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Betrachtungen über das Wort Gottes

J.N.D.

 

Das Lied der Lieder

 

Das Lied der Lieder (Hohelied] betrachtet den Juden, oder richtiger den treuen Überrest, von einem ganz ande­ren Gesichtspunkt aus, als die beiden vorhergehenden Bücher es tun. Es redet von den Zuneigungen, die der König in den Herzen der Gläubigen aus Israel am Ende der Tage hervorbringen kann und durch welche Er sie zu Sich zieht. So stark diese Zuneigungen sein mögen, werden sie doch nicht der Stellung entsprechend dar­gestellt, in welcher sich die eigentlich christlichen Zuneigungen bilden. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht wesentlich von den letzteren. Sie besitzen nicht die tiefe Ruhe und Süßigkeit einer Liebe, die aus einem bestehenden, gekannten und völlig geschätzten Ver­hältnis hervorgehen, dessen Bande gebildet sind und gekannt werden, einer Liebe, die auf die völlige und beständige Anerkennung dieses Verhältnisses rechnet und die ein jeder der beiden Teile genießt als etwas Sicheres im Herzen des anderen. Das Verlangen einer Liebenden, welche die Zuneigung der geliebten Person zu erlangen sucht, ist nicht die süße, völlige und ge­gründete Liebe einer Frau, die durch die Ehe in eine unauflösliche Vereinigung eingeführt ist. Im ersten Falle besteht die Beziehung nur in dem Verlangen als Folge des Herzenszustandes; im zweiten ist der Herzenszu­stand die Folge der Beziehung. Obwohl nun die Hoch­zeit des Lammes noch nicht gekommen ist, kennzeichnet nichtsdestoweniger dieser letzte Charakter der Zunei­gung die Versammlung oder Gemeinde, und zwar auf­grund der uns gemachten Offenbarungen und der Voll­endung des Erlösungswerkes. Wir sind errettet; Preis und Ehre sei Gott dafür! Wir wissen, wem wir geglaubt haben. Die Stärke und Kraft des V e r l a n g e n s bleibt jedoch noch bestehen, weil die Herrlich­keit und die Hochzeit des Lammes noch zukünftig sind. Welch eine Stellung hat doch die Versammlung! Das völlige Vertrauen der Beziehung auf der einen Seite, die sehnlichste Erwartung des Herrn seitens der Braut auf der anderen, und zwar eines Herrn, dessen Liebe gut gekannt ist. Zudem steht diese Erwartung in Verbin­dung mit der Herrlichkeit, in welcher Er kommen wird. um die Braut zu Sich zu holen, damit sie für immer bei Ihm sei.

 

Das ist nicht die Stellung des gläubigen Juden. Der Punkt, um den es sich bei ihm handelt, ist zu wissen, daß sein Geliebter sein ist. Das ist für ihn die wichtige Frage. Daß dabei ein bei beiden (Juden und Christen) ge­meinsamer Grundsatz in Frage kommt, ist wahr. Chri­stus liebt Seine Versammlung, und Er liebt Sein irdisches Volk; Er liebt die Seele, die Er zu Sich zieht. Wir können daher im Hohenliede Anwendungen auf uns selbst machen, die sehr kostbar sind. Dennoch ist es wichtig, klar zu unterscheiden und nicht etwas auf die Versammlung anzuwenden, was sich auf Israel bezieht. Anders wird unsere Liebe nicht den rechten Charakter haben, und wir werden hinter dem, was Christo zu­kommt, zurückbleiben.

 

Das Hohelied zeigt uns also die Wiederanknüpfung der Beziehungen zwischen Christo und dem Überrest, damit dieser durch Herzensübungen - die seiner Stellung wegen notwendig sind - bestärkt werde in der Gewiß­heit der Liebe Christi, sowie in der Erkenntnis, daß alles aus Gnade ist, und zwar aus einer Gnade, die nie fehlen kann. In jener Zeit wird der Herr völlig von dem Überrest in Seinem salomonischen Charakter ge­kannt werden. Sein Herz wird gleichsam der Pracht­wagen Seines willigen Volkes (Kap. 6, 12) sein, der Ihn hinwegführt.

 

Der erste Vers des achten Kapitels kann uns wohl in besonderer Weise helfen, die Eigenart des in diesem Buche behandelten Herzenszustandes zu erkennen. Wir lesen dort: „O wärest du mir gleich einem Bruder! Fände ich dich draußen, ich wollte dich küssen!" Nichtsdestoweniger sehen wir, da der Geist Gottes das Herz des Überrestes von des Heilands Liebe zu überzeugen wünscht, daß das Verlangen des Herzens, seinen Ge­liebten zu besitzen, nicht aufhört, bis es den Gegenstand seiner Liebe erreicht hat. Das Herz gibt sich selbst die Versicherung aufgrund der Wirksamkeit des Geistes der Prophezeiung; denn tatsächlich ist Christus für den Überrest da, und der Überrest für Ihn. Hierauf ist das Ganze gegründet. Indes bedarf das Herz immer wieder der Beruhigung und Versicherung, wie wir dies auch in ähnlichem Falle an anderen Stellen wahrnehmen.

