibe und mit eurem Stand in rechter Weise um: Der eine ist frei, der andere ist Sklave. So oder so, ihr seid teuer erkauft, darum werdet nicht der Menschen Knechte!

Es war eine Warnung, die die Korinther sehr nötig hatten, denn am Ende des 2. Korintherbriefes stellt Paulus fest: „Ihr ertragt es, wenn euch jemand knechtet, wenn euch jemand ausnützt, wenn euch jemand gefangennimmt, wenn euch jemand erniedrigt, wenn euch jemand ins Gesicht schlägt.“ (2.Kor 11,20)

Das Denken war nicht richtig geprägt, und aus dem falschen Denken folgte ein falsches Handeln. Daher die wiederholte Ermahnung des Apostels: „Werdet nicht der Menschen Knechte! Lasst euch nicht von Menschen in Beschlag nehmen, die euch auf falsche Wege führen.“

Nun: was ist ein Knecht? Was kennzeichnet einen Knecht Christi und was kennzeichnet einen Menschenknecht? Wir können das Wort Knecht ganz einfach definieren:

Ich bin ein Knecht, wenn ich mit meinem Denken,

Wollen und Fühlen vollkommen abhängig bin von jemand.

Paulus ist ein Knecht Jesu Christi, weil er sagt: „Ich bin vollkommen abhängig von meinem Herrn, in allem. Mein Wollen, Fühlen, Denken und Handeln hängt ganz von meinem Herrn ab.“ Ein Menschenknecht wäre dagegen jemand, der nicht von Jesus abhängig ist, sondern von Menschen.

Sind wir Knechte von Menschen oder sind wir Knechte Jesu Christi? Sind wir abhängig von Menschen? Geben sie uns vor, was wir denken, fühlen, was wir wollen oder tun sollen? Oder gibt uns Jesus vor, was und wie wir denken, fühlen und wollen?

Wir könnten viele, sehr viele Bereiche unseres Lebens durchgehen, und uns dabei diese einfache Frage stellen: Bin ich ein Knecht von Menschen oder ein Knecht Jesu Christi? Ich möchte aber nur einen Bereich herausgreifen, der für das Leben der Gemeinde Jesu von zentraler Bedeutung ist, nämlich den Bereich der Verkündigung des Evangeliums. Und hier wollen wir uns fragen: Sind wir Knechte von Menschen oder sind wir Knechte Jesu Christi?

Paulus sagt im Galaterbrief: „Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zuliebe? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht.“ (Gal 1,10) „Was tue ich denn?“ fragt Paulus die Galater. „Versuche ich, Menschen zu gefallen? Wenn ich das täte, dann wäre ich eigentlich nicht an dem Platz, wo ich sein sollte. Ich hätte meinen Beruf als Apostel und Lehrer des Evangeliums verfehlt.“

Paulus achtet also darauf, dass er nicht Menschen zu Gefallen predigt, und zwar in zweifacher Hinsicht:

1. in dem, was er predigt und verkündigt

In Galater 1,11 schreibt er: „Denn ich tue euch kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist“, d.h. „Ich bringe euch nicht eine Botschaft, die menschlich ist.“ Es ist eine Botschaft, von der er sagt – und das ist das Thema des Galaterbriefes –, dass sie unter keinen Umständen geändert werden darf. Es ist ein Evangelium, das unabänderlich durch die Jahrhunderte hindurch bestehen bleiben muss.

2. in dem, wie er das Evangelium verkündigt

Er achtete nicht nur darauf, dass das Richtige gesagt wurde, sondern auch, dass es in der richtigen Art und Weise gesagt wurde. Den Thessalonichern bezeugt er:

„Denn wir sind nie mit Schmeichelworten umgegangen, wie ihr wisst, noch mit versteckter Habsucht – Gott ist Zeuge.“ (1.Thess 2,5) Oder gegenüber den Korinthern hebt er hervor: „sondern wir meiden schändliche Heimlichkeit und gehen nicht mit List um, fälschen auch nicht Gottes Wort, sondern durch Offen-barung der Wahrheit empfehlen wir uns dem Gewissen aller Menschen vor Gott“ (2.Kor 4,2). Wir meiden schändliche Heimlichkeit – Warum? Warum verkün-digte Paulus das Evangelium so, wie er es verkündigte?

Nun, zwei Dinge bestimmten den Apostel:

1. Paulus war der Überzeugung, dass es Gott gefällt, durch die Torheit der Predigt Menschen zum Glauben zu rufen, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben: „Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.“ (1.Kor 1,21) Oder im Römerbrief heisst es: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ (Röm 10,17)

2. Paulus war der Überzeugung, dass die Verkündigung in Erweisung des Geistes und der Kraft geschehen muss: „Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit grossem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“ (1.Kor 2,3–5) Gott selber muss durch die Predigt wirken, damit die Predigt wirksam werden kann.

Wenn wir uns Paulus und seinen Dienst anschauen, so müssen wir uns in unseren Tagen zwei Fragen stellen:

1. Wissen wir eigentlich noch wie Paulus, was wir zu verkündigen haben?

2. Wissen wir wie Paulus, wie wir es zu verkündigen haben?

Zur ersten Frage: Wir wollen evangelisieren, missionieren – aber was wollen wir eigentlich vermitteln? Vor ein paar Jahren war ich auf einer Evangelisation. Eine Frau hielt die Predigt. Während der Predigt gab es eine Unterbrechung. Während dieser Pause sollte man sich am Tisch über das bisher Gesagte unter-halten. Ein älterer Mann versuchte, mit mir und meinem Freund ins Gespräch zu kommen. Ich stellte diesem Mann im Laufe des Gesprächs folgende Frage: „Die Botschaft, wie wir sie gerade von vorne gehört haben, ist dies eigentlich die Bot-schaft, die wir aus der Schrift kennen?“ Ich nannte ihm einige Bibelstellen und versuchte es zu erläutern: „Schauen Sie, diese Predigt war doch sehr einseitig: Es wurde nur von der Liebe Gottes geredet. Aber kann man von der Liebe Gottes reden, wenn man nicht vorher deutlich auf den Zorn Gottes hinweist und darauf, was es heisst, Sünder zu sein?“ Ich bekam daraufhin eine Antwort, die mich tief erschütterte. Der Mann sagte: „Ja wissen Sie, so genau kenne ich mich mit der Schrift auch nicht aus!“ Da war ein Mann: Er wollte auf einer Evangelisation helfen, er wollte mitevangelisieren. Doch schon bei der ersten Rückfrage musste er zugeben: „Ich kenne mich in der Schrift nicht aus!“ – Was verkündigen wir? Was für eine Botschaft haben wir? – Wieviele Menschen überlegen sich in der Gemeinde heute: Mit wem kann ich auf Evangelisationen zusammenarbeiten? Macht es etwas aus, wenn ein katholischer Priester dabei ist? Wo sind die Grenzen?

Zur zweiten Frage: Wissen wir als Gemeinde noch, warum wir das Evangelium so verkündigen, wie wir es verkündigen? Haben wir uns darüber Gedanken gemacht? Eine Vielzahl von Ideen überflutet den „Markt der Möglichkeiten“ in der Gemeinde Jesu. Wie wichtig ist es da, dass wir diese beiden Fragen klären können: Weisst du, was du verkündigst, und weisst du, warum du es so und nicht anders verkündigst? Wir sind ja heute so orientierungslos geworden: Wir haben heute eine Vielzahl von Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Aber es ist die Frage, ob sie uns dahin bringen, wo sie uns hinbringen sollten, und ob sie uns auf dem Weg halten, den uns der Herr durch das Neue Testament vorgezeichnet hat!

Nun, wir wollen bei der Beantwortung dieser Fragen einen Blick in die Kirchengeschichte werfen, und zwar aus zwei Gründen:

1. Sie hilft uns zu verstehen, warum wir als Gemeinde Jesu so sind, wie wir sind!

2. Sie hilft uns zu sehen, wie gesegnete Männer Gottes diese Fragen be-antworteten.

 

III. Hauptteil

A. Die Reformation

Ich möchte mit der Reformation beginnen. Die Grundüberzeugung zu unserem Thema hat Luther im Kleinen Katechismus zusammengefasst. Er sagt bei der Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben.“ 1) Mit diesen wenigen Sätzen fasst Martin Luther zusammen, was man während der Reformation unter Evangelium verstand.

Martin Luther zeigt hier drei Dinge auf:

1. Der Mensch ist vollkommen unfähig, aus eigenem Vermögen und eigener Kraft heraus zu Gott zu kommen.

„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann.“ Ich bin unfähig, ich bin nicht in der Lage, aus eigener Kraft zu Gott zu kommen. Luther sagt damit: „Selbst wenn wir wollten, wir könnten es nicht, da uns das Vermögen, die Kraft, fehlt.“ Ja, wer kann dann gläubig werden, wer kann dann selig werden? Das führt zu dem zweiten Punkt.

2. Der Heilige Geist beruft und erleuchtet Menschen.

Gott selber wirkt durch seinen Geist an Menschenherzen und schafft Ver-änderung, so dass Menschen an ihn glauben.

Schliesslich hebt Luther hervor, wie der Geist wirkt:

3. Durch das Evangelium wirkt er die Berufung und Erleuchtung eines Menschen.

„Der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“ Luther war der Über-zeugung, dass der Mensch durch die Sünde so verdorben ist, dass er vollkommen unfähig ist, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf herauszuziehen. Nein, Gott selber muss ihn befähigen, Gott selber muss eingreifen. Der Mensch kann sich gar nicht aus eigener Kraft für Gott entscheiden.

Nun, diese Sichtweise ist vielen Kreisen, selbst solchen, die sich auf Luther berufen, sehr fremd geworden. Wir sind der Meinung, der Mensch kann, wenn er nur will. Man muss ihm nur noch den Weg zur Rettung zeigen, und dann liegt es an ihm, dort hinzuschwimmen und das rettende Ufer zu erreichen. Doch Luther sagt: „Nein, wir haben einen solchen Schiffbruch erlitten, dass wir völlig hilflos im Meer umhertreiben und – wenn nicht Hilfe von aussen kommt – umkommen werden. Doch Gott selber wirkt durch das Evangelium, der Geist Gottes wirkt durch sein Wort. Er beruft und erleuchtet Menschen.“

Damit legte Luther den Grund für die Art und Weise, wie man in den nach-folgenden Jahrhunderten evangelisierte: Gottes Wort wurde ins Zentrum gerückt, Gottes Wort alleine. Manche Kirchen der Reformation brachten dies sogar dadurch zum Ausdruck, dass sie alles aus der Kirche hinausschafften und nur noch eins in den Mittelpunkt rückten: die Kanzel. Gottes Wort wirkt, und durch Gottes Wort wirkt Gottes Geist. Durch sein Wort errettet Gott Menschen, durch die Torheit der Predigt. Durch ein törichtes Wort, ein Wort, worüber Menschen nur spotten können, werden Menschen errettet.

