J. G. Bellet: Die Herrlichkeit Jesu Christi
unseres Herrn als Mensch Seite 18 - 20
Doch betrachten wir diese Vollkommenheit des Herrn noch etwas näher. Obwohl Er
Selbst Verweise gibt, so erlaubt Er doch nicht, dass andere dies in
leichtfertiger Weise tun. Ähnliches finden wir auch in früheren Tagen.
Während Gott Selbst Seinen Knecht Mose demütigte, gestattete Er nicht, dass
Mirjam und Aaron ihm Vorwürfe machten (4. Mo 11 und 12). Und während Israel
oftmals in der Wüste durch die Hand Gottes gezüchtigt wurde, trat Gott in
Gegenwart BiIeams und anderer Widersacher stets wie einer auf, der keine
Ungerechtigkeit in Israel sah und nicht erlaubte, dass irgendwelche Zauberei
wider das Volk den Sieg davontrug. Ebenso treffend und schön ist die
Dazwischenkunft Jesu gelegentlich der Unzufriedenheit und des Murrens der zehn
Jünger über ihre zwei Gefährten (Mt 20), sowie Sein Verhalten Johannes dem
Täufer gegenüber; obwohl Er, gleichsam im Verborgenen, ein Wort der Warnung und
Zurechtweisung an diesen richtete (ein Wort, das wohl nur von dem Gewissen des.
Johannes verstanden werden konnte), wandte Er Sich an die Menge ausschließlich
mit Ausdrücken der höchsten Billigung und der Zufriedenheit über Johannes.
Es gibt noch viele andere Beispiele von dieser Gnade, welche Dinge, die
verschieden waren, auch unterschied. Selbst in Seiner Handlungsweise Seinen
Jüngern gegenüber kam ein Augenblick, wo die Treue nicht länger am Platze war,
sondern wo nur die Liebe ausströmen durfte; ich meine die Scheidestunde (Joh
14--16). Da war es zu spät, „fest“ zu sein; der Augenblick erlaubte es nicht. Es
war eine Stunde, auf die das Herz, als ihm allein gehörig, Anspruch machte; die
Erziehung der Seele musste dieses Mal ganz außer acht bleiben. Freilich
offenbart der Herr Seinen Jüngern neue Geheimnisse hinsichtlich der innigsten
und vertrautesten Beziehungen zwischen ihnen und dem Vater; aber in allen Seinen
Worten findet sich nichts, was einem Verweis ähnlich wäre. jetzt sagt Er nicht:
„Kleingläubige“! oder: „Seid ihr noch unverständig“? Das einzige Wort, das
vielleicht wie ein Verweis klingen könnte, dient nur dazu, die jünger eine Wunde
erkennen zu lassen, die Sein Herz erlitten hatte, damit sie so Seine Liebe zu
ihnen völliger verstehen möchten. Das war also in den vollkommenen Gedanken und
Zuneigungen des Herzens Jesu die Heiligkeit des Schmerzes der Scheidestunde; und
auch wir fühlen nach unserem geringen Maß wenigstens so viel davon, dass wir
fähig sind, dessen vollen Ausdruck in Jesu würdigen und bewundern zu können.
"Umarmen hat seine Zeit", sagt der Prediger, „und sich vom Umarmen fernhalten
hat seine Zeit“. Das ist eine Verordnung im Gesetzbuch der Liebe, und Jesus
beobachtete sie.
Jesus läßt Sich niemals zur Milde verleiten, wenn die Gelegenheit Festigkeit
erforderte, obwohl Er an so vielen Umständen vorüberschritt, welche die
menschliche Empfindlichkeit geahndet haben würde, und die nach dem sittlichen
Gefühl des Menschen geahndet zu werden verdienten. Er wollte die Jünger nicht
gewinnen durch das armselige Mittel einer liebenswürdigen Natur. Von den
Feueropfern Jehovas war sowohl „Honig“ als auch "Sauerteig“ ausgeschlossen. Die
Speisopfer durften nichts davon haben (3. Mo 2,11); und so zeigte sich auch in
Jesu, dem wahren Speisopfer, nichts von beidem. Es war nicht eine rein
menschliche, natürliche Liebenswürdigkeit, die den Jüngern in ihrem Lehrer
entgegentrat. Bei Ihm war jene Höflichkeit nicht die stets den Geschmack
anderer zu erraten und zu befriedigen trachtet. Er suchte nicht Sich angenehm zu
machen, und doch zog Er die Herzen in der innigsten Weise an Sich; und das ist
Macht. Es ist immer ein Beweis von sittlicher Kraft, wenn man das Vertrauen
eines anderen erlangt, ohne es zu suchen; denn in diesem Fall hat das
Herz die Wirklichkeit der Liebe erkannt. „Wir alle wissen“, sagt ein anderer
Schreiber, "wahre Zuneigung von bloßer Aufmerksamkeit und Freundlichkeit wohl zu
unterscheiden; das eine kann in großem Maße vorhanden sein, ohne dass sich von
dem anderen auch nur eine Spur vorfindet. Manche mögen meinen, sich durch
Aufmerksamkeiten das Vertrauen anderer erwerben zu können; aber wir wissen nur
zu wohl, dass nichts anderes als Liebe dazu imstande ist“. - Wie wahr ist das!
Eine bloß äußerliche Freundlichkeit ist Honig; und wie viel von diesem
armseligen Material mag sich wohl unter uns finden! Wir streben vielleicht nach
nichts Höherem, als den Sauerteig auszufegen und die Leere mit Honig anzufüllen,
und denken so gern, dass dann alles in Ordnung sei. Wenn wir nur liebenswürdig
sind im Umgang und, indem wir anderen zu gefallen trachten und alles Mögliche
tun, um mit jedem auf gutem Fuß zu leben, unseren Platz auf dem wohlgeordneten
und glatten Boden der menschlichen Gesellschaft geziemend ausfallen, so sind wir
mit uns selbst zufrieden, und andere haben auch nichts an uns auszusetzen. Aber
heißt das Gott dienen? Ist das ein Speisopfer? Glauben wir wirklich, dass das
einen Teil der moralischen Herrlichkeit des vollkommenen Menschen ausmache?
Wahrlidi nicht! Wir mögen vielleicht meinen, dass nichts besser und kräftiger zu
wirken vermöge, um jenes hohe Ziel zu erreichen; aber dennoch bleibt es eins der
Geheimnisse des Heiligtums, dass kein Honig angewendet werden durfte, um
dem Opfer einen lieblichen Geruch zu verleihen.