 

Soweit der allgemeine Inhalt des Buches. Wir wollen jetzt einige einzelne Züge hervorheben, die im Verlauf desselben zur Entfaltung kommen und eine innere, sitt­liche Bedeutung von großem Interesse für uns selbst besitzen.

 

Kapitel 1

Kapitel l gibt uns in der klarsten und einfachsten Weise die Zusicherung des völligen Genusses der Seg­nung; aber obwohl Liebe vorhanden ist, wird doch alles mehr durch Verlangen als durch Frieden gekennzeichnet. Nachher finden wir Herzensübungen, die zu einem vollen Verständnis der Liebe des Geliebten führen. In diesem Verständnis gibt es ein Fortschreiten, und zwar trotz der Fehler und der Herzensträgheit, welche der Liebe, die in Tätigkeit ist, einen neuen Wert verleihen. Die­selbe Art der Unterweisung finden wir in den Psalmen, wo die ersten Verse häufig die Lehre und das Ergebnis angeben, zu denen man durch die nachher geschilderten einzelnen Umstände gelangt ist. Neben dem Friedevollen, welches die auf einem gekannten Verhältnis beruhende Liebe kennzeichnet, kommt ein anderes Zeichen der Liebe in Übung, solange jenes Verhältnis noch nicht förmlich besteht. Das Herz beschäftigt sich mit den Eigenschaften, mit den Charakterzügen des Geliebten. Ist man einmal in den Besitz des geliebten Gegenstandes gekommen, so ist man mehr mit dem Gegenstand selbst beschäftigt. Ohne Zweifel bilden die Eigenschaften eine Quelle des Glückes; doch wenn auch die Stellung den Genuß dieser Eigenschaften vermittelt, denkt man doch mehr an die Person, die sie offenbart, als an die Eigenschaften. Gnade, Güte und ähnliche kostbare Dinge mögen das Herz an­ziehen und beschäftigen, wenn aber die Beziehung ein­mal besteht, so ist es die Person, an die wir den­ken. Die Eigenschaften gehören uns dann sozusagen von selbst.

 

Die Geliebte spricht im Hohenliede viel von den Eigen­schaften ihres Geliebten; sie redet gern davon für sich und zu anderen. Man könnte einwenden, daß der Geliebte das noch mehr tue als sie, obwohl Er doch das Verhältnis, in dem Er zu ihr steht, genau kennt. Es ist so; aber warum? Gerade weil sie noch nicht in jenem Verhältnis steht, ist es Seine Freude, ihr immer aufs neue zu versichern, welchen Wert sie in Seinen Augen hat. Überdies entspricht das der Stellung von Mann und Weib, und das um so mehr, weil es sich hier tatsächlich um Christum Selbst handelt. In einem gewissen Sinne genügt Christus Sich Selbst. Er braucht nicht zu gehen und zu anderen von dem zu reden, was in Seinem Her­zen ist. Seine Liebe ist eine Liebe, die ihre Quelle in der Gnade hat. Aber es ist unendlich kostbar für uns - wenn wir im Blick auf unsere völlige Unwürdigkeit an der Mög­lichkeit Seiner Liebe zweifeln möchten, gerade weil sie so unschätzbar tief und reich ist - ja, es ist ebenso er­greifend wie kostbar zu sehen, wie Er immer wieder Seiner Kenntnis und Schätzung des Wertes der Braut Ausdruck gibt: ihre Schönheit ist vollkommen in Seinen Augen, Er kennt ihre Gestalt und beachtet alle Einzel­heiten derselben; ein Blick von ihr hat Ihm das Herz geraubt; Seine Taube, Seine Vollkommene ist die Eine, kein Makel ist an ihr (Kap. 4, 7; 6, 9). In diesen immer wiederkehrenden Versicherungen erblicken wir auf seiten des Bräutigams vollkommene Gnade. Sie bilden den Hauptinhalt Seiner Unterredungen mit ihr, es ist das. was ihr Herz bedarf.