Aber was für ein gewaltiges Wort war es doch in der Zeit der Reformation! Wenn wir uns das anschauen: Da ist dieser geistlich völlig finstere Kontinent Europa und es gefällt Gott, allein durch die Torheit der Predigt – und jetzt hört genau hin – Hunderttausende von Menschen zum Glauben zu führen! Hundert-tausende! Wir machen uns keine Vorstellung davon, was der Herr damals gewirkt hat, durch sein Wort! Österreich wurde zu über 80 Prozent protestantisch. Ein Kirchengeschichtsbuch vermerkt: „In Österreich hatte um die Mitte des 16. Jahr-hunderts die Reformation überall tiefe Wurzeln geschlagen. Neun Zehntel der Ein-wohner waren protestantisch.“ 2) Als im 18. Jahrhundert die Protestanten aus dem Salzburgerland vertrieben wurden, verliessen über 20.000 ihre Heimat, getrieben von der Überzeugung: „Lieber die Heimat verlassen, als den Glauben aufgeben!“

Auch in Frankreich entstand allein durch Gottes Wort eine grosse geistliche Bewegung. 1572 richteten die Katholiken in der sogenannten Bartholomäusnacht ein Blutbad unter den Protestanten an. Etwa 20.000 Menschen wurden ermordet. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Hugenotten in Frankreich brutal verfolgt. Sie hatten nur drei Möglichkeiten: Auswanderung, Untergrund oder Ge-fangenschaft und Tod. „Überall floss das Blut der evangelischen Bekenner und Gläubigen in Strömen; allein im Languedoc [Südfrankreich] wurden gegen 100.000 Protestanten niedergemacht.“ 3) 500.000 Franzosen verliessen ihre Hei-mat. In Lausanne wurde ein geheimes Predigerseminar eingerichtet, um Pastoren für die in Frankreich zurückgebliebenen Gläubigen auszubilden. Weit über hundert Geistliche sind aus diesem Seminar hervorgegangen, um der ‚Kirche in der Wüste‘, wie man die verfolgte Gemeinde Jesu in Frankreich bezeichnete, zu dienen. Es waren Kandidaten des Todes. Broadbent schreibt über dieses Seminar: „Es war eine Märtyrerschule, denn ein grosser Teil der Männer, die von dort an die Arbeit in Frankreich gingen, wurden gehängt, einige in ganz jungen Jahren.“4) Sie haben das Wort Gottes verkündigt, ganz schlicht die Bibel verbreitet und vielleicht ein paar Bücher.

Auch in England breitete sich während der Zeit der Reformation und der Gegenreformation Gottes Wort aus. 1662 machte es in England Charles II. durch die ‚Act of Uniformity‘ vielen englischen Geistlichen unmöglich, innerhalb der englischen Staatskirche zu bleiben. Etwa 2000 Pastoren (= 20% aller englischen Pastoren) verliessen daraufhin die Kirche und gründeten Freikirchen.

Das Wort Gottes war die Grundlage dessen, was wir als Reformation bezeich-nen. Sola Scriptura – die Schrift allein. Es herrschte die Überzeugung: Gott wirkt durch sein Wort. Wenn wir sein Wort verkündigen, wird es nicht leer zurück-kommen. Gott hatte verheissen, dass durch sein Wort Menschenherzen umge-wandelt werden. Die Predigt des Evangeliums war das wichtigste Evangelisations-mittel.

Überlegen wir einmal: Welch ‚primitive‘ Mittel verwendeten die Gläubigen in jenen Tagen: die Bibel, ein paar Bücher und die Predigt des Evangeliums. Doch es brachte Gläubige hervor, die bereit waren, Haus und Hof zu verlassen und die gegebenenfalls auch ihr Leben opferten. Was für ein Unterschied zu dem, was wir heute erleben. Welcher Aufwand wird in unseren Tagen betrieben, um Menschen für das Evangelium zu interessieren: Theater, Pantomime, Zirkus, Musikeinlagen, Talkshow oder was sonst noch an Attraktionen möglich ist. Es gibt kaum etwas, was wir heute auf Evangelisationen nicht finden werden.

Doch wie kam es, dass das, was man in der Reformation erkannt hatte, durch neue – moderne – Evangelisationsmethoden ersetzt wurde? Wir müssen uns dazu die geistlichen Entwicklungen in Grossbritannien und Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert etwas genauer anschauen.

 

 

B. Grossbritannien und Amerika im 18. und 19. Jahrhundert

1. Der Methodismus unter John Wesley und George Whitefield

Als 1729–31 der französische Baron Montesquieu England besucht hatte, sagte er: „Wenn irgendjemand über Religion sprach, lachte jedermann.“ Die Engländer schienen in seinen Augen überhaupt keine Religion zu haben. Nach der Reforma-tion im 16. Jahrhundert und der segensreichen Ausbreitung des Wortes Gottes zur Zeit der Puritaner im 17. Jahrhundert hatte England einen beispiellosen geistlichen Niedergang erlebt.

Doch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gefiel es Gott, ein grosses geist-liches Erwachen zu schenken. Es begann mit einer kleinen Gruppe junger Studen-ten in Oxford. Die beiden bekanntesten sind John Wesley und George Whitefield.

a) John Wesley

John Wesley (1703–1791) wurde nach seinem Studium als Pastor der englischen Staatskirche ordiniert. 1738 besuchte er eine Versammlung, in der Luthers Vorrede zum Brief an die Römer vorgelesen wurde. Beim Vorlesen dieser Schrift bekehrte sich John Wesley. Ab 1739 zog er kreuz und quer durch das Land. Im Juni 1739 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich betrachte die ganze Welt als mein Kirchspiel.“ Viele Jahre legte er jährlich durchschnittlich rund 13.000 Kilometer zurück und predigte nicht weniger als tausendmal. Er suchte selbst die entlegensten Winkel Englands auf. Als er 1791 starb, hatte er über 40.000 Predigten gehalten. Ob in Kirchen oder im Freien – wo immer er konnte – predigte er. Nicht selten lauschten 15.000 bis 20.000 Menschen seiner Predigt. Als er siebzig Jahre alt war, predigte er einmal vor 30.000 Menschen.

b) George Whitefield

Ebenso bedeutend ist George Whitefield (1714–1770). Von 1732–1735 studierte er am Pembroke College in Oxford. Er kam damals in Kontakt mit John und Charles Wesley. Nach schweren geistlichen Kämpfen bekehrte er sich 1735. Ebenso wie John Wesley zog er fortan predigend durchs Land, allerdings nicht nur in England, sondern seine Reisen führten ihn auch nach Schottland, vor allem aber nach Nordamerika. Tausende von Menschen fanden durch seine Predigten neues Leben in Jesus Christus.

c) Der Bruch zwischen John Wesley und George Whitefield

Diese gesegnete Bewegung spaltete sich schon früh in zwei Strömungen. Am 1. Februar 1741 schrieb John Wesley in sein Tagebuch: George Whitefield „erklärte mir, er und ich würden jeder ein verschiedenes Evangelium ver-kündigen.“ 5) Es kam zu einem Bruch zwischen Wesley und Whitefield. John Wesley lehrte zwei Dinge, die Whitefield ganz entschieden ablehnte:

1. Wesley lehrte, dass alle Menschen durch die Gnade Gottes die Möglichkeit haben, sich zu Gott zu bekehren. Er betonte die Schuld und Verantwortlichkeit des Menschen, und er sagte: „Gott hat alles getan, damit wir Menschen gläubig werden können. Nun liegt es allein – allein! – am Menschen, ob er dieses Ange-bot ergreift oder ablehnt.“ Sein Schlagwort war: „Es liegt an euch allen allein!“ Whitefield widersprach dem heftig, da er befürchtete, John Wesley mache das Heil des Menschen von seinem freien Willen und nicht von Gott abhängig: „Du machst“, so warf er John Wesley am 24. Dezember 1740 vor, „das Heil abhängig nicht von Gottes freier Gnade, sondern vom freien Willen des Menschen“ 6)

Whitefield betonte dagegen: „Es liegt nicht allein an uns Menschen, – im Gegenteil! – es liegt allein an Gott! Gott erwählt einen Menschen und errettet ihn.“ Er hielt in der Auseinandersetzung John Wesley Römer 9,16 vor: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Der Mensch – davon war Whitefield in seinem Innersten durchdrungen – hat nicht die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft zu bekehren. Nein, es ist Gottes Werk, Gott wirkt die Errettung an einem Menschen. Dies bedeutete für Whitefield aber keineswegs, die Hände in den Schoss zu legen und darauf zu warten, dass Gott Menschen bekehrt. Im Gegenteil, es war ihm ein Ansporn, mit allem Eifer Gottes Wort zu verkündigen, in der Erwartung, dass Gott seine Verheissung wahrmachen würde, durch die Torheit der Predigt Menschen zu retten.

2. Aber noch in einem anderen Punkt tat sich ein tiefer Riss zwischen diesen beiden Männern Gottes auf. Wesley glaubte, ein Christ könne schon hier auf Erden einen Zustand erlangen, wo er von der innewohnenden Sünde völlig frei sei. Ein Christ könne ein vollkommen reines Herz erlangen. Ja, er glaubte, man könne eine ‚zweite Erfahrung/Wohltat‘ (‚second benefit‘) machen, die uns so heilige, dass wir frei würden von allen Anfechtungen der Sünde.7)

Auch in diesem Punkt sah sich Whitefield genötigt, seine Stimme gegen Wesley zu erheben: „Nein!“, so war immer wieder seine Rede, „die Bibel und sowohl meine als auch die Erfahrung der anderen Gläubigen zeigt einfach, dass wir noch erbärmliche Sünder sind. Wer kann daher auf Erden je so vermessen sein zu sagen: ‚Ich bin sündlos’?“

Beide gerieten über diesen beiden Lehrfragen scharf aneinander. 1740 schrieb Whitefield aus Amerika, wo Gott gerade eine grosse Erweckung schenkte, an John Wesley: „Das Werk Gottes geht hier weiter – und das in der herrlichsten Art und Weise – durch Lehren, die den Lehren, an denen du festhältst, vollkommen entgegengesetzt sind.“ 8) Und noch deutlicher wird er kurze Zeit später: „Sehr geehrter Herr, um Jesu Christ willen bedenke, wie sehr du Gott verunehrst, indem du die Erwählung leugnest.“ 9)

d) Eine Bewertung dieser Auseinandersetzung

Wie sollen wir diesen Streit bewerten? Was sollen wir dazu sagen? Haben sie recht gehabt oder unrecht? War es eine überflüssige Auseinandersetzung? Otto Riecker sieht in der ganzen Auseinandersetzung nur eine Versuchung Satans: „Hier benutzte der Satan das Bedürfnis nach theologischer Klarheit und Sauber-keit, aber auch die Neigung zu Rechthaberei und Eigensinn, um in die junge Be-wegung Streit und Verwirrung zu bringen.“ 10)

Doch war es nur eine Versuchung Satans? War es eine überflüssige theolo-gische Debatte? War es etwas, wo Eigensinn und Rechthaberei im Mittelpunkt standen? Zwei Dinge erscheinen mir an diesem Streit bedeutsam:

1. Was mich bei diesem Streit sehr bewegt hat, ist die grosse Liebe, die zwischen diesen beiden Brüdern im Herrn weiterhin fortbestand. Sie waren in dieser Frage unterschiedlicher Meinung. Aber in der ganzen Auseinandersetzung – leider kann man das im Deutschen gar nicht nachvollziehen, weil man diese Briefe nie richtig übersetzt hat – kommt eine grosse gegenseitige Liebe zum Ausdruck. Während der Auseinandersetzung schrieb z.B. Whitefield an John Wesley folgendes: „Ich versichere, ich liebe dich vom Herzen Jesu Christi und denke, ich könnte mein Leben für dich niederlegen. Aber mein lieber Freund, ich kann mir nicht helfen, gegen deine Irrtümer auf diesem Gebiet aufzustehen, weil ich glaube, dass du dich, wenn auch nicht absichtlich, der Wahrheit, die in Christus ist, widersetzest,…“ 11) Einerseits ist Whitefield überzeugt: Ich muss etwas sagen, – andererseits aber versichert er: „Ich bin bereit, selbst mein Leben aus Liebe für dich hinzulegen.“ Die Liebe – und man muss sich das einmal vorstellen: John Wesley war ein Stück weit der geistliche Vater von George Whitefield! – bestand fort. Man respektierte sich als geistliche Brüder. Dies ist etwas, was wir von ihnen lernen können und müssen. Schauen wir doch einmal an, mit welcher Lieblosigkeit wir auf andere losgehen, nur weil wir glauben, die richtige Lehre zu haben.

2. Was diesen Streit – und deswegen gehe ich so ausführlich darauf ein – bedeut-sam macht, ist die Tatsache, dass fortan in dem Lager, das wir als evangelisch oder protestantisch bezeichnen, zwei Strömungen entstanden. Durch den Prote-stantismus zieht sich nun ein tiefer Riss.

Die eine Strömung möchte ich als reformatorisch bezeichnen. Ich meine damit die Gläubigen, die die Reformation weiterführten und sagten: „Gott beruft durch Seinen Geist und durch Sein Wort Menschen, die vollkommen unfähig sind, sich selbst zu retten. Gott greift souverän ein. Wir gehen hinaus, verkündi-gen das Evangelium und erwarten dann, dass der Herr Menschen das Herz öffnet und Wiedergeburten wirkt.“

Dagegen lässt sich die zweite Strömung als methodistisch oder arminianisch (nach Arminius, Dortrechter Synode 1618) bezeichnen. Hier wird betont: „Gott ermöglicht es, dass Menschen sich für Ihn entscheiden. Gott schafft die Möglichkeit, und wir müssen dann so wirken, dass Menschen diese Möglichkeit wahrnehmen.“

Trotz dieser Unterschiede arbeiteten beide Strömungen teilweise friedlich zusammen. Aber mit der Zeit entwickelten sich beide Richtungen immer weiter auseinander. Dies war auf Grund der unterschiedlichen Lehrauffassungen voraus-zusehen. Denn wenn es, wie John Wesley behauptet, am Menschen liegt, dass er sich für Gott entscheidet, so steht ja eine Frage im Raum: Wie bringe ich einen Menschen dazu, dass er sich entscheidet, – dass er ‚Ja‘ sagt? Beide – Wesley und Whitefield – setzten noch auf die Predigt. Doch im 19. Jahrhundert sollte sich dies grundlegend ändern. Charles Finney war der Mann, der die praktischen Schlüsse aus dem zog, was in John Wesleys Anschauungen angelegt war.

2. Charles Finney

Als ich zum Glauben kam, war Charles Finney (1792-1875) für mich das grosse geistliche Vorbild. Ich verschlang buchstäblich alle seine Schriften, die man in Deutschland kaufen konnte. Finney und Erweckung bildeten für mich eine unauflösliche Einheit. Für Erweckung sein, war für mich gleichbedeutend mit: für Finney und seine Schriften sein. Damals glaubte ich, dass nur diejenigen Finney bekämpften, die gegen Erweckung waren. Um so verwunderter war ich, als ich feststellte, dass einige derjenigen Prediger, die mir geistlich viel bedeuteten, Finney scharf angriffen. „Warum“, so fragte ich mich, „bekämpft zum Beispiel Spurgeon Finneys Erweckungsverständnis? War Spurgeon nicht auch für Erweckung?“ Es war mir ein Rätsel! Doch als ich mir das Leben und die Lehre von Finney etwas genauer anschaute, wurde mir vieles klar.

Finney wurde am 29. August 1792 in Warren (Connecticut) geboren. Zunächst war er als Anwalt tätig. Nach seiner Bekehrung (1821) wurde er Evangelist und Erweckungsprediger. Etwa zehn Jahre führte er evangelistische Erweckungsfeldzüge (‚evangelistic campaigns‘) durch. 1835 ging er nach Ohio ans Oberlin-College. Über zehn Jahre lang (1856–66) war er Präsident dieser theologischen Ausbildungsstätte. 1875 starb er dort.

Nun, was glaubte Finney, und was macht ihn so bedeutsam? Was waren seine Grundlehren? Zunächst: Finney verwirft die Reformation. Dies unterscheidet ihn ganz radikal von Wesley. Die Vorstellung der Reformation, der Mensch sei durch die Sünde völlig verdorben und Gott rechtfertige einen Sünder allein aufgrund des Sühnetodes Christi, ist für ihn ein ‚anderes Evangelium‘ (‚another Gospel‘).12) Er sagt damit: „Was die Reformation über Rechtfertigung lehrt, ist ein anderes Evangelium!“ Das ist eine schwere, grundlegende Abweichung von dem Funda-ment der biblischen Botschaft.

Warum? Nun, er macht die menschliche Fähigkeit zum Dreh- und Angelpunkt seines Denkens. Er sagt: Wenn Gott von einem Menschen etwas fordert, dann gibt er ihm dazu auch alle Fähigkeiten.

Besonders deutlich wird das in seiner Lehre von der Wiedergeburt. Kernstück der Lehre von der Wiedergeburt, wie sie in der Reformation verkündigt wurde, ist die Unfähigkeit und völlige Verdorbenheit (‚total depravity‘) des Menschen. Der Mensch hat weder die Kraft noch den Willen, sich zu retten. Der Heilige Geist greift durch die Wiedergeburt in den Menschen ein und schafft ein neues Herz und einen neuen Menschen (‚a new creation‘). Finney bekämpfte diese Lehre. Einem Menschen zu sagen, er könne, solange er nicht von neuem erschaffen sei, solange er nicht wiedergeboren sei, nur gegen Gott handeln, sei „die grösste und verabscheuungswürdigste und verwerflichste Falschheit. Es spottet seiner Intelligenz.“ 13)

Nicht Gott, sondern letztlich der Mensch schafft sich ein neues Herz: „Wir haben gesagt, dass in der Bibel Wiedergeburt gleichbedeutend ist mit einem neuen Herzen. Aber es wird von den Sündern verlangt, sich selbst ein neues Herz zu machen, was sie nicht könnten, wenn sie nicht bei dieser Veränderung aktiv wären.“ 14) Die Wiedergeburt ist für Finney nichts anderes als die Änderung des Willens durch den Einfluss der Wahrheit.15) Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes bei der Wiedergeburt reduziert Finney darauf, dass der Geist Gottes versucht, einen Menschen die Wahrheit nahezubringen und ihn davon zu überzeugen (‚divine moral suasion‘)16) Der Geist gibt sozusagen nur einen Anstoss, einen Impuls – mehr nicht!

In ähnlicher Weise deutet er natürlich dann auch die ganze Lehre von der Heiligung um. Was der Mensch bei der Bekehrung kann, das kann er auch im Glaubensleben; wenn er etwas will, dann kann er es. Damit ergab sich zwangs-läufig die Frage, ob ein Christ sündlos sein kann. Finney beantwortete diese Frage positiv: Ja, ein Mensch kann, wenn er willentlich mit allen Sünden ge-brochen hat, völlig sündlos sein.

Aus diesen Lehren entwickelte Finney sein Evangelisationsverständnis. Da Finney glaubte, der Mensch müsse nur wollen, so ist es also die Aufgabe der Christen nur, einen Menschen dazu zu bringen, dass er will. Doch wie bringe ich jemanden dazu, etwas zu wollen? Nun, Finney sagte folgendes: Wir müssen eben unsere Art und Weise, wie wir evangelisieren, umstellen. Nur das Wort Gottes zu verkündigen, reicht nicht. So führte er unter dem Stichwort ‚new measures‘, d.h. ‚neue Massnahmen‘ oder ‚neue Methoden‘, eine Reihe neuer Evangelisations-methoden ein, um so Menschen zu Entscheidungen zu bewegen.

Ich möchte ein paar dieser Methoden nennen, die er einführte: In Gebets-versammlungen wurden, wenn Ungläubige zugegen waren, diese mit Namen genannt, und man erzeugte dadurch einen unwahrscheinlichen (psychologischen/ seelischen) Druck, um sie zur Busse zu bewegen. Man führte eine ‚Bussbank‘ ein. Man rief Menschen auf, nach vorne zu kommen und öffentlich auf dieser Bank Busse zu tun. Man hielt spezielle Erweckungsversammlungen ab, um an einem Ort das Interesse am Christentum zu fördern oder zu stärken. Für die ‚Erweckten’ wurden besondere ‚Nachversammlungen’ abgehalten. Musik und Chöre wurden fortan eingesetzt, um ganz bestimmte Gefühle hervorzurufen und Entscheidungen zu fördern.