 

Ihre Herzensübungen sind viel mannigfaltiger; da gibt es sogar Verfehlungen und Kümmernisse, die aus ihren Mängeln und Fehlern entspringen. Andererseits zeigt sich ein augenscheinlicher Fortschritt in ihrer Ge­wißheit. Das Lied beginnt mit der Erklärung der Braut, daß ihr Herz dieses Zeugnisses bedürfe. Sie erkennt an, daß sie schwarz ist infolge der sengenden Sonnenstrahlen der Trübsal. Sie sucht Schutz in der Gegenwart ihres Ge­liebten, der Seine Herde am Mittag lagern läßt. Sie möchte Ihm allein gehören. Sie fürchtet sich jetzt, unter den Hirten Israels umherzugehen. Doch wenn der Geist des Herrn sie an die früheren Zeugnisse des Gesetzes und der Propheten erinnert, so bleibt ihr Herz nicht stumm, und das Herz des Geliebten fließt über in der Be­zeugung des Wertes, den sie in Seinen Augen hat. Wie genau dies alles auf den Überrest in den letzten Tagen paßt, liegt auf der Hand. Der Schluß des Kapitels ent­hält Liebesbezeugungen, die den Gedanken darstellen, der die Lehre dieses Buches bildet.

 

Kapitel 2

In Kapitel 2 scheinen mir die ersten sechs Verse (mit Ausnahme des zweiten) nur Worte der Braut zu sein. Man hat sie auch anders aufgefaßt, aber wohl mit Un­recht. Man beachte hier, daß Christus der Apfelbaum ist; das wird uns weiterhin behilflich sein. Überdies redet die Braut von sich selbst. Ihrem Verständnis nach hat sie die Beziehung, in welcher sie steht, erfaßt und redet hauptsächlich von sich; aber es ist auch wahre Zuneigung bei ihr vorhanden. Der Bräutigam will nicht erlauben, daß sie gestört werde, wenn sie mit völligem Vertrauen in Seiner Liebe ruht (V. 7). Seine eigene Stimme, die einzige, auf die sie nun horcht, wird sie aufwecken. Er Selbst ruft ihr zu, daß sie sich aufmachen solle, daß der Winter vorbei sei: die Zeit des Trauerns und des Kum­mers. Er begehrt auch ihre Stimme zu hören. So wird ihr Herz beruhigt und gewiß, und sie sagt: „Mein Geliebter ist mein." Wie getreu stellt uns das alles das Erwachen göttlicher Zuneigungen und die Rückkehr des Vertrauens in dem Überrest dar, der so lange erfahren hat, was es ist, wenn Jehova Sein Angesicht vor ihm verbirgt; und wie zeigt es uns andererseits, in welcher Fülle die un­auslöschliche Liebe Dessen, der einst über Jerusalem weinte, in gesegnetster Weise in Tätigkeit tritt, um dieses Vertrauen wachzurufen und das Herz des betrübten Vol­kes zu beruhigen! Die Stelle ist von außergewöhnlicher Schönheit; sie enthält nicht Unterweisungen bezüglich der Umstände, steht auch nicht in Verbindung mit Verantwortlichkeit, sondern es ist ausschließlich Gnade: die Verbindung Christi (Jehovas) Selbst mit Israel.

 

Kapitel 3

In Kapitel 3 sehen wir die Braut in einer anderen Stel­lung, in einem anderen Herzenszustand. Sie ist allein, und um sie her ist es finster. Sie sucht ihren Geliebten, findet Ihn aber nicht. Liebe ist vorhanden, aber keine Freude. Sie fragt die Wächter in Jerusalem, die in der Stadt umhergehen. Sobald sie an ihnen vorüber ist, fin­det sie Ihn. Wiederum wünscht Er, daß sie in Seiner Liebe ruhe. Doch dies alles ist nur prophetisch und soll als Zeugnis dienen, zum Trost für solche, die Ihn noch nicht gefunden haben, indem ihnen gezeigt wird, was Er für sie ist. Der Geist der Prophezeiung stellt dann den Bräutigam dar, wie Er mit Seiner Braut aus der Wüste kommt, wo Er (wie Mose) im Geiste mit ihr ge­wesen ist. Das Kapitel bestätigt die Richtigkeit der An­wendung auf Israel. In ihrem Zustand der Vereinsamung sucht die Braut den Messias, und nachdem sie die Wächter befragt hat, findet sie bald Den, den ihre Seele liebt, und bringt Ihn auf den Platz Israels; denn der Sohn wurde aus Israel geboren *, obschon in einer neuen Be­ziehung. Dort tritt Er wieder für ihre Ruhe ein, und dann kommt, als Kehrseite des Bildes, der wahre Salomo von der Wüste herauf, jetzt am Tage Seiner Vermählung und am Tage der Freude Seines Herzens gekrönt durch dasselbe Israel, das Ihn einst verworfen hat.

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* Vgl. Noomi (Ruth 4, 17) und Offenbarung 12.