So spiegelten Finneys Evangelisationen nur seine Überzeugung wider: „Der Mensch kann wollen. Fortan muss ich alles einsetzen, was dazu führt, dass ein Mensch will, – alle Methoden, die es irgendwie gibt, sind möglich und nützlich.“ Das führte dazu, dass nicht mehr die Torheit der Predigt das Denken der Gläubigen beherrschte, sondern man fragte: „Wie bringe ich Menschen zum Wollen? Wie setze ich diese und jene Methode ein, damit sie am Schluss der Versammlung ‚Ja‘ sagen?“ Man könnte man fast überspitzt sagen: „Der Zweck heiligt die Mittel.“

Finney wurde von seinen Zeitgenossen heftig kritisiert. Seine Evangelisations-methoden stiessen auf erbitterten Widerstand – nicht von Ungläubigen, sondern  von solchen Menschen, von denen ich sagen würde: die mir geistliche Lehrer geworden sind. Ganze Kirchen, ganze Scharen von Gläubigen wandten sich gegen Finney und machten deutlich: Wir wollen nicht eine solche Verkündigung des Evangeliums. Besonders deutlich wird es vielleicht an einem Wort einer metho-distischen Versammlung in Wales. Sie brachte als Antwort auf Finneys Bücher ein warnendes Wort an ihre Gemeinden heraus, in dem sie erklärte: „Es besteht keine Notwendigkeit, neue Methoden auszuprobieren, ausser denen, die göttlich angeordnet worden sind.“ 17)

Die geistlichen Führer dieser Gemeinden waren über diese neuen Methoden besorgt und sagten: „Warum sollen wir etwas Neues ausprobieren neben dem, was der Herr selber für uns angeordnet hat?“ Mit anderen Worten: neben dem, was bis dahin allgemein als Evangelisationsmethode akzeptiert war. Und es war nicht viel: Die Gemeinde betete, und sie vertraute darauf, dass der Herr durch Sein Wort wirken würde.

Warum war die Reaktion der Gläubigen so ablehnend? Hätten sie nicht sagen können: „Geben wir dem Ganzen eine Chance. Ist es nicht wichtig, vielleicht diesen Mann auch stehen zu lassen? Richten wir ihn nicht vor der Zeit?“

Doch viele Gläubige konnten nicht schweigen angesichts dessen, was sie sahen. Denn Finneys Evangelisationsmethoden waren der Grund dafür, dass sich viele gute Gemeinden spalteten. Finney versuchte ohne Rücksicht auf Verluste seine Lehren und Methoden populär zu machen, und er hat dadurch viele Gemein-den an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Er hat eine Spaltung nach der andern provoziert. Es gibt ganze Gemeinden und Gemeindeverbände, die sich jahrelang nicht von dem erholt haben, was er angerichtet hatte – einfach durch die Art und Weise, wie er aufgetreten ist.

Aber auch aus einem anderen Grund erhoben namhafte Prediger des Evange-liums ihre Stimme gegen Charles Finney. Als ich Finneys Bücher las, war ich so  fasziniert zu sehen, wie Erweckung um Erweckung entstand, wie Hunderte von Menschen zum Glauben kamen. Auf der Rückseite der deutschen Übersetzung seiner Autobiographie schreiben die Herausgeber, dass durch Finney 500.000 Menschen zum Glauben gekommen sind.

Doch als ich seine Erweckungen genauer studierte, wurde ich sehr traurig. Denn was für Erweckungen waren es? Es gab eigentlich nur wenige wirkliche Bekehrungen. Er musste später selber angesichts dieser sogenannten ‚Bekehrten‘ eingestehen: „Die meisten von ihnen sind eine Schande für den Glauben.“ 18)

Viele Gemeinden haben sich von diesen ‚Erweckungen’ nie wieder erholt. Warum nicht? Nun: Wenn ich davon überzeugt bin, dass ich jemanden nur dazu bringen muss, dass er sich entscheidet, und ich setze zu diesem Zweck jede Tech-nik ein, die ich zur Verfügung habe, dann bedeutet das praktisch folgendes: Ich führe jemanden dazu, dass er ‚Ja‘ sagt. Aber was nützt es, wenn es keine wirkliche Bekehrung ist? Wenn ich nur eine gefühlsmässige Entscheidung hervorgerufen habe, dann sieht das Ergebnis folgendermassen aus: Die Schrift sagt: Ein Mensch ohne Christus ist geistlich tot. Man hat vielleicht 100 Menschen soweit gebracht, dass sie äusserlich ‚Ja‘ gesagt haben. Nun halten sie sich für Christen und schliessen sich einer Gemeinde an. In Wahrheit sind aber 100 ‚Tote’ hinzugekommen. Wie wirkt sich das aus auf eine Gemeinde, die vielleicht vorher aus 50 lebendigen Christen bestand? Da hat sich mit einem Schlag die gesamte Atmosphäre geändert und diese wird eine Gemeinde lähmen und in Schwierigkeiten stürzen.

Finney musste es selber eingestehen, dass die Menschen nach ihren soge-nannten Bekehrungen nicht das waren, was man von der Schrift her nach einer Bekehrung eigentlich erwartet. In der Schrift wird klar gesagt: Wenn der Herr den Menschen das Herz aufgetan hat, wenn sie Busse getan haben, wenn sie sich be-kehrt haben, dann haben sie sich abgewendet von den Götzen hin zu dem lebendigen Gott. Da ist Veränderung geschehen; da ist mit einem Mal ein Hunger nach Gottes Wort entstanden, nach geistlichen Dingen und nach geistlicher Gemeinschaft. – Aber hier hat man nun Menschen rein emotional zu einer Entscheidung geführt, und sie quälen sich jetzt da durch, und eigentlich wissen sie z.T. gar nicht, dass sie sich nur durchquälen, weil sie geistlich nicht lebendig sind.

Aber noch ein anderer Punkt missfiel vielen Gläubigen an Finney. Finney förderte durch seine Evangelisationsmethoden die Vorstellung, dass Lehre zweit-rangig sei. Seinen Kritikern warf er vor, sie würden nur tote Lehre betonen, die mit dem eigentlichen Leben nichts zu tun habe. Er förderte damit eine ganz fatale Entwicklung.

Die Reformatoren hatten noch gesagt: „Die Gemeinde Jesu, eine rechte Kirche, definiert sich dadurch, dass das Evangelium in rechter Weise verkündigt wird. Voraussetzung für eine gute Gemeinde, für alle gute Arbeit im Reiche Gottes, ist die rechte Verkündigung des Evangeliums. Rechte Lehre ist Voraussetzung für rechte Verkündigung, für rechte Evangelisation.“ Doch Finney betonte: „Rechte Lehre ist zweitrangig für rechte Verkündigung; sie ist nicht so wichtig; es geht ja nur darum, eine Entscheidung hervorzurufen; da machen doch so viele ‚theolo-gische Spekulationen’ gar keinen Sinn.“ Lehren werden nach hinten verschoben, werden als ‚zweitrangig’ abgetan.

Dieses Denken hat heute in fast allen christlichen Kreisen tiefe Wurzeln ge-schlagen. Als ich bei einer Evangelisation in einer Gemeinde darauf hinwies, dass das, was der Evangelist verkündigte, falsch sei, da bekam ich zur Antwort: „Ja, Karsten, das musst du verstehen. Dieser Mann ist Evangelist und kein Theologe.“ Denken wir doch einmal über solch eine Aussage nach. Was wird damit zum Ausdruck gebracht? „Wenn ich evangelisiere“, so denken viele Christen in Deutschland, „dann lehre ich nicht. Lehre, ja das ist erst später wichtig. Für die Weitergabe der Lehre sind die Theologen zuständig, aber nicht ein Evangelist.“ Aber wie will ich denn das Evangelium verkündigen, wenn ich nicht einmal richtig weiss, was ich verkündigen soll? Wenn ich nicht in rechter Weise begriffen habe und nicht in rechter Weise beschreiben kann, was das Evangelium ist –, was will ich dann weitersagen? Lehre des Evangeliums, Verkündigung des Evangeliums ist heute in der Gemeinde Jesu bitter nötig! Die Gemeinde Jesu beschäftigt sich heute nicht viel mit Lehre. Und gerade das ist es, was nötig wäre! Die Gemeinde Jesu sollte zu den Wurzeln zurückgehen und sich ganz neu mit der Lehre vom Heil beschäftigen!

Vor 200 Jahren konnten viele ganz einfache Christen die Lehre vom Heil in Jesus Christus besser beschreiben, als heute viele evangelikale Prediger! Wir haben uns daran gewöhnt zu sagen: „Hier ist das Leben, und da ist die Lehre, und die Lehre ist doch eigentlich schädlich für das Leben.“ Vergleichen wir doch einmal diese Einstellung mit der von C. H. Spurgeon. Spurgeon glaubte, dass gute und gesunde Lehre die Basis und Voraussetzung für alle echte Verkündigung des Evangeliums ist. Mangel an Lehre führt letztlich dazu, dass wir nachher nicht mal mehr wissen, was wir zu verkündigen haben. Doch wir müssen wissen, was wir verkündigen sollen; wir müssen eine klare Vorstellung haben von dem, was wir weitergeben sollen!

3. Dwight L. Moody 

Finneys Gedankengut wurde durch Dwight Lyman Moody (1837–1899) populär gemacht. Moody wirkte nach seiner Bekehrung zunächst in den Slums von Chicago, wo er Tausende für seine Bibel-Klassen (‚Bible Classes‘) gewann. Bekannt wurde er dadurch, dass er mit dem Musiker Ira D. Sankey zahlreiche ‚Feldzüge‘ (‚Crusades‘) in Amerika, England und Schottland durchführte, um die Massen für Jesus Christus zu gewinnen. Daneben förderte er die Ausbreitung des CVJM. Ohne Frage ist sehr viel Segen von ihm ausgegangen.

Doch durch Moody fanden Finneys Lehre von der Geistestaufe und Finneys  Evangelisationsmethoden Eingang in viele christliche Kreise. Da er seine Vor-stellung viel feiner und vorsichtiger als Finney vortrug, fand er selbst bei Predi-gern Unterstützung, die Finney ablehnten.

Für die weitere Entwicklung in der Gemeinde Jesu sind vor allem drei Dinge bedeutsam:

1. Moody schuf, von Finney ausgehend, den Typ von Evangelisation, wie er ab Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend wurde: In Evangelisationen wird eine Atmosphäre geschaffen, die bewirkt, dass die Menschen zuhören wollen, so dass sie empfänglich gemacht werden, ‚Ja‘ zu sagen. Zeugnisse, Chöre und Lieder werden so eingesetzt, dass sie die Seelen in eine bestimmte Richtung bewegen.

Sicherlich ist es richtig, dass man darauf achtet, dass Menschen in einer ruhigen Atmosphäre zuhören können. Doch selbst wenn wir alles getan haben, was wir menschlich gesehen tun konnten, so müssen wir doch manchmal erkennen: „Nach unserem menschlichen Ermessen hätte doch jetzt etwas passieren müssen – und es passiert nichts.“ Doch an anderen Orten, wo wir es gar nicht erwarten, da passiert etwas – warum? Nun, wir sehen in der Apostelgeschichte, wie der Herr Türen auftut, wie der Herr wirkt, – und Er wirkt, wie es Ihm gefällt. Der Geist weht, wo Er will.

Die grosse Gefahr der Art von Evangelisation, die Moody förderte, liegt in der Meinung, Evangelisation sei etwas Machbares. Ich wende bestimmte Prinzipien an und kann dann davon ausgehen, dass ich automatisch die Früchte meiner Arbeit ernte. Dabei wird häufig übersehen, dass ein Wirken des Geistes keineswegs schon deswegen gegeben ist, dass ich durch mein ‚Evangelisationsprogramm‘ bestimmte Gefühle bei den Zuhörern hervorrufen konnte.

Einer der Werbeberater eines der grössten Evangelisten unseres Jahrhunderts sagte: „Es ist vollkommen egal, was du nun machst –, ob du einen Parteitag vorbereitest oder eine Evangelisation, – es sind immer die gleichen Grundprin-zipien.“ Moody führte diese Denkweise ein.

Doch ich halte diese Anschauung für falsch. Denn es sind eben nicht die gleichen Grundprinzipien, die man auf einer Evangelisation oder auf einem Partei-tag anwenden muss. Wir arbeiten nicht nach den Prinzipien, nach denen man eine Wahlveranstaltung plant. Wir halten Versammlungen, bei denen wir der Überzeu-gung sind, dass der Herr wirkt und wirken kann. Und die Gemeinde Jesu hat es nötig, wieder zu sehen, dass nur da etwas geschehen kann, wo der Herr wirkt und wirken kann. Und wir erleben manchmal, dass Er auch da wirkt, wo wir es nicht erwartet hätten.

1630 hielt John Livingston in Schottland eine Predigt. Die Gottesdienst-besucher gingen nach Hause, ohne dass man bei ihnen irgendein Zeichen der Rührung wahrnehmen konnte. Doch durch diese Predigt bekehrten sich 500 Menschen!19) Und es gab keine äusserlichen Emotionen; es war scheinbar nichts da. John Livingston hielt eine Predigt und stellte später fest, wie sehr der Herr dadurch gewirkt hat.

Zeigen uns nicht auch die unzähligen Predigten von Wesley, Whitefield und anderen Methodisten des 18. Jahrhunderts, dass der Herr, wenn er am Wirken ist, Herzenstüren öffnet? Lest doch einmal die Apostelgeschichte durch. Dort heisst es immer wieder: Und das Wort des Herrn lief, das Wort des Herrn breitete sich aus. Gott war am Wirken; das war nicht von Menschen gesteuert, das war nicht ‚gemacht’, indem man einfach Menschen gefühlsmässig steuerte.

2. Durch Moody wurde es üblich, dass Menschen, die sich für Jesus ent-schieden, dies dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie am Ende einer Versamm-lung nach vorne gingen. Bevor ich mich mit der Kirchengeschichte beschäftigte, war dies für mich das ganz Normale. Ja, wie anders sollte man denn gläubig werden, wenn man nicht am Ende einer Versammlung nach vorne ging und sich öffentlich für Jesus entschied und sein Leben in einem Übergabegebet dem Herrn auslieferte?

Doch was ist dagegen einzuwenden? Ist es wirklich etwas Schlechtes? Nun, den besten Einwand habe ich bei Spurgeon gefunden: „Wenn du in einer Predigt einem Menschen Christus nahegebracht hast, und wenn der Geist am Wirken ist, dann hast du diesen Menschen aufzufordern, sofort direkt zum Herrn zu gehen.“ Das ist es, was wir den Leuten sagen sollen: „Wende dich direkt an den Herrn, schau auf Ihn!“ In Seinem Licht wird er Frieden finden und neues Leben bekommen. Spurgeon begründet auch seine Vorbehalte gegenüber dieser Art der Evangelisation: Es besteht die Gefahr, dass Menschen nicht auf Jesus blicken, sondern dass sie sich auf einen ganz bestimmten Ritus, auf eine ganz bestimmte Handlung verlassen, so dass sie später sagen: „Ich habe dies und jenes ge-macht“ –, anstatt schlicht zu bezeugen: „Ich bin dem Herrn begegnet; ich habe den Herrn Jesus als meinen Herrn und Erlöser erkannt und begriffen und aufgenommen.“

3. Schliesslich ist die sogenannte Nacharbeit von Bedeutung. Auch vor Moody wurden Menschen, die gläubig wurden, in besonderer Weise betreut. Nacharbeit ist wichtig, keine Frage! Allerdings hat die Nacharbeit, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam, eine andere Qualität bekommen. Wir betreiben heute viel Nacharbeit an Menschen, die sich ‚entschieden’ haben und dann nichts mehr wissen wollen vom Glauben. Oder es werden Menschen geistlich betreut, die gar nicht wissen, wo, wie und warum sie sich überhaupt entschieden haben, und die sich dann geistlich nur durchquälen, indem sie eben äusserlich alles mitmachen.

Ist dies nicht die Misere in vielen Gemeinden: Viele, die zur Gemeinde ge-hören, haben sich für Jesus entschieden, ohne recht zu wissen, was es heisst, sein Leben Jesus anzuvertrauen. Und wir machen dann in vielen Bereichen eine Nach-arbeit, bei der wir uns krampfhaft bemühen, etwas am Leben zu erhalten, was eigentlich erst Leben bräuchte!

Ein bekannter englischer Prediger des 20. Jahrhunderts machte die Erfahrung, dass viele der Menschen, die sich unter seiner Verkündigung bekehrten, Menschen waren, die aus evangelikalen Gemeinden kamen. Aus beruflichen oder sonstigen Gründen waren sie nach London gezogen. Sie hatten nie daran gedacht, wie gross ihre geistliche Not eigentlich ist. Erst unter der Verkündigung dieses Mannes kamen sie zu der Erkenntnis: Wir sind verloren! Wir sind ungläubig! Wir brau-chen neues Leben.

 

C. Deutschland (17.–19. Jahrhundert)

Auch in Deutschland entwickelten sich nach der Reformation zwei Strömungen unter den Gläubigen: Eine, die das Erbe der Reformation pflegte, und eine andere, die – stark geprägt durch die angelsächsischen Länder – sich von der Reformation entfernte. Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir uns die Entstehung und Entwicklung des Pietismus etwas genauer anschauen. Ich möchte dabei den älteren von dem neueren Pietismus unterscheiden. In der Literatur spricht man von Alt- und Neupietismus.

1. Der alte Pietismus

Was versteht man unter dem alten Pietismus? Nun, im 17. Jahrhundert brachte Philipp Jacob Spener eine Schrift unter dem Namen Pia desideria (fromme Wünsche) heraus. Er begann diese Schrift mit einer Klage Jeremias: „Ach, dass wir Wasser genug hätten in unseren Häuptern und unsere Augen Tränenquellen wären, dass wir Tag und Nacht beweinen möchten den Jammer unseres Volkes. (Jer 9,1)20) Es war die grosse Sorge und der tiefe Kummer, die ihn trieben, den Schaden der lutherischen Kirche in Deutschland aufzudecken. Tote Orthodoxie einerseits und offenbarer Abfall andererseits bedrohten die Grundfesten der Reformation. Zudem triumphierte die katholische Kirche an verschiedenen Orten und setzte die Gegenreformation durch.

Doch was war zu tun in einer Zeit, in der der Unglaube immer frecher sein Haupt erhob, in der die evangelischen Theologen ihre Zeit mit Haarspaltereien verbrachten, anstatt dem Volk das Evangelium zu bringen? Was musste getan werden, um der inneren und äusseren Bedrohung des Christentums zu begegnen? Spener gab eine verblüffend einfache Antwort: Wir müssen Gottes Wort unter uns reichlicher bringen. In der ‚Pia desideria‘ schlägt er vor: „Dass man darauf bedacht wäre, das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen. Wir wissen, dass wir von Natur nichts Gutes an uns haben, sondern soll etwas an uns sein, so muss es von Gott in uns gewirkt werden. Dazu ist das Wort das kräftige Mittel, denn der Glaube muss aus dem Evangelium entzündet werden. Das Gesetz aber, die Regel, gibt die guten Werke und viel herrlicheren Antrieb, denselben nach-zujagen. Je reichlicher also das Wort Gottes unter uns wohnen wird, je mehr werden wir des Glaubens Früchte zuwege bringen.“ 21)

Mit diesem Vorschlag zeigte Spener, wie scharf er die geistlichen Probleme seiner Kirche analysierte, denn er brachte damit zum Ausdruck, dass das Kernproblem der Kirche, der er angehörte, ein Herzensproblem sei: Die Missstände und Schwierigkeiten, der Schaden, den er sah, das waren für ihn nur die Symptome. Das gottlose und verdorbene Herz des Menschen, das war das wirkliche Problem. Und hier gibt es nur eine Hilfe, nämlich die Hilfe Gottes. Dabei war ihm besonders aus dem Römerbrief klar geworden, dass Gott nicht auf beliebige Art und Weise uns Menschen hilft, sondern durch sein Wort.