 

Kapitel 4

Darauf, in Kapitel 4, zählt Er alles auf, was Er an ihr sieht, obwohl sie in der Höhle des Löwen gewesen ist. Von dort beruft Er sie, die in Seinen Augen ganz Schöne und Makellose, indem Sein Herz Seiner Wonne an ihr Ausdruck gibt. Es liegt meines Erachtens eine schöne Vollkommenheit des Denkens und Fühlens darin, daß die Braut niemals von den vollkommenen Eigenschaften des Bräutigams zu Ihm Selbst spricht, als ob sie Ihm ihre Anerkennung kundtun müsse; sie redet viel von Ihm, um ihren eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben, und sie tut dies anderen, nicht Ihm gegenüber. Er Seinerseits spricht frei und eingehend über sie zu ihr selbst, indem Er sie Seiner Wonne an ihr versichert. Dies ist in lieb­licher Weise anwendbar, wenn wir an Christum und un­sere Beziehung zu Ihm denken.

 

Kapitel 5

Kapitel 5 zeigt uns eine andere Erfahrung. Durch die Bezeugung der Liebe des Bräutigams ist Vertraulichkeit entstanden, und das beruhigte Herz, Seiner Liebe gewiß, redet von seiner Trägheit. Ach was für ein Herz haben wir! Kaum sind wir durch das Zeugnis der Liebe des Herrn getröstet, so wenden wir uns wieder uns selbst zu! Das zartfühlende und aufrichtige Herz des Bräuti­gams tut nach ihrem Wort: Er entzieht sich einer Seele, die nicht auf Seine Stimme lauscht. Sie steht dann auf, um zu erkennen, wie töricht sie gewesen ist, und wie ge­nau es Ihm, den sie vernachlässigt hat, gerechterweise mit Seinen Wegen ihr gegenüber hält.

 

Wie oft handeln auch wir leider in ähnlicher Weise, wenn es sich um die Stimme des Geistes und Kundge­bungen der Liebe des Herrn handelt! Überaus ernst sind die Verluste, die wir dadurch erleiden, aber wie wert­voll auch die Unterweisungen, die wir durch die Gnade empfangen! Die Geliebte wird von denen geschlagen, die über den Frieden Jerusalems wachen. Was hatte sie nachts in den Straßen zu tun, sie, die der Bräutigam zu Hause gesucht hatte? Und nun setzt gerade ihre Liebe sie dem Tadel aus, indem die Kraft derselben sie in eine Lage gebracht hat, welche ihre Vernachlässigung des Ge­liebten beweist. Ähnlich ist es mit uns. Wenn wir nicht in dem friedlichen Genuß der Liebe Christi stehen, da wo Er uns in Gnade entgegenkommt, so führt uns gerade die Kraft unserer Liebe und unsere Selbstverurteilung dahin, diese Liebe in gewissem Sinn in verkehrter Weise zu offenbaren und bringt uns in Verbindung mit solchen, die unsere Stellung verurteilen. Es war recht für einen Wächter, ein Weib zu strafen, das draußen umherlief, was auch die Veranlassung dazu sein mochte. Bezeugun­gen der Liebe zu ihrem Geliebten daheim sowie die Liebe in ihrem Herzen sind nicht Sache des Wächters. Es mag wahre Liebe vorhanden sein, aber der Wächter hat für Ordnung und einen geziemenden Wandel zu sorgen. Den­noch war ihre Liebe echt und führte zu einer glühenden Beschreibung alles dessen, was ihr Geliebter ihr war; aber auch hier sind ihre Worte an andere gerichtet, die sie hätten verstehen sollen, an ihre Gefährtinnen, nicht an den Wächter. Doch wenn Trägheit sie verhindert hatte, Ihn bei Seinen liebenden Besuchen zu empfangen, so weiß ihr Herz jetzt, wo Er zu finden ist, nachdem es durch den Wächter gestraft und ihrem Geliebten wieder zugewandt ist, und nun, von Gott belehrt, von Seinem Lobe überfließt.

 

Kapitel 6

Kapitel 6. Diese Erfahrung läßt sie durch die Gnade eine andere Seite ihrer Beziehung zu Ihm verstehen, sie legt dabei einen wirklichen Fortschritt sowohl in dem Verständnis der Gabe als auch in ihrem eigenen Herzens­zustand an den Tag. An die Stelle des Verlangens, den Geliebten für sich selbst zu besitzen, ist das Bewußtsein getreten, daß sie Ihm gehört: „Ich bin meines Geliebten." Das ist ein sehr wichtiger Fortschritt. Eine Seele, die Er­rettung und Befriedigung für die neu erwachten Zunei­gungen sucht, ruft, sobald sie Gewißheit darüber erlangt hat, aus: „Mein Geliebter ist mein." Macht sie dann tie­fere Erfahrungen von sich selbst, so kommt sie zu der Er­kenntnis, daß sie Sein Eigentum ist. Es heißt deshalb mit Bezug auf uns nicht: „Wir haben Den gefunden, von welchem die Propheten geschrieben haben", sondern:

„Wir sind nicht unser selbst, denn wir sind um einen Preis erkauft." So Christo anzugehören, indem man nicht mehr an sich selbst denkt, das ist Glückseligkeit für die Seele. Nicht daß wir das Bewußtsein verlören oder ver­lieren sollten, wie kostbar es ist, den Heiland zu besitzen, aber der andere Gedanke, der Gedanke, Sein zu sein, nimmt den ersten Platz ein.