Wie mächtig Gottes Wort durch die Predigt wirkte, mag das Leben August Hermann Franckes (1663–1727) veranschaulichen. 1692 wurde Francke Stadt-pfarrer in Glaucha bei Halle an der Saale. Der zweitausend Einwohner zählende Ort war zum Amüsierort der Hallenser geworden. „In zahllosen Kneipen und Spelunken wird bis in die Nacht hinein gezecht, getanzt, gespielt und gerauft. Sogar an Sonn- und Feiertagen sieht man in allen Gassen Betrunkene wanken. Auf einem grünen Hügel, ganz in der Nähe der Befestigungen des Rannischen Tores, werden zügellose Tänze und Lustbarkeiten aufgeführt.“ 22) Franckes Vor-gänger war vor allem dadurch bekannt, dass er in allen Wirtsstuben zuhause war. Es gelang Francke, durch die Verkündigung des Wortes und seinen treuen Hirten-dienst die ganze Stadt zu verändern. Es entstand ein Hunger nach Gottes Wort und nach geistlicher Gemeinschaft. Francke öffnete das Pfarrhaus, damit seine Gemeindeglieder am täglichen Morgen- und Abendgebet teilnehmen konnten. Anfangs kamen zwanzig. Als sich die Zahl auf 250 steigerte, musste man die Gebetsstunde in das Gotteshaus verlegen.

Was mich beim frühen (alten) Pietismus so beeindruckt hat, kommt wohl am besten in einem Satz von dem Kirchengeschichtler Erich Beyreuther zum Aus-druck: „Der deutsche Pietismus hat sich als Predigtbewegung durchgesetzt.“ 23) Wir können es uns heute kaum noch vorstellen: Menschen wurden von Gott durch sein Wort erfasst und brachten sein Wort unter das Volk. August Hermann Francke las vor seiner Bekehrung sechsmal die Bibel durch. Er hatte einen Hunger nach Gottes Wort, er wollte Gottes Wort erfassen. „Als Predigtbewegung, durch die Predigten auf vielen Kanzeln, durch die gedruckten Predigten, die wie Flug-schriften von Hand zu Hand weitergegeben wurden, durch Mundpropaganda breitete sich die pietistische Bewegung aus.“ 24)

Oh, wie gut wäre es, wenn mehr Gläubige in unseren Tagen Speners und Franckes Schriften studieren würden! Lest die ‚Theologischen Bedenken’, lest die Auslegung des Galater- und des Römerbriefes! Lest diese Schriften! Sie sind Gold wert!

Doch wenn wir den heutigen Pietismus mit dem Pietismus in seinen Anfängen vergleichen, so zeigen sich grosse Unterschiede. Woher kommen sie? Nun, dieser ‚alte Pietismus’ wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch einen ‚neuen Pietismus’ überlagert.

2. Der neuere Pietismus

Der Neupietismus nahm in starkem Masse Finneys und Moodys Methoden und Lehren auf. Und das hatte ganz fatale Folgen:

1. Anders als der ältere Pietismus war der Neupietismus vergleichsweise gleichgültig gegenüber Lehre und Theologie. Zwar wurde und wird auch dem frühen Pietismus vorgeworfen, eine Gleichgültigkeit in der Lehre gefördert zu haben. Dies ist zum Teil sicherlich auch der Fall. Doch Spener und Francke wollten alles andere, nur nicht die Orthodoxie, die rechte Lehre, beseitigen. Im Gegenteil: sie wollten sie fördern. Doch waren sie der Überzeugung, dass die rechte Lehre nur dort vorhanden ist, wo auch rechtes Leben blüht. Fehlt das rechte Leben, nützt auch auch die rechte Lehre nichts. Aber sie waren nicht der Meinung, dass rechtes geistliches Leben gedeihen könne ohne rechte Lehre. Spener erklärte: „Es ist nicht genug, dass wir nur die wahre Lehre haben, sondern es muss auch das Leben da sein. Also reicht keine blosse Erkenntnis, die das Herz nicht verändert, um uns gegen die Verführungen zu bewahren, sondern es muss der wahre lebendige Glaube vorhanden sein.“

Doch im Neupietismus setzte sich Finneys Haltung durch. Lehre und Leben wurden gegeneinander ausgespielt, wobei das geistliche Leben einen höheren Stellenwert bekam: „Hier ist das Leben, das geistliche Leben, das wir brauchen;  dort ist die Lehre, die doch dem Leben nichts nützt.“ Dabei ist doch Lehre und Leben nicht zu trennen! Echte biblische Theologie ist Lebensbrot! Nahrung für unsere Seelen!

Diese Einstellung wurde noch durch eine andere Tatsache verstärkt und geför-dert. Wenn ein Pietist zu den deutschen theologischen Fakultäten hinschaute, dann musste er sagen: „Was dort gelehrt wird, das ist Gift!“ Und er hatte nicht unrecht. Man sah, wie Menschen mit einem fröhlichen Glauben an die Universi-täten strömten, um Theologie zu studieren, in der Erwartung, eines Tages dem Herrn zu dienen. Und man sah, wie diese Menschen zurückkamen: Sie hatten ihren kindlichen Glauben über Bord geworfen, spotteten nun über das, was ihnen einst als heilig und unantastbar galt. So fragten sich nicht wenige: „Was bringt schon Theologie hervor?“ „Es bringt Gift hervor, es tötet das geistliche Leben ab!“ sagten sich viele. So verstärkte sich der Eindruck: ‚Theologie‘ ist lebens-fremd; sie ist so weit weg vom Eigentlichen. Viele der Fragen, die dort abgehan-delt werden, sind nur akademische Fragen, die für das Leben keine Bedeutung haben.

So haben wir heute eine beispiellose Gleichgültigkeit bezüglich Lehrfragen. Dies wird an ganz einfachen Dingen sichtbar, z.B. an der Frage, ob ein Gläubiger überhaupt noch weiss, was die Kirche, der er angehört, lehrt. Wir sind heute im Schwarzwald. Württemberg ist lutherisch. Was für eine Antwort würden wir bekommen, wenn wir heute einen Pietisten fragen würden: „Ihr haltet euch zu einer Landeskirchlichen Gemeinschaft und seid Mitglied der lutherischen Kirche Württembergs. Was wird eigentlich in dieser Landeskirche gelehrt?“

Ich habe mit vielen Lutheranern gesprochen; sie wissen nicht mehr, was Luther gelehrt hat, noch, wie ihre Bekenntnisse lauten. Es scheint ohne Be-deutung zu sein. Selbst unter pietistischen Theologen findet sich ein erstaunlicher Mangel an Interesse für systematische Theologie. Als ich einen Theologen fragte, was er denn an seiner (evangelikalen) theologischen Ausbildungsstätte an Dogmatik studiert habe, da sagte er: „Ich habe mich nicht so sehr dafür interessiert! Ich bin nicht so sehr geisteswissenschaftlich und an philosophischen bzw. intellektuellen Fragen interessiert.“ Ich sagte daraufhin: „Das kann ich nicht verstehen; wenn du Theologie studierst – wenn du später Menschen das Evangelium bringen willst –, dann muss es dich doch interessieren, was die Schrift lehrt – über Taufe, über Wiedergeburt, über Rechtfertigung, über Busse. Du musst dir doch ein klares Bild über die Grundlehren der Schrift machen!“

Nun, dieser junge Mann war der Überzeugung, Dogmatik habe mit dem Leben nichts zu tun. Dies ist Gleichgültigkeit gegenüber der Lehre. Im Hohenpriester-lichen Gebet sagt unser HERR: „Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit!“ Die Wahrheit ist es, die uns frei macht, die Wahrheit des Wortes Gottes! Wie soll die Wahrheit des Wortes Gottes uns überhaupt frei machen können, wenn wir die Schrift nicht begreifen, ja, wenn es uns gleichgültig ist, was die Schrift sagt?

Du kannst ja darüber nachdenken, wo du auch persönlich geistlich stehst. Kannst du klar definieren, was ‚Wiedergeburt‘ ist? – Die Schrift redet von ‚Berufung‘, ‚berufene Heilige‘. Was meint sie damit? ‚Busse‘, ‚Bekehrung‘, ‚Nachfolge‘, – kannst du mit diesen Begriffen umgehen, sie richtig einordnen und sie von der Schrift her erklären? Dies ist systematische Lehre! Dies gehörte früher zum ABC der Gläubigen!

Aber heute sind wir so gleichgültig und sagen: „Was hat das mit dem Leben zu tun?“ Wahrheit macht frei, Wahrheit führt weiter! Und wenn wir das nicht wieder begreifen – und wenn auch der Pietismus nicht wieder zurückkehrt zu dem, wo er eigentlich begonnen hat –, dann bedeutet dies den geistlichen Niedergang Deutschlands!

2. Das Zweite, was den Neupietismus kennzeichnet, ist ein Hang, Äusser-lichkeiten überzubewerten. Ansätze dafür gab es auch schon im älteren Pietismus. Ich möchte hier sehr vorsichtig sein, damit mich keiner falsch versteht.

Was ist unser Grundproblem bzw. worauf sollten wir Wert legen? Die Schrift sagt: Das Grundproblem ist unser verdorbenes Herz. Aus dieser Quelle speist sich dann alles, was äusserlich sichtbar wird. Nun sagen aber manche: Unser Haupt-problem sind die Dinge, die wir äusserlich sehen. Dieses und jenes, das ist falsch! Dadurch wird man jedoch nur allzuschnell verleitet zu glauben: Wir müssen die Menschen nur dazu bewegen, dieses oder jenes nicht mehr zu tun, und dann sind sie geistlich ‚okay‘. Man glaubt, es sei alles in Ordnung, nur weil äusserlich alles stimmt.

Diese Vorstellung wurde sicherlich von Finney stark gefördert. Äusserliche Dinge sind vom Willen her zu regeln; dann muss ich den Menschen eben nur sagen: „Dies und jenes ist falsch.“ Hat jemand einen starken Willen und setzt dies auch um, so wird er denken: „Ach, was bin ich für ein guter Christ.“ Wenn ich aber die Schrift anschaue, dann erkenne ich: Ich bin der grösste Sünder (vgl. 1.Tim 1,15).

Ein Mensch, der ein geheiligtes Leben geführt hat wie keiner von uns, sagt am Ende seines Lebens: Ich bin der grösste Sünder. Warum? Er brauchte nur in sein Herz zu schauen, und so wusste er: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Und wenn ich nicht wüsste, dass der Herr mich neu gemacht hat, wenn ich nicht wüsste, dass der Herr mir etwas Neues geschenkt hat, ja dann wär es zum Verzweifeln. Aber ich danke meinem Herrn, der sich meiner erbarmt hat.“

Dabei wird meistens da, wo der freie Wille gelehrt wird, auch eine Tendenz vorhanden sein, Äusserlichkeiten überzubewerten. Denn wer sagt, ein Mensch brauche nur zu wollen – und Wollen ist für ihn kein Problem –, der erklärt damit, dass alle geistlichen Probleme recht einfach zu lösen seien. Um zu zeigen, dass dies so ist, hält man sich an ein paar gelösten Problemen auf, eben an Äusserlichkeiten, die man unter Kontrolle hat.

Aber das eigentliche Problem ist nicht gelöst. Sobald ich in mein Herz hineinschaue und ehrlich bin, ist es eben nicht gelöst. Was nützt es, sagen zu können: Ich habe fünf Dinge gehalten, – und dann erhebt sich in meinem Herzen schon wieder der Hochmut und sagt: „Schaut, was ich für ein guter Christ gegen-über dem andern bin!“ Dann ist doch schon meine ganze Heiligkeit wieder dahin.

Äusserlichkeiten, dieses und jenes, – es ist für mich da gar nicht die Frage, ob dieses und jenes richtig oder falsch ist, sondern dass wir diesen Äusserlichkeiten einen Stellenwert geben, der ihnen nicht zusteht, – dass wir meinen, wenn wir dies und jenes geregelt hätten, dann hätten wir alles. Man legt sich dann auf drei bis vier Punkte fest und sagt : „Ist das in Ordnung, dann bist du geistlich.“ Oder, wenn jemand sich nicht daran hält: „Du bist ungeistlich!“ Wie schnell stecken wir Gläubige in die eine oder andere Schublade, doch häufig gründet sich unser Urteil nur auf solche Äusserlichkeiten.

3. Das Dritte, was den Neupietismus kennzeichnet, ist die Übernahme der Art der Evangelisation, wie sie Finney und Moody betrieben haben. Es wurden damit nicht nur neue Methoden eingeführt, sondern auch klare Lehren, wie sie früher vorhanden waren, sehr weit zurückgedrängt. Viele haben sich auf Evangelisationen entschieden, doch wieviele haben eine wirkliche Wiedergeburt erlebt? Menschen sind stolz darauf, dass sie sich für Jesus entschieden haben und sie ihr Herz ihm übergeben haben. Doch wie viele haben begriffen, dass sie elende Sünder sind, dass sie vor Gott Bettler sind? „Aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren!“ (1.Tim 1,13), so beschreibt Paulus dem Timotheus seine Bekehrung. Auch nach so vielen Jahren war es für ihn immer noch etwas Unfassbares, wie eine so elende und verdorbene Kreatur Gottes Barmherzigkeit erfahren durfte! Wo gewinnt man heute in Zeugnissen diesen Eindruck: „Gott hat sich meiner erbarmt!“? Wir sind so oberflächlich geworden!

Es geht mir nicht darum – nur dass mich keiner missversteht! –, gegen den Pietismus zu Felde zu ziehen. Doch möchte ich einfach aufzeigen, wo wir heute stehen und warum unsere Gemeinden und Gemeinschaften so sind, wie sie sind.

D. Das 20. Jahrhundert

Vom Neupietismus möchte ich den Bogen schlagen zu unserem Jahrhundert. Finneys Anschauungen über Evangelisation hatten durch Moody weite Ver-breitung gefunden. Nicht zuletzt deswegen, weil Moodys Auftreten weniger aggressiv war. Bis weit über die Mitte unseres Jahrhunderts hinaus prägte ihr Evangelisationsverständnis viele evangelikale Gruppierungen.

Aber seit den 70er Jahren hat sich dieses Evangelisationsverständnis, das – man könnte fast sagen – noch traumhaft war gegenüber dem, was wir heute teilweise erleben, erneut grundlegend gewandelt. Man ging einen Schritt weiter, und zwar aus einem einfachen Grund.

Bis Mitte der 60er Jahre hatten wir Erfolg mit der Art der Evangelisation, wie sie Moody betrieben hatte. Billy Graham zog in den 50er und 60er Jahren grosse Scharen an. In Amerika, Asien, Afrika und Europa kamen Zehntausende in die Stadien.

Doch ab den 70er Jahren setzte in unserer Gesellschaft eine Individualisierung ein. Damit ging auch Stück für Stück das Interesse an Massenevangelisationen zurück. So ergab sich eine neue Frage: „Wenn die Art, mit der wir bisher evange-lisiert haben, nicht mehr ankommt, wie evangelisieren wir dann?“ Und so ent-wickelte man einen Evangelisationsstil, der durch zwei englische Schlagworte charakterisiert wird: ‚Creative-Evangelism‘ (‚kreative Evangelisation‘) und ‚Entertainment-Evangelism‘ (‚Unterhaltungs-Evangelisation‘).

Damit stand man vor der gleichen Grundfrage, die auch Finney bewegte: Ich möchte Menschen dazu bringen, dass sie sich für Jesus entscheiden. Sie können das, sie müssen nur wollen. Nun will der moderne Mensch aber nicht. Warum will er nicht? Weil die Botschaft nicht ankommt; sie ist ihm langweilig. Wie bringe ich ihn dazu, dass er sich auf einer Evangelisation nicht langweilt?

Aus dieser Fragestellung entwickelte sich die kreative oder Unterhaltungs-Evangelisation. Der Mensch will nicht, es ist ihm langweilig; er könnte aber wollen. Nun muss ich ihn dazu bringen, dass er will. Wie bringe ich ihn aber dazu, dass er will? Nun, indem ich ihm zunächst das biete, was er will. Gab es auf den Evangelisationen in den 60er Jahren noch ein auf wenige Elemente begrenztes festgefügtes Schema, so wird nun eine Vielzahl von Dingen eingeführt, um bei Menschen ein Interesse am Evangelium zu erzeugen.

Die Vielfalt wurde deswegen nötig, weil sich das Bild unserer Gesellschaft so grundlegend gewandelt hat. Unsere Gesellschaft ist immer egoistischer geworden. Jeder zieht sich auf sich und seine Wünsche und Vorstellungen zurück. Der eine mag dies, der andere das. Dieser Entwicklung trägt die neue Art von Evangeli-sation Rechnung. Sie ist gleichsam ein Abklatsch dessen, was wir in unserer Gesellschaft erleben. Der eine mag Sport, der nächste Theater, der dritte mag Musik. Jedem dieser Interessen wird Rechnung getragen und so ist eine un-endliche Bandbreite an Evangelisations-Techniken entstanden. Hintergrund war wieder nur diese eine Frage: Wie bringe ich Menschen dazu, dass sie wollen?

Da aber nun Unterhaltungs- und Showelemente in den Vordergrund rückten, geschah es gleichsam zwangsläufig, dass die Verkündigung des Wortes Gottes immer weiter zurückgedrängt wurde. Was wir bei Moody oder auch noch bis in den 60er Jahren bei Billy Graham an Positivem hatten, war zumindest, dass die Predigt noch im Mittelpunkt stand. Doch was wir heute traurigerweise erleben, ist, dass selbst die Botschaft immer mehr an den Rand gedrückt wird, weil die Menschen sie letztlich immer weniger hören wollen. Und doch wollen wir es uns bei den Evangelisationen in unserem Land einfach nicht eingestehen, dass wir eine Botschaft bringen, die die Menschen ablehnen. – Wir sind der Überzeugung: Wenn der Herr nicht das Wollen schenkt, wird es auch nicht zu einer Veränderung kommen. – Nun aber evangelisiere ich, und ich möchte doch Erfolge vorweisen. Nun habe ich Menschen vor mir, die nicht wollen. Da muss ich folgendes machen – so denken wir heute: Ich muss ihnen halt das geben, was sie wollen, auf Kosten dessen, was ich verkündigen sollte. So ist eigentlich das, was wir als ‚kreative Evangelisation’ erleben, ein sehr trauriger Vorgang, weil es letztlich dazu führt, dass wir mit den Menschen nichts anderes machen, als sie in ihrem Egoismus zu bestärken.

Wir sagen ihnen nicht mehr wie früher: „Es ist egal, wer du bist, – du magst Theologieprofessor oder du magst Bauer sein, – ihr seid beide Sünder und habt beide Busse nötig, ja ihr habt beide eine totale Umkehr nötig. Und dir hilft in deiner Stellung vor Gott die Bildung nichts, und dir hilft dein Bauernhof nichts.“ Doch heute wird jeder Mensch in den Mittelpunkt gerückt, aufs Podest gehoben. Es wird ihm gesagt, wie wunderbar, wie toll und wie wertvoll er ist. Haben Men-schen in unserer Gesellschaft etwas erreicht, so werden sie besonders umworben.

Was für ein Bild haben wir eigentlich von der Gemeinde Jesu? Wir wollen nicht mehr Menschen sein, die im Angesicht Gottes gedemütigt wurden, niedergefallen sind und gesagt haben: „Ja, Herr, ich weiss, dass ich nichts anderes als den Tod verdient hätte; aber Du hast mich aus Schmutz und Elend heraus-gezogen.“ Nein, sondern wir bekommen durch diese Art der Evangelisation Menschen, die vor Selbstbewusstsein des Ichs nur noch strotzen. Und das ist etwas, das uns sehr traurig machen sollte.

Lest einfach mal die Briefe des Neuen Testaments durch, was für eine Demut dort bei den Gläubigen doch vorhanden war, mit welchem Respekt gegenüber dem Herrn sie aufgetreten sind! Wieviel Niedergang haben wir heute in unseren Gemeinden im Vergleich damit vor Augen! Wenn wir die Bekehrung des Apostels Paulus anschauen: welches Ergebnis zeigte sie? Wir sehen, wie er seine Bekehrung in 1.Tim 1,12–17 beschreibt. Wie endet diese Beschreibung?

„Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren und allein Weisen, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.“

Er kann nicht anders von seiner Bekehrung reden, als dass sie zu einem Ziel führt, das die Herrlichkeit und Ehre Gottes in den Mittelpunkt rückt.

Wohin die heutige Art der Evangelisation führt, zeigt Bill Hybels. Sein Evan-gelisationskonzept ist letztlich die letzte Konsequenz dessen, was vor über 200 Jahren begonnen hat. Die letzte Konsequenz! Und es ist die Konsequenz dessen, was geschieht, wenn ich den Menschen und nicht Gott in den Mittelpunkt rücke.

In einem seiner Bücher führt Bill Hybels eine Kosten-Nutzen-Analyse durch um zu zeigen, warum Christsein ansteckend sein sollte. Er beendet die Analyse des Nutzens, der durch ein ansteckendes Christsein entsteht, mit folgenden Worten:

„Sind das genug persönliche Vorteile, um Ihr Interesse zu wecken? Dabei haben wir überhaupt noch nicht alle Vorteile erwähnt, welche die Empfänger unserer Bemühungen ernten werden. Sie wissen schon: Kleinigkeiten wie die Tatsache, dass sie der ewigen Verdammnis in der Hölle entrinnen, um sich dafür auf den Himmel freuen zu können, ganz zu schweigen von einem Leben hier auf der Erde voller Abenteuer, Sinn und Ziel, Erfülltheit, Wachstum, Glaubens-gewissheit, krisenfester Investitionen und Ehre, zu Botschaftern des Gottes ge-macht zu werden, der das Universum erschaffen hat!