 

Aufs neue bezeugt der Geliebte, wie kostbar die Braut in Seinen Augen ist. Doch auch hier zeigt sich ein Unter­schied. Wenn Er vorher von ihr sprach, fügte Er der Be­schreibung der Anmut und Schönheit ihrer äußeren Ge­stalt all die Tugenden hinzu, die in ihr sichtbar wurden:

Er redet von dem Honig, der von ihren Lippen floß, von den lieblichen Früchten, die sich in ihr fanden, von den süßen Wohlgerüchen, die er durch den Odem Seines Gei­stes „träufeln" ließ. Von dem allem spricht Er jetzt nicht, sondern nur von dem, was sie für Ihn ist. Nachdem Er ihre persönliche Schönheit beschrieben hat, verweilt Sein Herz bei dem, was sie für Ihn Selbst ist. „Eine ist meine Taube, meine Vollkommene." Seine Liebe kann keine andere sehen; keine kann mit ihr verglichen werden. Es gibt viele andere, aber sie sind nicht die Eine, die Er liebt. Die Person des Herrn erfüllt das Herz, das wieder zu Ihm zurückgebracht ist, und dann bilden der Anblick und die Tugenden der Braut den Gegenstand des Zeug­nisses des Bräutigams. Überdies gibt es für Ihn keine außer ihr, sie ist die einzige ihrer Mutter. So wird es mit dem Überrest Israels in den letzten Tagen sein, im geistlichen Sinne ist es heute so mit uns.

 

In den folgenden Versen wird die Aufnahme Christi und Seine Vereinigung mit dem Überrest zu Jerusalem in sehr eindrucksvoller Weise dargestellt. Wir sehen da nicht mehr den Geliebten, der aus der Wüste herauf­kommt (wo Er Sein Volk mit Sich verbunden hatte) in Herrlichkeit und in Liebe. Jetzt ist es die Braut, die, schön wie der Mond und strahlend von Herrlichkeit, gleich einem Heere mit wehenden Bannern auf dem Schauplatz erscheint. Der Geliebte war hinabgegangen, um die jun­gen Triebe des Tales zu besehen und um zu untersuchen, ob Sein Weinstock ausgeschlagen sei. Ehe Er es Sich be­wußt wird, macht Ihn Seine Liebe gleichsam zu dem Prachtwagen Seines willigen Volkes (vgl. ps. 110, 3]. Er leitet sie in Herrlichkeit und Triumph. Er hatte die Früchte der Gnade unter ihnen gesucht; aber nachdem Er zu diesem Zweck herabgekommen war, erhöht Er sie in Herrlichkeit. Erst dann, wenn Sein Volk völlig in Gnade wiederhergestellt ist, wird alles an ihnen Schön­heit und Vollkommenheit sein, und dann erst werden sie erkennen, daß sie gänzlich Christo angehören und zu­gleich Seine Liebe voll und ganz besitzen.

 

Kapitel 7

Kapitel 7. Dieser letzte Gedanke ist die Ruhe des Herzens der Braut. In der dritten Erfahrungsformel die­ses göttlichen Liedes - wenn ich in so kalter Weise reden darf -, in der die volle Glückseligkeit der Braut zum Aus­druck kommt, wird dies mit den Worten ausgesprochen:

„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist Sein Verlangen." Es ist, mit anderen Worten, das Bewußt­sein, daß man Christo angehört und daß Seine Liebe auf uns ruht - das Bewußtsein, Gegenstände Seiner Zu­neigungen und Seiner Wonne zu sein. Das ist die tiefste, ja, das ist vollkommene Freude!

 

Der Leser wird gut tun, diese angeführten drei Aus­drücke der Herzens-Befriedigung in nähere Erwägung zu ziehen: 1. wir besitzen Christum, 2. wir gehören Ihm an und 3. die letztgenannte Tatsache ist verbunden mit dem Bewußtsein, daß Er Seines Herzens Wonne an uns hat, wie sehr auch alles nur Gnade ist - und daß dies so ist, wird dann sicher ganz besonders gefühlt werden.