Obendrein erntet auch Gott Vorteile. Ihm kommt der Gewinn zugute, seine Kinder dabei zu beobachten, wie sie seiner Liebe zu verlorenen Menschen nacheifern, eine Freude, die jeder Vater und jede Mutter nachempfinden kann. Jesus sagt (Joh 15,8): ‚Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt…’. Und denken Sie an das, was er über die Freude sagte, die im Himmel herrscht, wenn es uns gelingt, jemanden zum Glauben zu führen (Lk 15,10): ‚Ebenso herrscht auch bei den Engeln Gottes Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt.’

Wenn wir also anfangen zu versuchen, aktiv und zielorientiert Menschen für Jesus zu erreichen, wenn wir ansteckender in unserer Lebensführung werden und unseren Glauben zum Ausdruck bringen, dann machen wir die Entdeckung, dass wir daraus Vorteile ziehen, dass andere Vorteile ziehen und dass selbst Gott Vorteile daraus zieht.“ 25)

Mich machen solche Worte nicht nur zornig, sondern vor allem traurig. Was ist das für eine Einstellung, dass man davon redet, es sei eine Kleinigkeit, dass jemand der Hölle entrinnt? Ist es wirklich nur wegen des Vorteils, dass man evangelisiert? Und vor allen Dingen: Hat es Gott nötig, Vorteile aus unseren Methoden zu ziehen? Hat es Gott nötig? Hat Er irgendeinen Vorteil, wenn wir etwas für ihn tun? Sollten wir nicht die Einstellung haben, die der Herr Jesus folgendermassen beschreibt:

„Also auch ihr; wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“ (Luk 17,10)

Gott hat doch keinen Vorteil davon, wenn er uns berufen hat! Hier wird Gott als jemand dargestellt, der dankbar sein müsste, dass ich für ihn mitarbeite. Gott ist in keinster Weise auf uns angewiesen. Wohl ruft uns Gott in seinen Dienst und gibt uns Kraft und Gaben, um ihm zu dienen. Aber wir sind und bleiben unnütze Knechte!

IV. Schlussfolgerungen

Was können wir aus dem Ganzen lernen?

1. Um das Evangelium recht zu verkündigen, müssen wir es zunächst recht verstehen. Denn was wir säen, das werden wir auch ernten. Haben wir das Evangelium kaum oder nur teilweise erfasst, können wir auch nur ein bruchstückhaftes Evangelium weitergeben. Doch wie können wir zu einem klaren Verständnis kommen? Neben einem eifrigen Studium der Heiligen Schrift kann uns hierzu sicherlich Literatur weiterhelfen, die auf dem Boden der Reformation steht. Neben den Schriften der Reformatoren wie Luther und Calvin, sollten wir die Schriften der älteren Pietisten, wie Spener, Francke u. dgl. oder die der Puritaner, wie z.B. John Bunyan aufmerksam studieren. Von grossem Wert ist hier sicherlich auch Spurgeon. Aus unserem Jahrhundert möchte ich vor allem D. Martyn Lloyd-Jones nennen.

2. Wir müssen ganz neu begreifen und darauf vertrauen, dass Gott Menschen durch die Torheit der Predigt errettet. Gott hat uns nicht nur aufgetragen, sein Evangelium zu verkündigen, er hat uns auch gesagt, wie wir es tun sollen. Dabei sollten wir nicht aufhören, den Herrn der Ernte darum anzuflehen, dass er Arbeiter in seine Ernte schicken möge.

3. Wer heute bestimmte Evangelisationsmethoden ablehnt, wird meist be-zichtigt, grundsätzlich gegen Mission und Evangelisation zu sein. Und in der Tat kann leicht der Eindruck erweckt werden, man sei nur gegen etwas. Es ist daher wichtig, dass alle (notwendige) Kritik an bestimmten Entwicklungen in der Gemeinde Jesu immer nur einen kleinen Teil unseres Denkens und Handelns bestimmt. Die positive Darstellung des Evangeliums, das Studium dessen, wie Gott in vergangenen Jahrhunderten Menschen zur Gemeinde hinzugefügt hat, sollte im Mittelpunkt stehen. Unser Herz sollte von jener Einstellung erfüllt sein, die der Alttestamentler Heinrich Andreas Christoph Hävernick 1832 zum Ausdruck brachte, als er im Vorwort seines Daniel-Kommentars schrieb: „O dass unsre Hände nimmer erlahmten, dass wir niemals rückwärts schaueten und des Zieles nimmer vergässen – der Herr aber sey mit uns und unserm Thun, dass immer Sein Name erkannt, Seine Freundlichkeit geschmeckt, und Seine Herrlichkeit auf Erden offenbar werde!“

4. Schliesslich erscheint mir eines noch ganz wichtig für die Gemeinde Jesu in Deutschland. Wir müssen neu begreifen, dass Lehre, dass Theologie nicht etwas ist, was das geistliche Leben behindert oder gar tötet, sondern die Grundlage allen geistlichen Lebens ist. Wir werden durch das Wort wiedergeboren und wir werden durch das Wort geheiligt. Das Wort Gottes rüstet uns zu jedem guten Werk zu. Dazu gehört aber auch, dass wir uns dem Wort unterordnen und nicht unsere Gefühle und Erfahrungen zum Massstab machen.

V. Quellenangaben

 1. Zitiert nach Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, 9. Aufl., Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1982, S. 511f.

 2. Baum, Friedrich; Geyer, Christian: Kirchengeschichte für das evangelische Haus, 3. aufs neue umgearb. Aufl., München 1902, S. 653.

 3. Mauerhofer, Erich: Zum 300. Jahrestag der Aufhebung des Ediktes von Nantes: 1685 * 1985  in: Fundamentum, Heft 1/1986, S. 39.

 4. Broadbent, zitiert in: Mauerhofer, E.: Zum 300. Jahrestag der Aufhebung des Ediktes von Nantes: 1685 * 1985  in: Fundamentum, Heft 1/1986, S. 56.

 5. Wesley, John: Das Tagebuch, Frankfurt a. M. (Herold) o. J. S. 91

 6. »You plainly make salvation depend, not on God’s free grace, but on man’s free will.« George Whitefield an John Wesley v. 24. Dezember 1740 abgedruckt in: Gillies, John: Memoirs of Rev. George Whitefield, Middletown (Hunt & Noyes) 1837, Nachdruck: (Reprint Company) 1972, S. 641

 7. Zu Wesleys Perfektionismus siehe Smith, Timothy L.: Whitefield and Wesley on the New Birth, Grand Rapids, Michigan (Zondervan) 1986, S. 16ff und Lindström, Harald: Wesley und die Heiligung (Beiträge zur Geschichte des Methodismus 6), Frankfurt a. M. (Anker-Verlag) 1961, S. 17ff,86

 8. »The work of God is carried on here (and that in a most glorious manner) by doctrines quite opposite to those you hold.« George Whitefield an John Wesley v. 24. Mai 1740 abgedruckt in: Whitefield, George: Letters of George Whitefield, Edinburgh (Banner of Truth) 1976, S. 181f

 9. »Dear sir, for Jesus Christ's sake, consider how you dishonour God by denying election.« George Whitefield an John Wesley v. 24. Dezember 1740 abgedruckt in: Gillies, Whitefield, S. 641.

10. Riecker, Otto: Ruf an alle. George Whitefield, 2. Aufl., Wuppertal (R. Brockhaus) 1984, S. 84

11. »I am sure I love you in the bowels of Jesus Christ, and think I could lay down my life for your sake; but yet, dear sir, I cannot help strenously opposing your errors upon this important subject, because I think you warmly, though not designedly, oppose the truth as it is in Jesus.« George Whitefield an John Wesley v. 24. Dezember 1740 abgedruckt in: Gillies, Whitefield, S. 633.

12. Finney, Charles G.: Finney’s Systematic Theology, hrsg. von J. H. Fair-Child, o. O. 1846, Nachdruck: Minneapolis, Minnesota (Bethany House) 1976, S. 329, s. a. S. 338

13. »The greatest and most abominable and ruinous of falsehoods. It is to mock his intelligence.« Finney, Systematic Theology, S. 226, vgl. S. 236.

14. »We have said that regeneration is synonymous, in the Bible, with a new heart. But sinners are required to make to themselves a new heart, which they could not do, if they were not active in this change.« Finney, Systematic Theology, S. 220.

15. Finney, Systematic Theology, S. 224f.

16. Finney, Systematic Theology, S. 232; 224. Finney schreibt: »That he [d.h. Gott] exerts any other than a moral influence, or the influence of divine teaching and illumi-nation, is sheer assumption.« S. 235.

17. »There is no need to try any measures other than those of divine appointment.« Zitiert in: Ernst, Karsten: Auferstehungsmorgen. Erweckung zwischen Reformation, Reaktion und Revolution, [u.a.] (Brunnen) 1997, S. 58f

18. »The great body of them are a disgrace to religion«. Zitiert in: Warfield, Benjamin B.: The men and the beginnings, in: ders.: Perfectionism, 2. Aufl., Phillipsburg, New Jersey (Presbyterian and Reformed) 1980, S. 23

19. Munro, James: Encouragements from the History of the Church, in: The Revival of Religion. Addresses by Scottish Evangelical Leaders delivered in Glasgow in 1840, Glasgow (William Collins & Co) 1840, Nachdruck: Edinburgh (Banner of Truth), 1984, S. 298

20. Spener, Philipp Jacob: Umkehr in die Zukunft, hrsg. u. bearb. von Erich Beyreuther, 2. bearb. Aufl., Giessen [u. a.]1975, S.21

21. Spener, Pia Desideria, S. 55.

22. Beyreuther, Erich: August Hermann Francke, 2. Aufl., Marburg 1969, S. 111

23. Beyreuther, Erich: Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, S. 80

24. Beyreuther, Pietismus, S. 81

25. Hybels, Bill: Bekehre nicht – lebe! So wird Ihr Christsein ansteckend (Willow Creek Edition Kirche für Distanzierte), 1. Aufl., Wiesbaden (Projektion J) 1995, S. 41