Doch (um wieder zu unserem Text zurückzukehren] der gläubige Überrest kann jetzt mit Ihm vorangehen, um alle Segnungen der Erde in der Gewißheit und der Gemeinschaft Seiner Liebe zu genießen. Was für Früchte der Dankbarkeit, was für besondere Gefühle werden es sein, die das Volk Israel für den Herrn allein aufbewahrt haben wird, Gefühle, die sie nie für einen anderen haben könnten, und die schließlich keiner außer ihnen zu dem Herrn, als auf Erden gekommen betrachtet, haben kann!

 

Kapitel 8

Kapitel 8 steht für sich da und scheint mir die Grund­züge des ganzen Buches noch einmal zusammenzufassen. Es geht auf den Grund von dem zurück, was alle diese Seelenübungen hervorgerufen hat. Die völlige Befriedi­gung aller Wünsche des Überrestes wird in prophetischer Weise angekündigt und der Pfad bezeichnet, auf dem seine Zuneigungen sich entwickeln werden. Dieses Bild wird jedoch zur Ermunterung derer entworfen, die sich der Wirklichkeit noch nicht erfreuen, und drückt den Wunsch nach dieser Verwirklichung aus, indem es so dem brennenden Verlangen des Überrestes, Christum zu be­sitzen und volle Freiheit zur Gemeinschaft mit Ihm zu haben, Gottes Zustimmung und Weisung gibt. Die Er­widerung, die darauf erfolgt, lehrt mit besonders kost­barer Deutlichkeit die Art und Weise, in der dies in Er­füllung gehen wird. Die heiße Liebe der Braut wird vor­gestellt, und der Geliebte wünscht, daß sie in Seiner Liebe ruhen und dieselbe ohne Störung genießen möge, solange es ihr gefällt.

 

Später kommt sie, sich auf Ihn lehnend, von der Wüste herauf. Und wo hat der Herr sie aus ihrem Schlaf auf­geweckt? Unter einem Apfelbaum (vgl. Kap. 2, 3). Von Christo allein leitet sie ihr Leben her. Nur so kann Israel diesen lebendigen Überrest hervorbringen, der zu Jerusalem die irdische Braut des großen Königs bilden wird, die da begehrt, wie ein Siegelring an Seinem Herzen zu sein, und die das entsprechend der Kraft einer Liebe sein wird, die stärker ist als der Tod, die nicht schont und nicht nachgibt.

 

In der „kleinen Schwester" möchte ich Ephraim er­kennen, welches nie die Entwicklung gehabt hat, wie sie Juda durch die Offenbarung Christi und durch alles, was nach der Wegführung der zehn Stämme stattfand, zuteil geworden ist. Denn all die inneren Zuneigungen Judas werden sich infolge seiner Beziehung zu Christo ent­wickeln, infolge der Verwerfung des Messias und durch die Gefühle, die diese hervorrufen wird, wenn der Geist ihnen einmal die geziemende Erkenntnis darüber gibt (vgl. Jes. 50-53). Ephraim wird, ohne diese Dinge durchgemacht zu haben, in den Genuß der Ergebnisse dersel­ben gelangen. Juda wird, wenn es dereinst am Ziel an­gelangt ist, die volle Gunst des Messias genießen; bis dahin bilden sich jene Zuneigungen zu Ihm durch all die Herzensübungen, die es in bezug auf Ihn durchlebt.

 

Christus in seinem salomonischen Charakter, als der glorreiche König, der Sohn Davids (nach der Ordnung Melchisedeks), hat als der Herr der Nationen oder der Völker einen Weinberg. Er hat ihn anderen anvertraut, die ihm eine angemessene Vergütung dafür zu geben haben. Der Weinberg der Braut stand ihr selbst zur Ver­fügung, doch sein ganzer Ertrag soll für Schlomo sein und ein Teil davon für die Hüter seiner Frucht - ein rührender Ausdruck ihrer Beziehung zu dem König. Sie will, daß alles Ihm gehöre; aber dann gibt es andere, die auch Nutzen davon haben sollen.

 

Die beiden letzten Verse geben dem Verlangen der Braut Ausdruck, daß der Bräutigam ohne Verzug kom­men möge.

 

Es ist wichtig zu beachten, daß es sich in diesem Buche nicht um die Reinigung des Gewissens handelt; diese Frage wird gar. nicht berührt. Es redet vielmehr von jenen Zuneigungen des Herzens, die nicht zu heiß sein können, wenn der Herr ihr Gegenstand ist. Infolgedessen dienen die Fehler, die ein Vergessen Seiner Person und Seiner Gnade offenbaren, nur dazu, solche Herzensübungen in bezug auf Ihn zu erzeugen, um durch sie all das Anzie­hende Seiner Person und das Bewußtsein, Ihm ganz an­zugehören, wieder hervorzurufen. Denn solche Übungen bewirken in dem Herzen eine weit tiefere Wertschätzung Seiner Person, weil es sich nicht um Verschuldungen vor einem Richter handelt, sondern um einen Mangel an Herz einem Freunde gegenüber. Und da dieser Mangel einer Liebe begegnet, die zu stark ist, um je von ihrem Gegen­stand abgelenkt werden zu können, so vertieft er nur die Zuneigung der Braut zu ihrem Geliebten und läßt in ihren Augen Seine Liebe unendlich höher erscheinen:

ihr Herz wird durch innere Übung zubereitet. Seine Liebe mehr zu schätzen, und fähig gemacht, alles, was Er ist, zu lieben und hoch zu achten. Es ist von der größten Wichtigkeit, daß unser Herz in diesem Teile der christlichen Liebe gebildet werde. Auf diesem Wege wird Chri­stus wirklich erkannt; denn wenn es sich um göttliche Personen handelt, so gilt der Grundsatz: wer nicht liebt, erkennt auch nicht. Unser Herz ist in der Tat unvollkom­men; es kann nicht lieben, wie es sollte, und darum sind alle diese Übungen notwendig. Ich will damit nicht sagen, daß Fehler unausbleiblich sind. Aber, wie bereits be­merkt, es ist Liebe, die den Fehler fühlbar macht, wenn er sich gezeigt hat, und die Stärke der Liebe setzt einen den Schlägen des Wächters aus, dessen Sache es nicht ist, das Maß der Liebe festzustellen, sondern sittliche Ord­nung aufrechtzuhalten. Er beseitigt das Böse auf dem Wege betrübender und schmerzlicher Zucht, welche be­weist, daß, wenn man auch viel liebte, doch nicht Liebe genug da war; oder wenigstens, daß diese Liebe in ein schwaches Gefäß niedergelegt ist, das, wenn man ihm Gehör schenkt, an sich selbst zum Verräter wird.

 

Ich habe bereits gesagt, daß dieses Buch sich in seiner Auslegung nicht auf die Versammlung (Gemeinde) anwenden läßt. Nichtsdestoweniger habe ich von uns und unseren Herzen geredet, und zwar mit Recht. Denn wenn auch in der Auslegung des Buches Israel der unmittelbare Gegenstand ist, kommen doch auch Herz und Gefühl in Frage, so daß es in sittlichem oder geistlichem Sinne auf uns angewandt werden kann. Aber wenn man das tut, muß die oben erwähnte Einschränkung beachtet werden. Wir besitzen die volle Kenntnis einer vollbrachten Er­lösung und wissen, daß wir in Christo in die himmlischen Örter  versetzt sind. Unser Gewissen ist für immer ge­reinigt. Gott will unserer Sünden und unserer Gesetzlo­sigkeit nie mehr gedenken. Aber das Ergebnis dieses Werkes ist, daß wir völlig Sein sind, der Liebe gemäß, die sich in dem Opfer zeigt, das jenes Werk vollbracht hat. Christus ist daher ein und alles für unsere Seelen. Wenn Er uns geliebt hat, wenn Er Sich für uns hingab, als in uns nichts Gutes war, so besitzen wir Leben, Glückseligkeit und die Erkenntnis Gottes offen­bar darin, daß wir mit uns selbst, mit unserem alten Ich, völlig zu Ende gekommen sind. In Christo allein fin­den wir die Quelle, die Kraft und Vollendung dieser Wahrheit. Sie macht bezüglich der Rechtfertigung unsere Stellung vollkommen. In u n s ist nichts Gutes, aber wir sind angenommen in dem Geliebten - völlig angenom­men in Seiner Annehmlichkeit, indem alle unsere Sünden durch Seinen Tod auf ewig hinweggetan sind. Und wenn es sich dann um Leben handelt, so wird Jesus der einzige Gegenstand, das ein und alles für unsere Seelen. In Ihm allein findet das Herz das, was ihm als Gegenstand die­nen kann - in Ihm, der uns so geliebt und Sich Selbst für uns hingegeben hat, in Ihm, der nichts anderes als Vollkommenheit für das Herz ist. Und was schließlich das Gewissen betrifft, so ist die ganze Frage in Frieden durch Sein Blut geordnet: wir sind in Ihm gerecht vor Gott, während wir täglich auf diesem Boden geübt wer­den. Das Herz hat das Bedürfnis, einen solchen Gegen­stand zu liehen, und grundsätzlich will es keinen haben außer Ihm, in welchem alle Gnade, Hingebung für uns und jede, Gottes eigenem Herzen entsprechende Gnade gefunden wird. In diesem Punkt steht der Christ im Ein­klang mit dem Lied der Lieder.

 

Die Versammlung (Gemeinde) - geliebt, erlöst und Christo angehörend - hat durch den Geist Seine Voll­kommenheiten verstanden, hat Ihn erkannt in dem Werke Seiner Liebe, aber sie besitzt Ihn noch nicht so, wie sie Ihn kennt. Sie sehnt sich nach dem Tage, wo sie Ihn sehen wird, wie Er ist. Inzwischen offenbart Er Sich ihr, weckt ihre Zuneigungen auf und trachtet nach dem Be­sitz ihrer Liebe, indem Er ihr Seine ganze Wonne an ihr bezeugt. Sie erfährt auch, was in ihr selbst ist, und lernt jene Herzensträgheit kennen, welche die Gelegenheiten zur Gemeinschaft mit Ihm versäumt. Doch das lehrt sie, alles das in ihr zu verurteilen, was die Wirkung der Voll­kommenheiten ihres Geliebten auf ihr Herz zu schwächen geeignet ist. So wird sie innerlich vorbereitet und befä­higt, volle Gemeinschaft mit Ihm zu genießen: wenn sie Ihn sehen wird, wie Er ist, wird sie Ihm gleich sein. Wir streben nicht danach, Ihn zu erlangen; wir suchen aber das zu ergreifen, wozu wir durch Christum er­griffen worden sind. Wir haben einen Gegenstand, den wir zwar noch nicht völlig besitzen, der aber allein alle unsere Wünsche zu befriedigen vermag - einen Gegenstand, dessen Liebe wir in unseren Herzen verwirklichen müssen. Dieses Ziel sucht Er in Gnaden dadurch zu erreichen, daß Er uns Seine vollkommene Liebe zu uns bezeugt; und dies dient wiederum dazu, unsere Liebe zu Ihm zu pflegen, ja, uns durch das Ge­fühl unserer Schwachheit und die Offenbarung Sei­ner Vollkommenheit zu trösten, indem uns so alles ge­zeigt wird, was in unseren Herzen dem Genuß Seiner Liebe hindernd im Wege steht. Von diesen Hindernissen befreit Er uns in der Weise, daß wir es in der Gegen­wart Seiner Liebe aufdecken.

Ich beabsichtige nicht, hier im einzelnen der Wirkung dieser Zuneigungen in dem Herzen nachzuspüren, weil Auslegung und nicht Ermahnung mein Zweck ist. Doch es war nötig, ein wenig über diesen Gegenstand zu sagen, damit das Buch verstanden werde. Überdies kann man unmöglich die Wichtigkeit der Pflege dieser heiligen Zuneigungen zu stark hervorheben; sie fesseln uns an Christum und bringen uns dahin, Seine Liebe und Ihn Selbst näher kennenzulernen. Denn ich wiederhole, wenn es sich um Gott und um Seine Wege mit uns handelt, so erkennt der nicht, der nicht liebt.

 

Nur beachte man, mit welchem Ernst und zugleich mit welcher Zärtlichkeit der Herr zu Seiner Geliebten über all die Kostbarkeit redet, die sie in Seinen Augen hat, und über die Vollkommenheit, die Er in ihr erblickt. Wenn Jesus in uns Vollkommenheit sieht, so bedürfen wir wahrlich nichts mehr. Indem Er davon zu ihr redet, beruhigt und stillt Er ihr Herz wieder, wenn sie gerechterweise durch die Wächter getadelt und gezüchtigt wor­den ist und sich nun in ihrem Innern gedrungen fühlt, darin Erleichterung zu suchen, daß sie zu ihren Freun­dinnen von dem redet, was Er für sie ist. Er wirft ihr nichts vor, sondern läßt sie fühlen, daß sie in Seinen Augen vollkommen ist.

 

Suchen wir nach einem praktischen Beispiel, so möchte ich sagen: Welch eine Vollkommenheit der Liebe offen­barte sich in jenem Blick, den der Herr auf Petrus rich­tete, als dieser Ihn verleugnet hatte! Welch ein Augen­blick war es ferner, als Er, ohne Petrus zu tadeln (ob­wohl Er ihn unterwies), ihm Sein Vertrauen dadurch be­zeugte, daß Er gerade ihm, der Ihn so schnöde verleug­net hatte, die Seinem Herzen so teuren Schafe und Lämmer anvertraute, für die Er eben erst Sein Leben hinge­geben hatte!

 

Nun, diese Liebe Christi, die über das Böse erhaben ist und gerade dadurch ihre Göttlichkeit beweist, bringt sich selbst als eine neue Schöpfung in dem Herzen eines jeden Menschen wieder hervor, der ihr Zeugnis annimmt, indem sie ihn mit Dem vereinigt, der ihn so unaussprech­lich geliebt hat und liebt.

 

Ist der Herr etwas anderes für uns als das? Nein, meine Brüder, auch wir erfahren Seine Liebe; wir lernen Ihn Selbst in den Herzensübungen kennen, durch, die Er uns führt.